Hans Jonas zwischen Philosophie und TheologieGnosis und Verantwortung

Vor hundert Jahren, am 10. Mai 1903, wurde der jüdische Philosoph Hans Jonas geboren. Zu seinem Werk gehört eine Untersuchung über die spätantike Gnosis, die große Herausforderung für das frühe Christentum, ebenso wie ein Buch über den Gottesbegriff nach Auschwitz, dessen Mythos vom leidenden Gott viel diskutiert wurde. Auf einem theologischen Hintergrund entwickelt Jonas eine Ethik des Lebens als Gegengewicht zum modernen Nihilsmus.

Wer von Hans Jonas spricht, denkt meist an sein Spätwerk Das Prinzip Verantwortung. Es macht angesichts der Bedrohungspotenziale der Moderne den jetzt lebenden Menschen die Bewahrung zukünftiger humaner Existenz in einem intakten Ökosystem zur Aufgabe. Imperativisch formuliert: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1979, 36). Es ist das Verdienst von Jonas, den Gedanken des Umweltschutzes in die philosophische Debatte eingeführt zu haben. Auch die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 ist ohne seine Impulse kaum denkbar. 1987 hob die Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hervor, dass Frieden auf Verantwortung gründet. Durch Jonas ist Verantwortung zu einem Hauptbegriff der jüngeren ethischen Debatte geworden.

Doch bleibt in der Rezeption von Jonas häufig sein Bezug des Verantwortungsbegriffes auf die Ontologie unbeachtet, da selten nach der Bedeutung der zuvor verfassten Werke für seine Ethik gefragt wird. Warum kulminieren seine bedeutenden Beiträge zur Gnosisforschung und zur philosophischen Biologie in der Reflexion über die Verantwortung? Jonas benennt selber drei Etappen seines Denkens: „Da war die Bemühung um die spätantike Gnosis im Zeichen der Existenzanalyse; dann die Begegnung mit den Naturwissenschaften auf dem Wege zu einer Philosophie des Organismus; zuletzt die Wende von der theoretischen zur praktischen Philosophie – also zur Ethik – in Erwiderung auf die immer unüberhörbarer gewordene Herausforderung der Technik“ (Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, 11). Die Zusammengehörigkeit dieser Etappen lässt sich durch eine Nachzeichnung seines Denkweges erkennen.

Dogmen als Selbstauslegungen des Daseins

Hans Jonas wurde am 10. Mai 1903 als Sohn eines liberalen jüdischen Textilindustriellen in Mönchengladbach geboren. Er studierte von 1921 bis 1928 in Freiburg, Berlin, Marburg, Heidelberg und Bonn Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte. Als akademische Lehrer benannte er ausdrücklich die Philosophen Edmund Husserl und Martin Heidegger sowie den evangelischen Theologen Rudolf Bultmann. Jonas promovierte 1928 bei Heidegger mit der Arbeit Der Begriff der Gnosis, einer Thematik, die einem neutestamentlichen Seminar Bultmanns entstammt. 1933 verließ Jonas Deutschland. Seine nicht mehr eingereichte Habilitationsschrift erschien gleichwohl 1934 in Göttingen unter dem Titel Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil. 1 935 wanderte er nach Palästina aus, diente von 1940 bis 1946 als Freiwilliger in der britischen Armee und nahm 1948 am israelischen Befreiungskrieg teil. Wegen fehlender Aussichten auf eine akademische Tätigkeit siedelte er 1949 nach Kanada über und übernahm 1955 eine Professur an der New School of Social Research in New York, die er bis zu seiner Emeritierung 1976 inne hatte. In dieser Zeit entstanden seine philosophische Biologie Organismus und Freiheit (Göttingen 1973; wiederveröffentlicht als Das Prinzip Leben, Frankfurt 1994) sowie mehrere Beiträge, die in Das Prinzip Verantwortung eingingen. Die Schrift Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? (Frankfurt 1981) begründet die Subjektivität für die Grundlegung der Ethik. Das Buch Technik, Medizin und Ethik (Frankfurt 1985) stellt Beiträge zur Praxis des Prinzips Verantwortung vor. 1984 erschien Der Gottesbegriff nach Auschwitz (Frankfurt). Vorträge der letzten Jahre sind in dem Band Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen (Frankfurt 1992) erschienen. Am 5. Februar 1993 starb Hans Jonas in New Rochelle bei New York.

