Theologen im Gespräch mit dem Filmregisseur Theo AngelopoulosSchau des Unsichtbaren

Der griechische Regisseur Theo Angelopoulos versteht sich als Agnostiker. Dennoch gehört der im vergangenen Jahr mit dem Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken Geehrte aus theologischer Perspektive derzeit zu den anregendsten Filmemachern, wie das Gespräch mit dem Regisseur selbst jüngst wieder bestätigt hat.

Neben Theo Angelopoulos gibt es momentan kaum einen Filmemacher, dessen Werk hinsichtlich seiner religiösen Tiefenschichten einem Vergleich mit Regisseuren wie Robert Bresson, Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij oder Krzysztof Kieslowski standhalten würde. Sein nächster Film, erster Teil einer abermaligen Trilogie, der im kommenden Jahr auf der Berlinale vorgestellt werden soll, wird „Die Wiese mit den Tränen“ heißen. Das Lyrische, leicht Surreale, das die Filme von Angelopoulos auszeichnet, ist mit diesen wenigen Worten bereits aussagekräftig verdichtet. Die Handlung verknüpft eine Biographie mit der großen Geschichte im Weltmaßstab: Es geht um das Flüchtlingsschicksal von wohlhabenden Griechen aus Odessa, die nach der russischen Revolution in das unwirtliche Nordgriechenland geflohen sind. „Der Film ist wie eine antike Tragödie strukturiert“, erläutert der 67-jährige Regisseur im Interview und belegt damit, dass er als Grieche weiterhin auf dem Boden der kulturellen Traditionen seiner Heimat steht (Neue Zürcher Zeitung, 17.6.2002). Erlittener Verlust und an den Wurzeln der eigenen Existenz nagende Trauer, nicht aber das sanftmütige Happy End, die von Nebelschwaden durchzogene, ärmliche Bergwelt Griechenlands und nicht die sonnigen Strände der von der Tourismusindustrie angepriesenen Mittelmeerinseln prägen den Charakter aller Filme, in denen die Migrationsströme auf dem Balkan ein wichtiges Motiv sind.

Lange Einstellungen und getragene Musik

Der 1935 geborene Thodoros Angelopoulos, Sohn eines Athener Parfümhändlers und einer tief religiösen Mutter, arbeit sich da durchaus auch an seiner eigenen Lebensgeschichte ab: Nachdem er zuerst Rechtswissenschaften studiert hatte und dann das Pariser Institut des Hautes Etudes Cinématographiques (IDEHC) besuchte, kehrte er 1964 nach Griechenland zurück. Dort sah er sich mit der Obristendiktatur (1967–1974) konfrontiert, deren Menschenrechtsverletzungen er in seinen ersten großen Filmen anprangert. Die Auseinandersetzung mit der Zensur führte dazu, dass bereits in diesen Werken das Sichtbare nicht das Entscheidende einer bestimmten Filmszene sein musste.

Früchte der enttäuschten politischen Hoffnungen der Folgezeit war dann die in den achtziger Jahren produzierte „Trilogie des Schweigens“ (Reise nach Kithira, 1982/1983; Der Bienenzüchter, 1986; Landschaft im Nebel, 1986), in denen Angelopoulos einen stärkeren Akzent auf einzelne Lebensgeschichten setzt, in denen die Geschichte Südosteuropas nachhallt (vgl. zum Filmwerk einschließlich der Trilogie des Schweigens: Walter Ruggle, Theo Angelopoulos. Filmische Landschaft, Baden [CH] 1990; Wolfgang Jacobson [u. a.], Theo Angelopoulos, Reihe Film 45, München 1992). Spätestens mit diesen drei Filmen wurde Angelopoulos zu einem der wichtigsten europäischen Regisseure, der nach Marcello Mastroiani dann auch andere ausdrucksstarke Hauptdarsteller wie Harvey Keitel oder Bruno Ganz für seine Vorhaben begeistern konnte. Reflexe auf das Ende der Utopien finden sich dann auch in den zuletzt realisierten Filmen. In „Der Blick des Odysseus“ (1995) wird eine jener Leninstatuen in Übergröße auf ein Schiff verladen und liegend, aber für alle am Ufer sichtbar – wie auf dem Weg zu einer Toteninsel – über die Donau gefahren. In der zentralen Sequenz von „Die Ewigkeit und ein Tag“ (1998), einer ausgedehnten nächtlichen Busfahrt durch Thessaloniki, sitzt ein Demonstrant mit einer großen roten Fahne völlig ermattet und mit hängendem Kopf in den hinteren Reihen. Diese melancholische Grundstimmung aufgrund der Themen wird unterstützt durch die Bilder von Kameramann Yorgos Arvanitis, dessen ungewöhnlich lange Einstellungen nur wenige Schnitte zulassen, Angelopoulos phasenweise zum „Erneuerer des Stummfilms“ (Wolfram Schütte) werden lassen, gerade dadurch aber zur Meditation einladen. Hinzu kommt die getragene Musik der Komponistin Eleni Karaindrou, die seit „Reise nach Kithira“ für die musikalische Gestaltung der Filme verantwortlich zeichnet.

