Ein Gespräch mit Ministerpräsident a.D. Bernhard Vogel„Grund zu wechselseitiger Dankbarkeit“

Nach fast zwölf Jahren hat Bernhard Vogel im Juni das Amt des Ministerpräsidenten in Thüringen an seinen Nachfolger übergeben. Wir sprachen mit ihm über den Stand der inneren Einheit Deutschlands sowie über die Rolle der Kirchen in den neuen Ländern. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Herr Dr. Vogel, anlässlich des 50. Jahrestags des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 wurde wieder einmal intensiv über die Belastung getrennter Vergangenheit debattiert. Welche Bedeutung hat getrenntes oder gemeinsames Erinnern für den Prozess der inneren Einigung Deutschlands, der noch nicht abgeschlossen ist?

Vogel: Weil Geschichte die Voraussetzung zum Verständnis der Zukunft ist, kommt der Kenntnis der jüngeren Vergangenheit für uns Deutsche eine sehr hohe Bedeutung zu. Da aber die Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter sehr unterschiedlichen Bedingungen erlebt worden ist, ist es gerade jetzt notwendig, sich Erfahrungen zu erzählen und an diesen Erfahrungen gegenseitig zu partizipieren.

HK: In Ost und West spielte der 17. Juni, freilich aus sehr unterschiedlichen Gründen, kaum noch eine Rolle...

Vogel: Ich war überrascht und erfreut, auf welches Echo dieser 50. Jahrestag gestoßen ist. Ich hatte damit nicht gerechnet, besonders nicht in den jungen Ländern. Viel stärker als dies in den Jahren vor der Wiedervereinigung im Westen der Fall gewesen ist, hat man sich im Osten jetzt dieses Tages erinnert. Vor allem war dieser Rückblick eben nicht auf das Geschehen in Berlin konzentriert und auch nicht auf den Kampf gegen die erhöhten Arbeitsnormen, sondern auf die schon 1953 von vielen erhobene Forderung nach freien Wahlen und nach einer anderen Regierung. Im Gegensatz zu der gelegentlich zu beobachtenden Nostalgie in den jungen Ländern stellt die herangewachsene Nachwende-Generation jetzt kritischere Fragen: Wie war das seinerzeit, und warum ist es eigentlich erst 1989 zum Fall der Mauer gekommen? Im Westen ist der Kreis derer, die sich mit dem 17. Juni auseinander setzten, immer kleiner geworden, der freie Tag stand im Vordergrund. Man hat vor allem die Breite des Geschehens, das sich nicht nur auf Berlin beschränkte, sondern beispielsweise auch Jena und Erfurt, Magdeburg und Dresden erfasste, viel zu wenig im Blick gehabt.

„Es steht außer Frage, die Wiedervereinigung Deutschlands ist gelungen“

HK: Erfolgt im vierzehnten Jahr der Wiedervereinigung dieser Perspektivenwechsel nicht reichlich spät?

Vogel: Nein, unter zugegeben ganz anderen Umständen sind auch in Westdeutschland die nachdrücklicheren und eindringlichen Fragen nach der Nazi-Diktatur erst mit deutlichem zeitlichem Verzug gestellt worden. Dasselbe beobachten wir jetzt auch in den jungen Ländern. Ich hoffe, dass der 17. Juni 2003 den Beginn einer stärkeren Reflexion der Geschichte der DDR markiert, zum Auftakt einer kritischeren Auseinandersetzung mit den letzten 50 Jahren wird.

HK: Hätte man demnach den 17. Juni nach der Wiedervereinigung als nationalen Feiertag erhalten sollen? Soll er es wieder werden?

Vogel: Ich wünsche mir, dass er seinen Charakter als ein für die deutsche Geschichte wichtiger Gedenktag erhält. Denn ohne Frage dürfen wir Deutsche in West und Ost stolz sein darauf, dass eine der ersten Erhebungen gegen die kommunistische Diktatur im Ostblock überhaupt im Osten Deutschlands erfolgte. Aber ich bin ausdrücklich dagegen, ihn etwa mit dem 3. Oktober zu tauschen. Kein anderes Volk auf der Welt würde zu seinem Nationalfeiertag ein Datum wählen, das zwar wichtig war, aber zunächst erfolglos geblieben ist. Ich habe immer nachdrücklich dafür plädiert, die Wiedervereinigung, das schlechthin erfreulichste Ereignis der deutschen Geschichte in den letzten Jahrhunderten, als nationalen Feiertag zu begehen.