Jonas’ Denkhaltung mit der für ihn charakteristischen Verzahnung von Philosophie und Theologie zeigt sich schon an seiner frühen Schrift Augustin und das paulinische Freiheitsproblem (Göttingen 1930). Am Beispiel der Lehren von Erbsünde und Prädestination legt er dar, dass sie eine „dogmatische Fassung der religiösen Erfahrungssphäre“ (Augustin, 80) darstellen. Hier werden Erfahrungen in Formeln und Symbolen vergegenständlicht, um Phänomene unabhängig von ihren Ursprüngen diskutieren und sich mit ihnen auseinandersetzen zu können: „Nur in einer langen Rückbildung [...] vermag ein entmythologisiertes Bewußtsein sich den in dieser Verkleidung versteckten Ursprungsphänomenen direkt zu nähern“ (Augustin, 82). Die Dogmen sind also ihrer existenzialen Tendenz nach eine Selbstauslegung des Daseins, die sich um das ursprüngliche Grundphänomen der menschlichen Unzureichendheit (Erbsünde) vor Gott formieren. Hier ist die philosophische Einsicht in die Selbstauslegung des Daseins formuliert, die im religiösen Zusammenhang zu einer Dogmatisierung führt: die Methode der Existenzanalyse Heideggers gibt Bultmann das Fundament für sein Entmythologisierungsprogramm des Neuen Testaments.

Die Gnosis deutete Jonas in seiner berühmten Untersuchung als einen Dualismus, „der die Metaphysik und Religion von jeher verführt hatte; aber mehr noch existentiell als Extremfall einer Krise menschlichen Selbst- und Seinsverständnisses, einer Entzweiung von Mensch und Welt, Natur und Geist, Welt und Gott“ (Wissenschaft, 17 f.), also als Entfremdung, als antiken Nihilismus. In einem Umkehrschluss kommt Jonas später von dieser existentialistischen Lesart der Gnosis zu einer gnostischen Deutung des Existenzialismus und damit zu seiner Sicht des modernen Nihilismus. Auch hier ist ein Dualismus angelegt, der infolge der Trennung von Geist und Natur bei Descartes zu einer Weltlosigkeit führt, die Jonas auch bei Heidegger kritisiert: „Bei Heidegger hörte man vom Dasein als Sorge – in geistiger Hinsicht, aber nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir, selber ein Stück Natur, bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind“ (Wissenschaft, 19 f.). Jonas gelangt so zur Thematik einer Reflexion von Leben, die ihn zur Ausarbeitung einer philosophischen Biologie führt. Als entscheidende Aufgabe seines Denkens sieht er die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie, der bereits durch die jüdisch-christliche Schöpfungsvorstellung vorbereitet worden ist. Hier ist nur die menschliche Seele von Gott geschaffen, während sich die von ihr getrennte Natur gesetzmäßig verhält. Nun kann, wie bei Descartes, die denkende Substanz (das Ich, die res cogitans) der Natur, der res extensa, gegenübertreten. Sie ist nicht mehr mit dem Intelligiblen verbunden und wird zur selbstgenügenden Materie reduziert, was im Materialismus endet. Das Feld des Wissens bezieht sich nur auf die Materie, die so zum Maßstab der Verstehbarkeit wird.