„Ästhetik der Entschleunigung“ nannte dies die Jury in ihrer Urteilsbegründung für die Verleihung des Kunst- und Kulturpreises der deutschen Katholiken, mit dem Angelopoulos im vergangenen November in München ausgezeichnet wurde (vgl. HK, Dezember 2001, 600; vgl. auch die Titelgeschichte des Filmdienst, 6.11.2001). Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Oeuvre von Angelopoulus von Seiten der Theologen kam es jüngst Ende Mai beim diesjährigen Symposium der Internationalen Forschungsgruppe Film und Theologie in Graz, bei dem Angelopoulos nach den ihm gewidmeten Vorträgen jeweils Rede und Antwort stand (vgl. das Dossier der „Furche“, 30.5.2002; zur Forschungsgruppe: HK, Juli 1999, 354ff., und jetzt auch die im Jahr 2000 begonnene Publikationsreihe „Film und Theologie“ im Marburger Schüren-Verlag, in der bereits drei Bände erschienen sind). Die Fähigkeit des Gedenkens wie der drohende Verlust der Erinnerung waren als Fokus benannt, anhand dessen man sich Angelopoulos näherte. Vor allem der Grazer Fundamentaltheologe Gerhard Larcher zeigte auf, wie bei allen unterschiedlichen Akzentsetzungen die Identitätssuche der Filmfiguren von Angelopoulos seit den achtziger Jahren zum „hermeneutischen Brennspiegel für die Makrogeschichte“ werden. Die dramatischen Ereignisse von Flucht und Vertreibung vor und nach dem Zerfall Jugoslawiens spielen immer auch hinein in die Suche der Helden nach der verlorenen Heimat, der eigenen Kindheit, die mehrfach vom verlassenen Elternhaus symbolisiert wird (beispielsweise in „Der Bienenzüchter“ und „Die Ewigkeit und ein Tag“). Angelopoulos selbst hat bei einer Diskussionsveranstaltung der Katholischen Akademie in Bayern im Anschluss an die Preisverleihung im November bestätigt: „Man will ein Haus finden (...) unseren Ort, wo wir Ausgeglichenheit finden, wo wir mit uns selbst und mit der ganzen Welt im Gleichgewicht sind“ – und gleich aber auch hinzugefügt: „Mein Zuhause, das sind die Reisen.“ Tatsächlich ist im Werk des griechischen Regisseurs diese Spannung zwischen der Unruhe des Auf-der-Suche-seins und der Sehnsucht nach dem Erreichen des Ziels bestimmend. Stärker als im klassischen Road Movie sind die von den Filmhelden unternommenen Reisen wie in der homerischen Odyssee Sinnbilder jener condition humaine, wobei gerade die vielen Schnellstraßen, Tankstellen, Bauruinen, Hochspannungsleitungen und Kühltürme an die Not des Menschen in der modernen Zivilisation gemahnen. Eine besondere Dichte weist hier die Irrfahrt der beiden Kinder in „Landschaft im Nebel“ auf, die sich auf die Suche nach ihrem Vater machen, den sie nach den Erzählungen der Mutter fälschlicherweise in Deutschland wähnen. Nach einer Reihe von Wirrungen, in denen ihre kindliche Naivität ausgenutzt wird, flüchten sie vor der griechischen Polizei. Schüsse fallen – das bewusst offen gehaltene Ende zeigt, nachdem der Nebel sich gelichtet hat, einen einzeln stehenden Baum, den die beiden Kinder umarmen.