HK: In jedem Fall gab dieser 50. Jahrestag des 17. Juni vielen Anlass, einmal mehr den Prozess der Wiedervereinigung zu vermessen. Nach wie vor gerät diese Lagebeschreibung, nicht nur zwischen Ost und West, sehr unterschiedlich. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Vogel: Ausgesprochen positiv! Es steht außer Frage, die Wiedervereinigung Deutschlands ist gelungen. Auch, wenn nicht alle Aufgaben gelöst, viele Ziele noch nicht erreicht sind. Es bleibt bei unterschiedlich erlebten und durchlebten Jahrzehnten. So wird sich noch auf lange Zeit hin auswirken, dass der Geschichtsunterricht in den Schulen Westdeutschlands und der DDR fundamental unterschiedlich war. Zwar hatte man im Osten über die Nachrichten von „heute“ und „Tagesschau“ eine gewisse Kenntnis des Westens. Aber kein Mensch hat im Westen die Nachrichtensendung der DDR, die „Aktuelle Kamera“ gesehen. Übrigens weiß man bis heute im Osten vom Westen mehr als im Westen vom Osten.

HK: Wie äußert sich diese getrennt erlebte Vergangenheit, ihre so verschiedene Interpretation konkret, wann wird sie nicht mehr trennend wirken?

Vogel: Zum Beispiel wird die Rolle der Vereinigten Staaten für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg anders gesehen. Das Bild Konrad Adenauers in den neuen Ländern ist ein anderes als in der alten Bundesrepublik. Ereignisse wie der Hitler-Stalin-Pakt sind in den Schulen der DDR nie vermittelt worden. Auch deswegen werden wir an den Folgen der deutschen Teilung und der zweiten Diktatur auf deutschem Boden noch lange zu tragen haben. Aber dass die Wiedervereinigung gelingt, ist dadurch nicht in Frage gestellt. Auch weil sich inzwischen aus einem abstrakten „Ostdeutschland“ die Profile der wiederentstandenen Länder herausentwickeln. Die Menschen in Thüringen wollen, wie jüngere Umfragen durchgängig belegen, in erster Linie Thüringer sein, nicht mehr Ostdeutsche.

HK: Im stetigen Vermessen, in der Enttäuschung über die vielen noch ungelösten Probleme scheint das Ziel des Einigungsprozesses immer unklarer. Lässt sich ein solches Ziel überhaupt sinnvoll definieren?

Vogel: Sicherlich. Das Ziel ist erreicht, wenn die wiedererstandenen Länder den Platz unter den deutschen Ländern errungen haben werden, den sie ohne Teilung und ohne Sozialismus von Anfang an eingenommen hätten. Dies ist beispielsweise für Thüringen nicht der in vielerlei Hinsicht erste Platz unter den neuen, sondern Platz fünf oder sechs unter allen deutschen Ländern. Insofern ist das Ziel noch nicht erreicht, und es zu erreichen wird noch Jahre dauern. Aber es ist ungewöhnlich viel geschehen. Wenn wir Deutschen nicht so ungeduldig und gleichzeitig so gerne schlecht gelaunt wären, dann würden wir akzeptieren, dass wohl noch nie in der Welt in einer so kurzen Zeit so viel Schutt beiseite geräumt und so viel Aufbauarbeit geleistet worden ist. Im Übrigen ist auch noch nie so viele Hilfe aus einem Teil eines Landes in den anderen gegeben worden. Wir haben allen Grund zu wechselseitiger Dankbarkeit. In Ostdeutschland hat man Anlass, dankbar zu sein für die personelle und finanzielle Hilfe, die in großem Ausmaß geleistet worden ist. Der Westen sollte dankbar sein, dass die Ostdeutschen etwas vollbracht haben, was man den Deutschen nie zugetraut hat: in einer friedlichen Revolution mit Kerzen und Gebeten eine Diktatur zum Einsturz zu bringen, ohne dass ein einziger Tropfen Blut fließt.

„Ich wusste, wie Regieren geht“

HK: An der chronisch schlechten Laune der Deutschen kann es doch aber nicht allein liegen. Warum wird eher das Negative und nicht das schon Erreichte gesehen? Wann wird sich das ändern?

Vogel: Wenn wir in dem Bereich besser voran kommen, in dem bisher am wenigsten eine Angleichung der Lebensverhältnisse gelungen ist, in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. In den allermeisten Lebensbereichen ist volle Vergleichbarkeit geschaffen worden: in den Schulen, im Gesundheitswesen, in der Verwaltung, in der Bundeswehr – nur nicht beim Umbau der zentralen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft und bei der Arbeitslosenzahl.

