Taiwan nach den PräsidentschaftswahlenKrise oder Neuanfang?

Taiwan gehört zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern Asiens und ist auf dem Weg zur Demokratie durch die Präsidentenwahl im März 2000 weiter vorangekommen. Im Verhältnis zum großen Bruder China dürfte es auf absehbare Zeit beim Status quo bleiben. Die katholische Minderheit Taiwans sieht sich als „Brückenkirche“ zum Festland.

Das große Erdbeben am 21. September vergangenen Jahres hat Taiwan schwer getroffen. Es war das schwerste Beben in mehr als einem Jahrhundert, forderte 2300 Menschenleben, verwundete fast 10 000 Menschen und zerstörte 27 000 Gebäude. Auch für ein wirtschaftlich inzwischen so leistungsfähiges Land wie Taiwan waren die materiellen Schäden – ganz zu schweigen von den Verlusten an Menschenleben und dem damit verbundenen menschlichen Leid – nicht so schnell zu bereinigen. Die Kette der Nachbeben und neuer Erdstöße ist bis heute nicht abgerissen. „Erdbeben“ sind für Chinesen aber immer mehr als nur Naturkatastrophen; sie zeigen eine Krise kosmischer Natur an, die auf moralische Übel oder allgemeine Unordnung in der Gesellschaft hinweisen. Unter dieser Rücksicht weisen Erdbeben auf Umwälzungen, auch in der Politik, hin.

Die Wahl des Oppositionspolitikers Chen Shuibian zum neuen Präsidenten hat auf Taiwan selbst, aber auch international sehr überrascht. Shuibian stammt aus einer Bauernfamilie. Mit 49 Jahren ist er ein noch junger Politiker, der als Vertreter der „Demokratischen Fortschrittspartei“ 1994 mit der Wahl zum Oberbürgermeister von Taipei national bekannt wurde, allerdings bei der Wiederwahl 1998 scheiterte. Vorher hatte er sich als Rechtsanwalt und Verteidiger von Dissidenten besonders beim Prozess gegen die politischen Demonstranten in Kaoshiung 1979 einen Namen gemacht. 1986 wurde er wegen eines Beitrags in einer verbotenen Publikation zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Anfänglich wurden seiner Kandidatur nicht allzu große Chancen eingeräumt. Seit mehr als 50 Jahren hat die Guomindang unangefochten die Regierungsgewalt in Taiwan ausgeübt. Als bisher einzige Regierungspartei verfügt sie über riesige finanzielle Mittel und hat es in der Vergangenheit immer verstanden, dieses „schwarze Gold“ für Wahlpropaganda und direkten Stimmenkauf effektiv einzusetzen. Aber dann kamen Chen Shuibian die inneren Spannungen in der Guomindang zugute. Offizieller Kandidat der Guomindang war der bisherige Vizepräsident Lien Chan, der im Volk wenig populär und auch in der eigenen Partei nicht unumstritten war. So war es nicht verwunderlich, dass ein anderer Politiker aus der Guomindang, James Soong, ebenfalls seine Kandidatur erklärte und einen eigenen Wahlkampf führte, als er wegen seiner Rebellion aus der Guomindang ausgeschlossen wurde. Lien Chan brachte es dann bei der Wahl nur auf 23 Prozent der Stimmen, während James Soong mit 36,8 Prozent Chen Shuibian, der 39,3 Prozent erreichte, nur knapp unterlag. Nach dem taiwanesischen Wahlgesetz gilt bei der direkten Präsidentenwahl die relative Mehrheit als ausreichend. Die Guomindang verfügt auch weiterhin über eine Mehrheit von 55 Prozent der Sitze im Legislativ-Yuan, der höchsten gesetzgebenden Körperschaft, ebenso in der Nationalversammlung, und kann dem neuen Präsidenten das Regieren durchaus erschweren. Andererseits schwebt über ihr die Drohung des ausgeschlossenen ehemaligen Parteimitglieds Soong, eine eigene Partei zu gründen. Sollte es dazu kommen, würde die Guomindang sicher einen guten Teil ihrer bisherigen Mitglieder und weiter an Einfluss verlieren.