Standhalten angesichts der Absurditäten

Grundsätzlich, so Larcher, erlaube es gerade der Film in einer „visuell orientierten, latent gedächtnis- und geschichtslosen Zivilisation“, „durch seine ihm eigentümlichen technisch-symbolischen Ausdrucksmittel und seine Erzählfähigkeit einmalige Konfigurationen von Zeiterfahrung im Sinne des Eingedenkens, der Realpräsenz und Hoffnung auf die Zukunft hin zu entwerfen“. Während das Kino immer schon „visualisierte Zeit“ zeige, ist die entscheidende Pointe der Erinnerungsbilder von Angelopoulos Larcher zufolge das Ineinander der verschiedenen Zeitebenen, in denen persönliche Zeit, historische Zeit und mythische Zeit miteinander verschränkt werden. In den bemerkenswert langen, für Angelopoulos charakteristischen Plansequenzen mit der Bevorzugung der Totalen und des Panoramaschwenks ist es ohne weiteres möglich, dass der Held die Zeitebenen wechselt – und wie in „Die Ewigkeit und ein Tag“ ohne Schnitt Personen aus seiner Kindheit begegnet. Diese extreme Langsamkeit aufgrund der ausgedehnten Kamerafahrten erzeuge auf der einen Seite eine geradezu „ikonische Stasis“ und verräumliche die Zeit damit, so dass diese gewissermaßen begehbar wird. Auf der anderen Seite wird der Lebensraum der Figuren durch die gegenseitige Durchdringung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch verzeitlicht. In den seltenen Momenten des Glücks der Wiedererinnerung sei so etwas wie die Realpräsenz der Vergangenheit spürbar, wie etwa die Erinnerungssequenzen der tanzenden Großfamilie am Ende von „Die Ewigkeit und ein Tag“ andeuten. Gerade aufgrund dieser spezifischen Langsamkeit wirkten, so Larcher, „die Schüsse, Sirenen, Geschütze, Schreie umso herzzerreißender“. Hierin sieht Larcher eine Ästhetizismuskritik, die die radikale ethische Absicht des Autors ausmache. Bei aller Tristesse bis hin zu den – in der expliziten Darstellung sehr zurückhaltenden – Bildern des Grauens gehe es Angelopoulos jedoch nicht um die pure Verzweiflung, sondern um ein Standhalten angesichts der Absurditäten, um ein Platzhalten für Hoffnung. Schon in München äußerte Angelopoulos, dass er seine Filme nicht als pessimistische, sondern als wehmütige Filme sehe und wie Aristoteles die Melancholie als Quelle der Kreativität und Poesie erfahre. Der griechische Regisseur fügte in Graz hinzu, dass allein die Tatsache, einen Film zu drehen und dann auch zu veröffentlichen, ein Akt der Hoffnung sei – so wie selbst ein nicht beantworteter Ruf die Hoffnung auf eine Antwort bezeugt. Larchers Überzeugung lautete, dass auch der christliche Glaube es erfordere, diese „Schwebe in der Hoffnungsgeste“ auszuhalten.

Gerade dieser spezifische Umgang mit den Zeitebenen ist freilich auch der Vorliebe von Angelopoulos für die Welt der Mythen geschuldet, die er jüngst im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung erläutert hat: „Für uns haben diese Mythen noch eine tiefe Bedeutung. Unsere Großmutter erzählte sie uns wie Märchen, und von da an bewohnten sie unsere Träume (...) Damit erkenne ich meinen Ursprung an, das ist die Sprache der Mutter, das sind die Echos, Stimmen, Lieder, die aus der Tiefe kommen und den versunkenen Schatz meines Bewusstseins bilden.“ Der Münsteraner Bibliker und Filmwissenschaftler Reinhold Zwick sieht unter anderem hierin den „universellen Tiefengrund“ der Filme begründet, der als eine Art „kulturelle Konstante“ die weltweite Resonsanz des griechischen Regisseurs begründet. Immerhin wird Angelopoulos von den Cineasten in Japan ähnlich hoch geschätzt wie in den USA und in Europa. Dazu gehört auch das Motiv der Grenze, das Zwick wie schon in seinem Münchener Vortrag in den Vordergrund stellte (jener findet sich in: Zur Debatte, Nr. 6/2001). „Wie viele Grenzen müssen wir überwinden, um endlich bei uns selber anzukommen?“, heißt es bei Angelopoulos, der sich dem Phänomen angefangen von der zwischenmenschlichen Kommunikationslosigkeit über die Ohnmacht der erotischen Liebe, der gesellschaftlichen Schranken und der nationalen Eigenheiten bis hin zu den realen Grenzverläufen zwischen einander feindlich gesinnten Staaten gestellt hat – wobei sich die unterschiedlichen Grenzen bei der Interpretation wechselseitig auslegen können. Zu den bewegendsten Szenen seines Werkes gehört diejenige aus „Der schwebende Schritt des Storches“ (1991), als es an einem griechisch-albanischen Grenzfluss zu einer Hochzeit kommt, bei der Braut und Bräutigam mit ihrer jeweiligen Verwandtschaft auf die beiden Ufer verteilt sind.