Naturordnung als Fundament richtigen Handelns

Gegen diese Sicht, das Organische vom Geistlosen her zu verstehen, setzt Jonas sein Anliegen, den Aspekt des Lebens wiederzugewinnen: Die Besonderheit des Lebens im Gegenüber zur Materie sagt er mit Hilfe der Unterscheidung von Form und Stoff aus. Beide haben nur miteinander am Sein Anteil, wie auch das Leben seine Freiheit nur hat, solange es der Notwendigkeit des Stoffwechsels folgt. Die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit wird „durch das Vermögen des Welthabens überboten“ (Organismus, 133). Da das Leben an seinem Dasein Interesse hat, ist hier eine selektiv vorgehende Dynamik bezeichnet. Leben ist immer auf das gerichtet, „was es sein wird und gerade sich anschickt zu werden“ (Organismus, 137), also zweckbezogen. Diese Zielstrebigkeit macht die Besonderheit des Lebendigen aus, kurz: „Es gibt keinen Organismus ohne Teleologie“ (Organismus, 142). Jonas kann den von ihm negativ bewerteten Dualismus eines Descartes nur überwinden, wenn er „die res cogitans in ihrer organischen Fundierung“ als „Teil und Produkt der einheitlichen Natur“ (Organismus, 58) versteht. Damit ist die Teleologie als Grundstruktur des Lebendigen aufgefasst, ohne auf einen transzendenten Schöpfer zurückgeführt zu werden.

Die teleologische Natur des Lebens kennzeichnet Jonas als unverrückbar zugrunde liegende Naturordnung, die von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis verleugnet wird. Die Naturordnung erweist die Besonderheit des Lebens und soll zum Fundament richtigen moralischen Handelns führen, wie der Epilog von Organismus und Freiheit zeigt. Hier wird nach einem „Prinzip der Ethik“ gefragt, „das letztlich weder in der Autonomie des Selbst noch in den Bedürfnissen der Gesellschaft begründet wäre, sondern in einer objektiven Zuteilung seitens der Natur des Ganzen (was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte)“ (Organismus, 341). Diese Ethik hat Jonas, vom Organismus als ontologischem Paradigma ausgehend, in Das Prinzip Verantwortung zu begründen gesucht. Zunächst muss allerdings von dem Mythos die Rede sein, mit dem Jonas die Frage nach der Kausalität der Welt beantworten möchte, nicht nur, weil diese Auffassung für seinen Verantwortungsbegriff bedeutsam ist, sondern auch die geheime theologische Perspektive seines Werkes aufzeigt.

Dieser Mythos, der in Organismus und Freiheit publiziert ist, wird auch in Der Gottesbegriff nach Auschwitz verwendet. Er legt einerseits die Möglichkeit von Freiheit dar, andererseits die Verantwortung für die Welt. Das Verhältnis von Gott und Welt bestimmt Jonas mit Hilfe des Begriffes zimzum aus der Kabbala. Dieser versucht nachvollziehbar zu machen, wie Gott und Welt nebeneinander existieren können. Durch seine Selbstkontraktion (zimzum) hat Gott für die Welt einen Urraum freigegeben. Anschließend offenbarte er sich als Schöpfergott, indem er aus dem Nichts schuf. In jedem Geschaffenen wirkt so ein Residuum göttlicher Manifestation fort. Der Beginn der Schöpfung liegt bei der Gottheit, die „sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlichen Mannigfaltigkeit des Werdens“ (Organismus, 331) anheimzustellen entschlossen hat. Gott und Welt sind nicht – pantheistisch – identisch: „Vielmehr, damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein“ (Organismus, 332). Mit der Schöpfung tritt eine veränderliche Größe auf, die selbständig ihr eigenes Sein entfalten kann. Gott, der sich seiner Gottheit durch die Schöpfung entkleidete, wird sie einst zurückempfangen „aus der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie“ (Organismus, 332). Damit die Welt werden kann, hat Gott seine Identität preisgegeben, ohne zu wissen, wie sie werden wird. Da sich Gott entäußert hat, kann die Schöpfung nicht als Ausdruck seiner Allmacht gelesen werden. Folglich wird die erste Lebensregung als Weltzufall bezeichnet, auf den die Gottheit wartete. Das Leben ist zwar als Möglichkeit von Gott gewusst, nicht aber die Faktizität seiner wirklichen Entstehung und Ausgestaltung.