Die Wahl von Chen Shuibian zum Präsidenten stellt einen tiefen Einschnitt sowohl für Taiwan wie auch für die VR China dar. Der vorsichtige Einstieg in eine Demokratisierung, der 1987 mit der Aufhebung des Kriegsrechts von der Guomindang begonnen wurde, hat jetzt eine Entwicklung genommen, die ursprünglich so nicht geplant war, aber letztlich durchaus folgerichtig erscheint. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der ideologische Anspruch der Guomindang, als legitime Sachverwalterin und Erbin der Ideen und des Programms von Sun Yatsen (1866–1925), der 1911 die Mandschu-Dynastie stürzte und die chinesische Republik begründete, aufzutreten und damit zugleich eine unangreifbare Legitimation zur Ausübung der Regierungsgewalt in Taiwan selbst, aber eigentlich auch auf dem Festland zu haben, von der Bevölkerung Taiwans mehrheitlich nicht mehr geteilt wird. Da letztlich auch die gegenwärtige Regierung auf dem Festland immer weniger auf die reine Lehre der kommunistischen Partei, sondern in ihrer ideologischen Notlage stärker auf die Ideen Sun Yatsens zurückgreift, bedeutet die Wahlentscheidung in Taiwan neben dem außenpolitischen Gesichtsverlust auch eine innenpolitische Herausforderung. Denn die kommunistische Partei in der VR China sieht ihren alleinigen Anspruch auf Ausübung der Regierungsgewalt und Vorgabe der ideologischen Rahmenbedingungen in Frage gestellt. Aber am tiefsten könnte der Einschnitt in das politische Selbstverständnis auf Taiwan selber sein. Die bisherige Politik der Guomindang lag ganz auf der Linie, die auch in Beijing vertreten wird, nämlich Taiwan als integralen Bestandteil des einen großen China zu sehen. Eine eigene taiwanesische Identität konnte es nicht geben. Vielmehr sah sich Taiwan als Verkörperung der eigentlichen „chinesischen Nationalität“, die es im Gegensatz zur kommunistischen Herrschaft in Beijing in historischer und vor allen kultureller Kontinuität rein zu verwirklichen trachtete. In Taipei beherbergt schließlich das „Nationale Palastmuseum“ einen Großteil der kaiserlichen Sammlung, die in der Song-Dynastie begonnen wurde und die Kunst aller wichtigen Dynastien Chinas beeindruckend dokumentiert.

Die Kultur des heutigen Taiwan ist ein Mischprodukt

Die staatlichen Erziehungsprogramme hatten bisher ebenfalls das Ziel, der Jugend Taiwans das Bewusstsein und die Kompetenz zu vermitteln, sich als Erben der einen großen chinesischen Nation und Kultur zu verstehen. In den offiziellen Schulbüchern zur Geschichte und Geographie kamen taiwanesische Themen so gut wie nie vor. Im Musikunterricht wurden nur chinesische Volkslieder, aber keine einheimische Melodien unterrichtet. Dagegen stehen die Bemühungen um eine taiwanesische nationale Eigenexistenz in den Teilen der Bevölkerung, die zwar die Verbindung mit der großen chinesischen Tradition nicht abbrechen möchten, sich andererseits aber bewusst sind, dass Taiwan die eigene nationale Rolle unter Berücksichtigung seiner Geschichte und der gegenwärtigen politischen Gegebenheiten neu definieren muss. In den letzten fünfzig Jahren haben die vom Festland nach Taiwan gekommenen Han-Chinesen die Geschicke der Insel bestimmt. Inzwischen ist aber eine Generation herangewachsen, die Taiwan als eigentliche Heimat ansieht und über die politische Zukunft selber entscheiden möchte. Sie ist sich bewusst, dass die Kultur des heutigen Taiwan von einer Reihe Faktoren wie der Kultur der einheimischen Bevölkerung, der Han-Chinesen, der Japaner und der westlichen Welt bestimmt ist und daher ein Mischprodukt darstellt, das nicht einfach „chinesisch“ genannt werden kann.