Angelopoulos und die orthodoxe Theologie

In Angelopoulos’ jüngstem, nach eigenen Aussagen persönlichstem Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ steht dann die Konfrontation mit dem Tod als letzter Grenze im Zentrum. Während der Dreharbeiten zu „Der Blick des Odysseus“ starb ein Mitarbeiter und enger Freund. Diese Erfahrung warf für Angelopoulos die Frage auf: „Was macht ein Mensch, der nur noch einen Tag zu leben hat?“ Gerade deshalb aber beharrt er auch darauf, dass „Die Ewigkeit und ein Tag“, der den mutmaßlich letzten Tag des todkranken Schriftstellers Alexandros zeigt, ein Film über das Leben sei: Noch an seinem letzten Tag, an dem er sich seinem ungelebten Leben stellt, kommt es durch die Begegnung mit einem albanischen Straßenkind, dessen hilfesuchendem Antlitz Alexandros nicht ausweichen kann, zu einem Wandel – einschließlich einer neuen Sicht auf das eigene Leben. Die „leise Hoffnung auf Versöhnung und Koexistenz“, dass der Mensch im Sinne der von Johannes Baptist Metz geforderten „anamnetischen Kultur“ vielleicht doch etwas aus den Verirrungen der Geschichte lernen könnte, verknüpfte Zwick vor allem mit dem „Sich-Ausstrecken auf ein ,Mehr als das, was sichtbar ist’“, der Anbahnung einer „Begegnung mit dem Unaussprechlichen“. Darin liege die spezifisch filmkünstlerische Kraft dieses Werkes. Solche theologischen Annäherungen an das Filmwerk von Theo Angelopoulos sind insofern bemerkenswert, als er sich selbst explizit als Agnostiker versteht. Zudem ist das Verhältnis zur griechisch-orthodoxen Kirche, in die Angelopoulos hineingeboren wurde, nicht ungetrübt. Der für seine überzogenen Reaktionen bekannte Bischof von Flórina, Augostinos Kantiotis, hatte gegen die Dreharbeiten zu „Der schwebende Schritt des Storches“, einem seiner Auffassung nach zu pazifistisch und damit zu wenig national eingestellten Film, protestiert – was Angelopoulos im Übrigen gleich in seinem nächsten Film verarbeitete, indem er in einer Szene protestierende orthodoxe Christen zeigt. Trotzdem gab der Regisseur nach der Verleihung des Kunst- und Kulturpreises der Katholiken in München zu Protokoll: „Ich will nicht sagen, dass ich überrascht war.“ Schon nach „Die Ewigkeit und ein Tag“ habe er eine Einladung zu einer vom Vatikan organisierten Tagung erhalten und „verstanden“, dass dieser Film wie auch schon „Landschaft im Nebel“ als „ein Aufruf, als ein Appell an das Nicht-Sehbare“ verstanden werden könne.

Deutlich steiler in seiner theologischen Interpretion ging in Graz der an der Universität München lehrende griechischorthodoxe Theologe Athanasios Vletsis vor. Gerade vor dem Hintergrund jener „tragischen Bestätigung des fehlenden Dialogs zwischen der orthodoxen Kirche – konkret der Kirche Griechenlands – und der Welt des Films“ sah er weit reichende Parallelen zwischen den Filmbildern von Angelopoulos und der orthodoxen Theologie als einem weiteren wichtigen Bestandteil der griechischen Tradition. Auch wenn der Regisseur in seinen Filmen keine explizite Beschäftigung mit der Orthodoxie leiste, seien es dieselben Quellen, aus denen beide schöpften. Vor allem der in der orthodoxen Theologie zentrale Begriff des Apophatismus, mit dem Gott als das Unsagbare „beschrieben aber nicht rationalisiert“ werden solle, lasse sich auch auf Angelopoulos’ Filme anwenden. „Der Apophatismus ist nicht das Verstummen der Sprache, sondern die Zeichnung der Grenzen des Sagbaren als Vorstufe zu einer unmittelbaren Einigung mit dem Absoluten“, erinnerte Vletsis. Diese „Askese des Blickes“ werde in den Filmen genauso geleistet wie Angelopoulos einen „Weg vom Chaos ins Licht“ suche. Wie in der orthodoxen Liturgie gehe es um ein Ver- und ein Enthüllen, zumal sich das Zeitgefühl der Filme vom Rhythmus des orthodoxen Ritus verstehen lasse. Vletsis griff weiter das Motiv der Suche nach der Unschuld auf, das zum inneren Movens der Filme von Angelopoulos gehört, in denen sich die Protagonisten ihrer Tränen über das eigene Versagen, das Unvermögen und die Unvollkommenheit nicht schämen. Auch die orthodoxe Theologie sei davon überzeugt: „Nur wenn jemand einen Grad der Unschuld erreichen kann, kann er weiter sehen, mehr sehen, als das, was sichtbar wird.“ Entscheidend ist dabei, dass in der orthodoxen Theologie das Sehen wichtiger ist als die unvermittelte Erkenntnis, weil man der Wahrheit durch die „Erfahrung eines unmittelbaren Fühlens der Schönheit“ näher komme – wie die Ikonen als Bestandteil einer „Welt des verzauberten Blickes“ bewiesen.