HK: In Ihrer Abschiedsregierungserklärung Anfang Juni haben Sie an Ihren Amtsantritt im Februar 1992 mit dem Satz erinnert: „Ich bin gekommen, weil ich gerufen wurde, ich wollte helfen.“ Wo konnten Sie helfen, wo nicht?

Vogel: Die Hilfe bestand wesentlich darin, eine Aufgabe zu übernehmen, die ich über viele Jahre eingeübt hatte, zehn Jahre als Kultusminister und zwölf Jahre als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz. Sehr vereinfacht gesagt, ich wusste, wie Regieren geht. Ich habe aber nie den Eindruck vermitteln wollen, ich wüsste etwas besser als die Thüringer selbst. Ich war geübter und konnte denen helfen, die auf die Übernahme von Regierungsverantwortung nicht vorbereitet waren. Als die Bundesrepublik gegründet wurde, gab es in allen Landtagen und im Bundestag viele, die in der Weimarer Zeit dem Reichstag oder den Landtagen angehört hatten. Im Osten gab es ähnliche Erfahrungen nach über 55 Jahren nicht. Man musste von heute auf morgen neu anfangen. Mit meinem Kommen wollte ich aber auch ausgleichen, dass ich unverdienterweise fast 60 Jahre auf der Sonnenseite gelebt hatte und nicht unter den Bedingungen der DDR.

HK: Sie haben nun, wie Sie es selbst formuliert haben, Ihr Amt in die Hände des Landtags zurückgegeben. Dabei hätten Sie, da bestand nahezu bei allen politischen Kommentatoren Einigkeit, im nächsten Jahr noch einmal einen Wahlsieg erringen können. Ist Ihre Hilfe nicht mehr gefragt?

Vogel: Ich hätte mir durchaus zugetraut, noch einmal einen Wahlkampf zu bestehen. Dass ich aufgehört habe, liegt einzig daran, dass jetzt eine Mannschaft von Thüringerinnen und Thüringern herangewachsen ist, die regieren kann. Ich habe die Verantwortung in die Hände von Leuten gelegt, von denen ich überzeugt bin, dass sie diese wahrnehmen können. Es ist an der Zeit gewesen, dass das Ministerpräsidentenamt nun von einem Thüringer wahrgenommen wird, der 25 Jahre jünger ist als ich.

HK: Als eines der Haupthindernisse, die der inneren Einheit Deutschlands nach wie vor im Wege stehen, gilt die hartnäckige Behauptung, der Westen habe den Osten „kolonialisiert“. Welchen Antipathien ist der Westimport Vogel seinerzeit begegnet?

Vogel: Natürlich kamen nach 1989 auch in der Politik solche und solche. Die meisten kamen aus Patriotismus, sie wollten helfen. Es gab aber auch den ein oder anderen Glücksritter, der hoffte, im Osten schnell das werden zu können, was er im Westen nie geworden wäre. Es kamen viele, die sich mit Haut und Haaren auf die Situation der jungen Länder eingelassen haben und inzwischen Pfalz und von 1992 bis längst beispielsweise zu Thüringern geworden sind. Und es kamen vereinzelt solche, die montags anreisten und freitags schnell wieder zurück in den Westen fuhren und hier nie heimisch geworden sind. Letztere waren zwar eine kleine Minderheit, aber es gab sie. Ich selbst habe nie erfahren, dass man mich als Wessi bezeichnet hat.

HK: In der politischen Landschaft Deutschlands stehen Sie für einen Superlativ, insofern Sie Ministerpräsident in zwei deutschen Ländern waren. Lassen sich die Erfahrungen in den beiden Ämtern vergleichen? Worin bestand der Hauptunterschied zwischen der Ministerpräsidentschaft Ost und West?

Vogel: Von der eigentlichen Regierungstechnik her hat es natürlich viel Vergleichbares gegeben. Nur wurde ich in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident, als dieses nach dem Krieg aus der Retorte entstandene Land bereits „gesettled“ war. Es galt, ein Land weiterzuführen, das seinen Platz in der Bundesrepublik bereits gefunden hatte. Thüringen dagegen stand ganz am Anfang, die eigentliche Aufbauarbeit begann erst. Insofern gab es sehr große Unterschiede, beispielsweise auch was die vorherrschenden Themen angeht: Im rheinland-pfälzischen Landtag beherrschten die Bildungs-, Hochschul- und Kulturpolitik die Debatten. In Thüringen war ich von Anfang an zu mehr als 80 Prozent mit der Wirtschaftspolitik beschäftigt. Zudem gab es keine traditionelle Parteienstruktur, und ich musste mich erst daran gewöhnen, mit einem möglichen künftigen Minister nicht nur über die Themen seines Ressorts zu reden, sondern ihn auch zu fragen, was er in seiner DDR-Zeit gemacht hat.