Noch vor der offiziellen Einführung Chen Suibians als neuer Präsident hat sich seine Popularität unter der Bevölkerung nach demoskopischen Untersuchung gegenüber den 39 Prozent, die er bei den Wahlen im März erhielt, fast verdoppelt. Mit großer Spannung wurde die Rede des neuen Präsidenten bei der Amtseinführung erwartet. Chen vermied es, die zwischen Beijing und Taipei bestehenden Spannungen weiter aufzuheizen. Ohne das heiße Thema einer staatlichen Unabhängigkeit für Taiwan direkt zu berühren, begnügte er sich damit, die Aufrechterhaltung des Status quo sicherzustellen, der eine de-facto Souveränität der Inselrepublik festschreibt. Um Befürchtungen Beijings entgegenzukommen, versicherte er, dass er seinerseits nicht daran denke, ein Referendum abzuhalten, um die Bevölkerung Taiwans über Unabhängigkeit oder Einheit mit dem Festland entscheiden zu lassen. Diese Zusage macht er seinerseits davon abhängig, dass Beijing nicht die Absicht habe, „militärische Gewalt gegen Taiwan anzuwenden“. Mit dieser Aussage hatte er zwar nicht die von Beijing angemahnte eindeutige Bejahung des „Ein-China-Prinzips“ abgegeben, andererseits aber auch nicht weiter Öl aufs Feuer geschüttet. Seine Aussage, beide Seiten besäßen genug Weisheit und Kreativität, um „in der Frage des Prinzips des einen China gemeinsam zu Lösungen zu kommen“, lässt Raum für weitergehende Verhandlungen und sorgt in jedem Fall dafür, dass Zeit gewonnen ist, die um die Präsidentenwahl entstandenen Spannungen abklingen zu lassen. Chen Shuibian stellte sich ganz in die Ahnenreihe des republikanischen China, als er sich als der 10. Präsident der Republik China nach Sun Yatsen bezeichnete. Vermerkt wurde ebenfalls, dass er seine Rede auf Mandarin-Chinesisch vortrug und nicht auf Taiwanesisch.

Staatliche Eigenständigkeit und gute Beziehungen zur Volksrepublik

Als vertrauenweckende Maßnahmen hat Chen vorgeschlagen, direkte Postverbindungen zwischen Taiwan und Festland China einzurichten, Flug- und Schiffsverbindungen auszubauen und den beiderseitigen Handel zu verstärken. Chen kann für sich in Anspruch nehmen, seine erklärte Absicht, mit der Einführungsrede die Vereinigten Staaten und die internationale Gemeinschaft zufrieden zu stellen und Beijing nicht zu provozieren, verwirklicht zu haben. Aus Beijing kam allerdings der Vorwurf an die Adresse Chens, dass er es an „Ehrlichkeit“ habe fehlen lassen, weil seine Erklärungen „ausweichend und doppeldeutig“ gewesen seien.

Bei der Einführung von Chen Shuibian war auch der Vatikan vertreten. Dies geschah nicht durch Yllana Adolfo Tito, den örtlichen Chargé d’Affaires der „Apostolischen Nuntiatur in China“, – dies die offizielle Bezeichnung der vatikanischen Vertretung in Taipei –, sondern durch den Apostolischen Nuntius in Korea, Erzbischof Giovanni Battista Morandini. Dies ist sicher etwas ungewöhnlich, fand aber in der Presse kaum Beachtung. Vor allem hat die Regierung der VR China darauf nicht reagiert. Dagegen hat sie im Vorfeld der Amtseinführung erfolgreich gegen die eigentlich geplante Teilnahme des Dalai Lama polemisiert und seine Reise nach Taiwan verhindert. Dafür waren aber die Anführer der Demokratischen Bewegung in China, Wang Dan und Wei Jingsheng, die beide in den USA im Exil leben, nach Taipei gereist. Es fällt auf, dass in der ganzen Auseinandersetzung zwischen der chinesischen Regierung des Festlandes und der politischen Führung Taiwans zu keinem Zeitpunkt auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, die Bevölkerung Taiwans entscheiden zu lassen, wie sie sich ihre politische Zukunft vorstellt. Das Selbstbestimmungsrecht, das in internationalen Verhandlungen sonst eine so große Rolle spielt, gilt offensichtlich nicht in der sogenannten „Taiwan-Frage“. Dieses Phänomen hat seine historischen Gründe.