Eine zweifellos tief spirituelle Haltung

Nicht ohne Ironie gab er freilich zu, dass offenkundig nur „außerhalb der traditionellen Grenzen der Orthodoxie“ eine solche Besinnung möglich ist, was wiederum Angelopoulos darin recht gebe, dass die Überwindung der Grenze die unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Begegnung sei. Angelopoulus seinerseits verwies angesichts dieser eng gezogenen Parallelen höflich auf das Konzept des offenen Kunstwerks, das eine Fülle von unterschiedlichen Lesarten zulasse und gab gleichzeitig zu erkennen, das er doch auch von der Vielzahl der beobachteten Übereinstimmungen überrascht sei (vgl. das Interview in der „Kleinen Zeitung“, 24.5.2002). Geistesgeschichtlich stärker zu akzentuieren wäre freilich aus einer westlichen Perspektive in jedem Fall der Bruch der Moderne, der sich in Angelopoulos’ Filmen durchaus wiederfinden lässt. Wie etwa wäre der „metaphysische Aufschrei“ (Larcher) angesichts der Ermordung der Freunde des Helden in Sarajewo in „Der Blick des Odysseus“ sonst zu interpretieren? Die bosnische Hauptstadt wird stellvertretend für den gesamten Balkan zum Symbolort von unvorstellbarem Leid und ungeahnter Grausamkeit.

Der Frankfurter Fundamentaltheologe Siegfried Wiedenhofer hatte in seinem Referat über eine christliche Theorie des Erinnerns und Gedenkens auf die Ambivalenz des Symbolischen aufmerksam gemacht, aufgrund der die Problematik überhaupt erst entsteht, dass die Gottheit auch nach ihrer Selbstoffenbarung nicht ohne weiteres erkennbar ist. Dort wo wie im Christentum die Geschichte als Ort religiöser Erfahrung entdeckt wird, ergibt sich immerhin die Schwierigkeit, dass das Göttliche nur als Verborgenes erfahren werden kann und die zeichenhafte und sakramentale Gegenwart Gottes zugleich die Möglichkeit des Vergessens wie die Notwendigkeit des Erinnerns und Vergegenwärtigens des vergangenen Geschehens mit sich bringt. Angelopoulos selbst hielt es mit Paulus und zitierte aus dem ersten Korinterbrief: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht“ (13,12). Er bestand auf dem Unterschied zwischen dem Agnostiker, der sich vor dem Spiegel befindet, und dem Theologen, der meint, hinter jenen Spiegel blicken zu können. Wären also in den Filmen des Griechen bestenfalls wie ehedem in der vorchristlichen Philosophie „logoi spermatikoi“ zu finden, wie der ebenfalls in Graz lehrende griechisch-orthodoxe Theologe Grigorios Larentzakis vorschlug? Je länger das Gespräch dauerte, desto mehr zeichnete sich ab, dass es oft auch eine Frage der unterschiedlich gefüllten Begrifflichkeiten war, aufgrund derer dem Regisseur die durchaus gemeinsamen Anliegen nicht als solche erschienen. Beeindruckend war in jedem Fall, wie Angelopoulus in sehr persönlichen Worten – mit eingeflochtenen Lebenserinnerungen – über das „Wunder der Geburt“ und den „Skandal des Todes“ sprach, die für ihn zu den großen „Rätseln“ gehören, über die er Filme machen möchte. Sollte es angesichts dieser zweifellos tief spirituellen Haltung noch überraschen, dass Angelopoulos bei seiner Ansicht nach gelungenen Sequenzen in seinen Filmen von „Momenten der Gnade“ spricht?

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