HK: Wie belastend war diese Vergangenheitsbewältigung für die konkrete politische Aufbauarbeit?

Vogel: Obwohl infolge der erfreulicherweise friedlichen Revolution die alten Systemsympathisanten alle noch da waren, ist es doch sehr rasch gelungen, Parteien und Regierungen aufzubauen mit Menschen, die dem System feindlich oder zumindest distanziert gegenüber gestanden haben. Was im Übrigen zu einer völlig anderen soziologischen Struktur innerhalb der Politik geführt hat. Der Thüringer Landtag setzt sich bis heute aus Physikern, Chemikern, Mathematikern und Programmierern zusammen, gelegentlich ist auch ein Tierarzt oder ein evangelischer Theologe darunter. Es fehlen die Juristen und Beamten.

HK: Im Westen wird es zunehmend als Manko empfunden, dass sich unsere Berufspolitiker fast ausschließlich aus diesen beiden Berufsgruppen rekrutieren. Ein Standortvorteil der neuen Länder?

Vogel: Gelegentlich hätte ich mir ein oder zwei Juristen mehr in der Landtagsfraktion gewünscht. Aber grundsätzlich hoffe ich sehr, dass sich auch hier etwas aus den Erfahrungen in den jungen Ländern in die alten überträgt und nicht umgekehrt.

HK: Welche Hilfen brauchen die jungen Länder jetzt am dringendsten, nachdem die Unterstützung beim Aufbau einer politischen Elite nicht mehr nötig ist?

Vogel: Es steht außer Frage, dass weiterhin auch materielle Hilfe notwendig ist, weil in vielen Bereichen vergleichbare Lebensbedingungen noch nicht geschaffen sind, etwa im Bereich der Infrastruktur, was beispielsweise Straße und Bahn betrifft, vor allem aber auch bei der Ansiedlung von Industrieunternehmen. Es gibt kaum Großbetriebe in den neuen Ländern. Diese sind aber Voraussetzung für eine vergleichbare Wirtschaftsstruktur.

HK: Gerade die gegenwärtig so angespannte wirtschaftliche Situation steigert nicht gerade die Bereitschaft zu der vermeintlich endlosen Hilfe für den Aufbau Ost. Auf der tagespolitischen Agenda rangiert er auch eher an hinterer Stelle...

Vogel: Ich bin mir durchaus bewusst, dass im Laufe der Jahre die Begeisterung, solche Hilfe zu leisten, abnimmt. Das ist menschlich und keinesfalls typisch deutsch. Nur, es liegt im Interesse der ganzen Bundesrepublik, dass die Distanz zwischen Ost und West geringer wird. Denn wenn ein Teil der Bundesrepublik dem anderen auf Dauer auf der Tasche liegen würde, wäre dies wesentlich belastender und wesentlich teurer, als wenn der Aufbau im Osten so fortgesetzt wird, dass vergleichbare Strukturen entstehen. Die Gefahr, dass der Osten zum Mezzogiorno Deutschlands wird, ist gebannt, die Gefahr eines unnatürlich großen Gefälles mit der Folge stetiger Abwanderung aus dem Osten vor allem in den Süden Deutschlands aber keinesfalls. Hier geht es auch um das wohlverstandene Eigeninteresse des Westens, nicht nur um Interessen der jungen Länder.

HK: Dabei bestehen doch zwischen den einzelnen neuen Ländern, etwa zwischen Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern, große Unterschiede...

Vogel: Ja, aber diese Differenzen gibt es doch bei den alten Ländern auch! Der Unterschied zwischen Bayern und Schleswig-Holstein ist nicht weniger groß. Überhaupt ist dieses Reden von Westdeutschland erst nach 1989 aufgekommen. Niemand in der alten Bundesrepublik hat sich vor der Wiedervereinigung als „Westdeutscher“ empfunden. Dass mittlerweile Unterschiede zwischen Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern sichtbar werden, ist ein gutes Zeichen, weil in Deutschland jedes Land sein eigenes Profil finden muss. Ganz abgesehen davon, dass die Behauptung, Thüringen liege in Ostdeutschland, schon geographisch Unsinn ist. Erfurt liegt westlich von München.