Als sich die Guomindang-Armee unter der Führung von Tschiang Kaishek nach der Niederlage gegen die Kommunisten auf dem Festland nach Taiwan zurückzog, übernahm sie die Insel Formosa, wie Taiwan international genannt wurde, als ehemalige japanische Kolonie. Von Anfang an regierte die Guomindang mit harter Hand, ohne jegliche irgendwie demokratisch zu nennenden Formalitäten, einfach auf Grund der militärischen Stärke und bald mit Hilfe einer sehr effizienten Geheimpolizei. Es gab auch damals keinerlei Versuch, die einheimische Bevölkerung an den politischen Entscheidungen zu beteiligen. Ganz im Gegenteil: Als sich im „Schwarzen Februar“ Widerstand der einheimischen Bevölkerung zu regen begann, wurde dieser Ausdruck des Volkswillens am 26. Februar 1947 in Blut erstickt. Über Jahrzehnte blieben alle politischen, militärischen und sicherheitsrelevanten Posten fest in der Hand von Guomindang-Anhängern vom Festland. Erst die langsame demokratische Veränderung unter dem Sohn von Tschiang Kaishek führte dazu, dass auch aus Taiwan stammende Politiker politische und administrative Ämter bekleiden konnten. Der erste aus Taiwan stammende Präsident, Lee Tenghui, gehörte selbstverständlich der Guomindang und hatte wohl nur so die Möglichkeit, vorsichtig politische Änderungen vorzunehmen.

Erst mit der Wahl von Chen Suibian ist die Vorherrschaft der Guomindang durchbrochen worden. Jetzt müsste konsequenterweise ein weiterer Schritt getan werden, der Ernst machen würde mit der Selbstbestimmung der Taiwanesen. Unstrittig ist gegenwärtig wohl, dass bei einer freien Selbstbestimmung der Bevölkerung Taiwans über ihre politische Zukunft ein Referendum, das den unmittelbaren Anschluss an die VR China zu den Bedingungen „Ein Land – zwei Systeme“ beinhalten würde, negativ ausging. Dies ist auch den Herrschenden in Beijing bekannt, so dass sie bisher diese Karte nicht spielen wollten. Ein Referendum jedoch, das direkt und unmissverständlich die unmittelbare Unabhängigkeit Taiwans als selbstständiger Staat zum Inhalt hätte, ist angesichts des von Beijing aufgebauten Drohpotenzials ebenfalls nicht durchführbar, sollten nicht unabsehbare politische und militärische Verwicklungen eintreten. Sicher ließe sich vorstellen, dass in einer anderen politischen Konstellation, konkret im Fall einer freien Abstimmung ohne außenpolitischen Druck Beijings, eine klare Mehrheit für die politische Unabhängigkeit Taiwans zustande kommen würde. Die Verhältnisse jedoch sind gegenwärtig nicht so. Von daher wird der momentane Schwebezustand wohl noch eine unbestimmte Zeit weiter gehen müssen.