Der Mythos vom leidenden Gott

Trotz der Ablehnung des Pantheismus ist die Beziehung zwischen Gott und Welt sehr eng, denn ihre Gestaltwerdung überträgt sich auch auf ihn, so dass das jeweilige „Selbst-Fühlen, Handeln und Leiden endlicher Individuen [...] die Gottheit zur Erfahrung ihrer selbst“ (Organismus, 333) bringt. Mit der Entstehung des Menschen beginnt etwas Neues, da das „Bild Gottes“ nunmehr „in die fragwürdige Verwahrung des Menschen“ (Organismus, 334) übergegangen ist. Er hat die Möglichkeit, das Bild Gottes zu erfüllen, zu retten oder zu verderben. So ist mit dem Erscheinen des Menschen auch mit Gott etwas Neues geschehen, denn es „erwachte die Transzendenz zu sich selbst“ (Organismus, 334) und begleitet den Menschen, ohne in dessen Handeln einzugreifen.

Das Besondere dieses Mythos ist die Vorstellung des leidenden Gottes, die sich, anders als im christlichen Verständnis, auf sein Verhältnis zur Welt vom Beginn der Schöpfung an bezieht. Die Vorstellung vom werdenden Gott steht auch im Widerspruch zur platonisch-aristotelischen philosophischen Theologie, derzufolge Gott ein vollständiges Sein hat, das von Zeit, Leiden und Veränderung ausgenommen ist. Auch richtet sich diese Gottesvorstellung gegen Nietzsches Wiederkehr des Ewiggleichen. Dieser Gott geht ein eigenes Risiko ein – und ist damit selbst gefährdet. Es handelt sich nicht um einen allmächtigen Gott. Von den drei Attributen der absoluten Güte, Macht und Verstehbarkeit Gottes sieht Jonas jeweils zwei zusammenpassen, die das dritte ausschließen: Allmacht und Güte können zusammen bestehen um den Preis der Unerforschlichkeit Gottes, denn ein absoluter guter und allmächtiger Gott ist nicht verstehbar. Da Jonas für Gott die Güte beansprucht und darin aus seiner jüdischen Tradition heraus seine Verstehbarkeit begründet sieht, kann er, besonders seit Auschwitz, die Allmacht Gottes nicht mehr aussagen. Nur unter der Bedingung, dass Gott nicht allmächtig ist, vermag Jonas den Gedanken aufrecht zu erhalten, dass Gott „verstehbar und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“ (Gottesbegriff, 40). Gottes Macht ist durch etwas begrenzt, dessen Existenz – die Welt mit ihren Lebewesen – er selbst anerkennt.

Damit kehrt sich das traditionelle Verhältnis zwischen Gott und Kreatur um: „Jetzt ist es am Menschen ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, dass es nicht geschehe, oder nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, dass es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muss“ (Gottesbegriff, 47). Dies impliziert die Verantwortung des Menschen für ein Weltgeschehen, das nicht auf den Willen des allmächtigen Schöpfergottes zurückgeführt werden kann. Das Böse kommt auch nicht von einem dualistisch vorgestellten Gottesprinzip wie in der Gnosis, sondern durch den Menschen in die Welt. Er muss es erkennen und vermeiden, da er sonst Gott selbst Leiden zufügt. Deshalb sollte der Mensch so handeln, dass Gott sein Schöpferhandeln nicht bereut. So wird er für Gott vor Gott verantwortlich, der seiner Macht entsagt hat. Das hier eingeforderte Handeln in Verantwortung ist also theologisch begründet. Da Jonas religiösen Aussagen eine subjektive, aber keine allgemeine Gültigkeit zugesteht, ist es für eine Ethik der technologischen Zivilisation nötig, sich auf mehrheitsfähige Aussagen zu beschränken. Das versucht er in seinem Prinzip Verantwortung. In diesem Werk geht Jonas von der Bestimmtheit unserer Lebenswelt durch die Technik aus. Sie steht nicht mehr in ihrer antiken Hilfsfunktion, sondern ist ambivalent als Segen und Drohung. Ihre kumulative Dynamik führt zu ihrer negativen Einschätzung, da der Mensch zum Objekt seiner Technologie zu werden droht. Die Betonung der Nützlichkeit und Verwertbarkeit bei der Anwendung von Technik nimmt auf die Besonderheit des Lebens oder ein sittliches Eigenrecht der Natur keine Rücksicht mehr. Jonas negiert das Recht auf Fortschritt und belegt mit Beispielen aus der Humanbiologie und Medizin seine Auffassung, dass ein fortwährender Meliorismus oder Utilitarismus die Würde des (kranken und sterbenden) Menschen missachtet. Dagegen setzt er seinen Imperativ, man solle durch sein Handeln die Integrität künftiger Menschen nicht gefährden. Dieser Fortschrittskritik liegt die Behauptung einer mangelnden Achtung der Naturordnung seit Descartes zugrunde, der die Besonderheit des Lebens missachtet.