„Es waren die Kirchen, die zu politischem Engagement aufforderten“

HK: In keinem Porträt Ihres Nachfolgers fehlt der gelegentlich wohl auch etwas hämische Hinweis, dass dieser wie Sie ein überzeugter Katholik sei. Dieter Althaus ist auch Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem Sie in den siebziger Jahren vorgestanden haben. Nach der Wende wurde die überdurchschnittliche Repräsentanz von Christinnen und Christen in den Landtagen und Regierungen der jungen Länder viel diskutiert und nicht selten dagegen auch polemisiert. Bestehen dreizehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Vorbehalte?

Vogel: Man darf nicht vergessen, dass zwei Drittel der Bevölkerungen in den jungen Ländern keiner Kirche angehören und vom letzten Drittel drei Viertel der evangelischen Kirche, ein Viertel der katholischen. Wobei dieser statistische Befund nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen darf: Wir haben es hier nicht mit einem Atheismus im Sinne des 19. Jahrhunderts zu tun. Wir haben es vielmehr mit einer Generation zu tun, deren Eltern und meist auch schon deren Großeltern keiner Kirche mehr angehörten. Dass aber nach der Wende aus den Kirchen besonders viele Impulse und Aktivitäten kamen, ist selbstverständlich; es waren die Kirchen, die explizit zu politischem Engagement aufgerufen haben. Die weitgehende Abstinenz vieler Christen gegenüber dem DDR-System hat überdies so etwas wie ein Nachholbedürfnis geschaffen. Deshalb war in der Tat der Prozentsatz der Christen, die sich politisch engagierten, höher als ihr Anteil an der Bevölkerung.

HK: Wie steht es um die Christen und Christinnen in der jetzt das Ruder übernehmenden jüngeren Politikergeneration? Ist der bekennende Katholik Althaus schon die große Ausnahme? Hat sein kirchliches Engagement für Sie in der Nachfolgediskussion eine Rolle gespielt?

Vogel: Der Anteil an politisch engagierten Christinnen und Christen ist immer noch überdurchschnittlich, auch in dieser Generation. Als ich in das Land kam, ist mir sehr bald eine Reihe jüngerer Leute aufgefallen, denen ich zugetraut habe, dass sie im Laufe der Zeit in hohem Maße Verantwortung übernehmen können. Mein heutiger Nachfolger war nur einer unter mehreren. Althaus ist ähnlich wie ich schon mit 34 Jahren Kultusminister geworden und hat sich in diesem sehr schwierigen Ressort über acht Jahre erfolgreich bewährt. Das war maßgeblich für mich, nicht seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche.

HK: Umgekehrt: Sind die Christen und Christinnen in den neuen Ländern besonders zur Übernahme politischer Verantwortung disponiert? Die Verbandserfahrung, die beispielsweise die Katholiken im Westen ins politische Geschäft mitbringen, spielt hier doch gar keine Rolle.

Vogel: Nein, die meisten katholischen Verbände sind ja erst nach der Wende sehr mühsam aufgebaut worden. Der eindringliche Appell der Kirchen: Engagiert Euch gesellschaftlich und politisch! hat jedoch schon seine besondere Bedeutung. Aber keinesfalls kommt der politische Nachwuchs in den neuen Ländern ausschließlich aus diesem Bereich, sondern erfreulicherweise aus der ganzen Breite der Bevölkerung.

HK: Haben die Christinnen und Christen in der Aufbauarbeit der neuen Länder dennoch einen besonderen Beitrag geleistet?

Vogel: Die Kirchen haben zweifelsohne ein besonderes Maß an Verantwortung übernommen, etwa indem sie dafür eingetreten sind, dass Religion ein ordentliches Lehrfach an den öffentlichen Schulen wird oder dass Privatschulen entstanden. Und unbestreitbar hören auf das Wort der Bischöfe keinesfalls nur die Kirchenangehörigen. Dies ist beispielsweise bei dem schrecklichen Geschehen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im April letzten Jahres deutlich geworden. Dies zeigt sich aber ebenso im Einsatz und in der Akzeptanz von Caritas und Innerer Mission in vielfältiger Weise. Christen spielen insgesamt eine viel geringere Rolle als im Westen, weil sie eben nur eine Minderheit darstellen. Ihre Rolle ist und bleibt damit eine ganz andere als im Westen. Aber sie spielen eine Rolle und die wird nicht kleiner.

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