Das „Ein-China-Prinzip“ steht für die Regierung in Beijing nicht zur Disposition. Kein politischer Führer in der VR China könnte eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Taiwans hinnehmen, ohne darauf nicht nur politisch, sondern auch militärisch zu reagieren. Beijing wird sich nicht mit Vertretern einer Unabhängigkeit Taiwans an einen Verhandlungstisch setzen. Von Taiwan her gesehen stellt sich die Frage natürlich ganz anders. Die offizielle Staatsdoktrin der Guomindang vertrat die Position, dass sie auch nach dem erzwungenen Rückzug auf Taiwan weiterhin die legitime Regierung Gesamtchinas darstelle. Anfänglich fand diese Position die Unterstützung des Auslands. Bis 1971 war Taiwan Mitglied der Vereinten Nationen, wo es offiziell als „Republik China“ auch den Platz Chinas im Weltsicherheitsrat inne hatte. Durch die außenpolitische Anerkennung der VR China, die mit immer mehr Regierungen diplomatische Beziehungen aufnahm, geriet Taipei in die Isolation. Die VR China machte es zu einem Grundsatz, dass diplomatische Beziehungen mit ihr nur bei Abbruch der Beziehungen zu Taiwan zu haben waren. Nur wenige afrikanische und einige lateinamerikanische Staaten haben wegen der handelspolitischen Vorteile – die Taiwan sich einiges kosten lässt – die diplomatischen Beziehungen beibehalten. In Europa ist es nur noch der Heilige Stuhl, der diese Beziehungen auf der diplomatisch niederen Stufe der Besetzung durch einen Geschäftsträger bestehen lässt, während Taiwan in Rom eine große Botschaft unterhält.

Die taiwanesische Kirche als „Brückenkirche“

Auf Taiwan selbst hat sich ebenfalls ein weitreichender Wandel der öffentlichen Meinung und im Verständnis der eigenen Identität ereignet. Erst unterdrückt und politisch verfolgt, haben die Gruppen in Taiwan, die eine eigenständige taiwanesische Identität fördern, Zulauf bekommen und sind nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Jahr 1987 zu einer einflussreichen Macht geworden, die mit dem Demokratisierungsprozess, der mit den ersten freien Parlamentswahlen 1992 begann, in immer stärkerem Maß die Debatte bestimmen. Das erklärte Ziel ist die staatliche Eigenständigkeit Taiwans bei gleichzeitigen guten Beziehungen zum Festland China in Handel und kulturellem Austausch.

Verglichen mit vielen anderen Ländern, die in den letzten Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit errungen haben, bringt Taiwan ausgezeichnete Voraussetzungen mit. Als Insel gibt es keine Probleme mit der territorialen Abgrenzung. Mit seinen 24 Millionen Einwohnern, seiner Wirtschaftskraft (Platz 20 in der Welt), seiner Stärke im Welthandel (15. Platz), sowie seiner führenden Position als Hersteller von Computerchips und Personalcomputern hätte Taiwan alle Voraussetzungen, sich als unabhängiger Staat in der Welt zu behaupten. In einem Interview mit dem Internationalen Fidesdienst (vgl. deutsche Ausgabe, 26. Mai 2000, Nr. 4189) im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl in Taiwan hat Kardinal Paul Shan, Erzbischof von Kaoshiung, die spezifische Mission der taiwanesischen Kirche gegenüber China als „Brücken-Kirche“ charakterisiert und sich dabei ausdrücklich auf Johannes Paul II. bezogen. Ziel müsse es sein, die Einheit der Kirche in China mit der Weltkirche wiederherzustellen und sich für Versöhnung einzusetzen. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe geht auf den Ad-limina-Besuch der taiwanesischen Bischofskonferenz im Jahr 1984 zurück, als der Papst in seiner Ansprache von der besonderen Brückenfunktion der taiwanesischen Kirche im Hinblick auf das Festland sprach. Danach wurde innerhalb der Bischofskonferenz Taiwans eine „Kommission für den Dienst einer Brückenkirche“ (Commission for Bridge Church Service) eingerichtet. Innerhalb der internationalen Gruppe der „China-Watchers“ und der vielen anderen kirchlichen Institutionen und Organisationen, die sich seit der Öffnungspolitik der VR China unter Deng Xiaoping mit den chinesischen Christen und Kirchen um partnerschaftliche Beziehungen bemühten, waren die taiwanesischen Christen zunächst Außenseiter. Lange Jahre hindurch hatten sie wie ihre übrigen Landsleute keine Gelegenheit, Festlandchina zu besuchen und postalische und andere Kontakte zu unterhalten. Mit den politischen Änderungen in Taiwan selber und innerhalb der VR China war es ihnen nun möglich, direkte Kontakte wiederherzustellen und auszubauen. Der „Dienst der Brückenkirche“ von Taiwan besteht seitdem vor allem darin, liturgische und theologische Literatur in chinesischer Sprache wie etwa Dokumente des II. Vatikanischen Konzils und andere Grundlagenwerke bereitzustellen. Theologische Lehrer aus Taiwan hatten die Gelegenheit, an Priesterseminaren auf dem Festland zu unterrichten. Auch an der Ausbildung von Ordensschwestern in China sind taiwanesische Ordensgemeinschaften beteiligt.