Um diesen Vorgang aufzuhalten und möglichst zu verhindern, benötigt Jonas eine allgemein nachvollziehbare Begründung seiner Ethik. Da die wissenschaftliche Aufklärung die Kategorie des Heiligen zerstört hat und die Religion die Aufgabe der Fundierung einer Handlungsordnung nicht mehr selbstverständlich übernehmen kann, geht es um eine andere Basis, die er in einer vernunftgemäßen Metaphysik gegeben sieht.

Den Nihilismus der Moderne überwinden

Jonas generalisiert die klassische metaphysische Frage nach dem Grund des Seins, warum Etwas – im Gegensatz zum Nichts – sein soll. Er beantwortet sie damit, dass es sein soll, weil es zu sein wert ist. Für die Ethik leitet er daraus die Pflicht ab, das Leben zu bewahren, denn es ist teleologisch im Sein angelegt, und, da mehr als das Nichts, ein Wert. Das Leben ist als ein Gut erfasst, das auf Verwirklichung drängt, das aufgrund der eigenen Werthaftigkeit den Menschen die Pflicht zur Erhaltung auferlegt. Dieser Begründung misst Jonas für die Fundierung der Ethik entscheidende Bedeutung bei. Aus dem Sein, dem Leben, dem die Denkbewegung von Organismus und Freiheit galt, wird im Prinzip Verantwortung das moralische Sollen gefolgert. Im Organischen sieht Jonas das Angelegtsein des Seins auf Leben hin, das als Wert seine eigene Bewahrung fordert. Diese in der heutigen Wissenschaft verlorene Einsicht will er wiedergewinnen, um das Leben aus der völligen Verfügbarkeit herauszuhalten. Zum moralischen Handeln motiviert dabei die Heuristik der Furcht, die durch die negativen Vorstellungen der Tendenzen gegenwärtiger Technologie das Gefühl der Handelnden in Richtung auf bewahrendes Tun bestimmen soll.

Das Bewahren richtet sich auf die Zukünftigkeit des Lebens und auf das Bewahren des jetzigen Guten, nicht aber auf dessen utopische Verbesserung. Diese Gedanken hat Jonas in der Aufsatzsammlung Technik, Medizin und Ethik sehr eindrucksvoll illustriert. Er warnt vor dem Versprechen auf utopische Lebensverhältnisse durch die Technik. Am Beispiel des medizinischen Fortschritts, der Gentechnologie oder der Umdefinierung des Todes zum Gehirntod zeigt er die Gestalt eines zwischenmenschlichen Handelns, das nicht mehr durch ein Verzichtverhalten, sondern durch eine Anspruchsmaximierung gekennzeichnet ist und darin inhuman wird. Der Denkweg von Jonas stellt sich als eine Bemühung dar, den an der Gnosis exemplifizierten und in der Moderne wirksamen Nihilismus auf der Grundlage eines normativen Naturbegriffes zu überwinden. Der Gottesbegriff seines eigenen Mythos begründet eine ontologische Ethik, die das Gewolltsein des endlichen Geistes durch den unendlichen voraussetzt und das Sein als Wert, als Gut an sich versteht, für das es Verantwortung zu übernehmen gilt. Die These von der Einheit allen Seins versucht, diese ursprünglich onto-theologisch begründete Auffassung zu verallgemeinern und als Grundlage einer metaphysischen Ethik für die technologische Zivilisation zu nehmen. Die verschiedenen Ebenen des Denkweges von Jonas können also über die Ausrichtung auf einen nicht-nihilistischen Lebensbegriff zusammenbestehen.

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