Seit nunmehr 40 Jahren wird die Zahl der Katholiken in Taiwan mit 300 000 angegeben. Spricht man mit Bischöfen und Priestern, wird eingeräumt, dass diese Zahl gewohnheitsmäßig auf der Grundlage der statistischen Angaben genannt wird, die Zahl der tatsächlich aktiven Katholiken aber wohl deutlich niedriger liegt. Rein demographisch gesehen müsste sich die Zahl der Katholiken in diesem Zeitraum verdoppelt haben, damit die Katholiken ihren Anteil an der Bevölkerung zumindest hätten halten können. Es bestehen allerdings in vielen Pfarreien Angebote für Taufbewerber (Katechumen), die zwar nicht überlaufen sind, aber doch immer wieder Interessierte anziehen. Zu Ostern dieses Jahres gab es wieder eine Reihe von Erwachsenentaufen sowohl in Pfarreien wie auch an katholischen Schulen und der Fujen-Universität. Die Anstrengungen für die Inkulturation und das Einheimischwerden der Kirche vor allem unter der Bergbevölkerung im Osten der Insel haben Früchte getragen. Das 1988 abgehaltene „Symposium für die Evangelisierung“ gab über mehrere Jahre hinweg wichtige Impulse für die missionarische und pastorale Arbeit der taiwanesischen Ortskirche. Besondere Anstrengungen wurden in der Ausbildung von Laien in der Pastoral unternommen. In der katholischen Kirche Taiwans stellen die Angehörigen der Bergbevölkerung, die nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung Taiwans ausmachen, mit fast 50 Prozent die große Mehrheit. Da ein Drittel der Katholiken der anderen Minderheit der nach 1945 eingewanderten Festlandchinesen angehört, wird deutlich, dass die Katholiken unter der eigentlichen Bevölkerung Taiwans, den Minnan und Hakka, nur sehr schwach vertreten sind.

Unter diesen Bevölkerungsgruppen sind die protestantischen Christen wesentlich stärker. Die Mitgliederzahl der protestantischen Kirchen wird insgesamt mit gut 400 000 angegeben und liegt damit deutlich über der der Katholiken. Mit 220 000 Mitgliedern ist die Presbyterianische Kirche die stärkste Gruppe. Durch ihr Eintreten für die Selbständigkeit Taiwans hat sie in der Bevölkerung einen starken Rückhalt und war in den Jahren der Militärdiktatur eine von den Machthabern immer wieder verfolgte Oppositionsgruppe. Die Presbyterianer haben immer deutlich gemacht, dass sie Taiwan – sie gebrauchen gerne den chinesischen Namen „Meilidao“, was übersetzt „schöne Insel“ heißt und den alten Namen „Formosa“ wieder aufgreift – als ihre Heimat verstehen. Einer ihrer Theologen, Wang Hsienchih, Professor an der theologischen Hochschule in Tainan, hat schon vor Jahren eine „Theologie des Heimatlandes“ entwickelt, die die Verbindung der presbyterianischen Christen mit Taiwan reflektiert. Der neue Präsident ist zwar selber kein Christ, hat aber als Anwalt häufig presbyterianische Christen vor Gericht verteidigt. Es ist daher verständlich, dass die Presbyterianer seine Wahl unterstützten.

In den langjährigen Verhandlungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Regierung der VR China waren die diplomatischen Beziehungen des Vatikan mit Taiwan, politisch korrekt ausgedrückt mit der „Republik China“, ein Dauerproblem. Die katholischen Bischöfe in Taiwan haben sich ihrerseits lange Zeit die Staatsdoktrin der Guomindang zu eigen gemacht, dass die „Republik China“ auch nach der Machtergreifung der Kommunisten und der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 durch Mao Zedong die legitime Regierung Gesamtchinas darstelle. Die Nuntiatur in Taipei galt daher ebenfalls als die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls für das gesamte chinesische Territorium. Das Image der katholischen Kirche war lange davon bestimmt, dass die Bischöfe und viele der Priester und Ordensleute vom Festland stammten und mental eher die offizielle Linie der Guomindang unterstützten. In einem offenen Brief an die „Bischöfe der Welt“ haben die Bischöfe Taiwans 1979 festgehalten: „In Gemeinschaft mit unserem Volk erklären wir, dass wir nur ein China, eine Kultur, eine Nation, ein Land anerkennen“. Im Rückblick nach gut 20 Jahren und im Zusammenhang mit der Diskussion um das „Ein-China-Prinzip“ ist dies eine bemerkens- und bedenkenswerte Aussage, die widerspiegelt, wie sehr die Bischöfe auf das Festland fixiert waren. Seit einigen Jahren hat sich diese Haltung geändert. Die Bischöfe Taiwans haben 1998 den Namen ihrer Konferenz von „Chinesischer Bischofskonferenz“ (Chinese Bishops‘ Conference) in „Regionale Katholische Bischofskonferenz Taiwans“ (Taiwan Regional Catholic Bishops‘ Conference) umgeändert. Der Zusatz „regional“ soll politische Spekulationen im Zusammenhang mit dem „Ein-China-Prinzip“ verhindern. Andererseits war der alte Name mehr als missverständlich geworden, weil es auf dem Festland sowohl eine „Chinesische Bischofskonferenz“ der offiziellen Kirche wie auch unter der gleichen Bezeichnung eine der „Untergrundkirche“ gibt.

Das ökumenische Miteinander hat sich spürbar verbessert

Anfang Februar 2000 hat zum ersten Mal ein offenes Forum über die Beziehungen Taiwan–Vatikan–China in Taipei stattgefunden, zu dem sechs katholische Organisationen und Orden eingeladen hatten. Bei dieser Begegnung von etwa hundert Priestern, Ordensleuten und Laien ging es in erster Linie um die Herausforderung, die Identität der Ortskirche in Taiwan auf dem Hintergrund der sich abzeichnenden Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen dem Vatikan und der VR China neu zu bestimmen. Die katholischen Christen in Taiwan sollen sich aktiver in der Gesellschaft engagieren und eigene Beiträge zur Entwicklung leisten. Nach seiner Wahl hat Präsident Chen Shuibian in einem handgeschriebenen Glückwunschschreiben zum 80. Geburtstag von Johannes Paul II., das Kardinal Paul Shan von Kaoshiung überbrachte, den Papst zu einem Besuch Taiwans eingeladen. Der frühere Präsident Lee Tenghui brachte sich ebenfalls mit einem Geschenk in Erinnerung. Das ökumenische Miteinander der christlichen Kirchen und Gemeinschaften hat sich in den letzten Jahren spürbar verbessert. Ähnlich wie auf dem Festland und von den Erfahrungen dort geprägt, hatten die christlichen Gruppen, die weitgehend vom Festland auf die Insel Taiwan kamen, mehr gegeneinander gearbeitet als sich um Zusammenarbeit bemüht. In der Zeit der Militärdiktatur fanden sich dann christliche Gruppen im Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte öfter im Einsatz und im Widerstand zusammen. Die zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen durch die rapide wachsende Industrialisierung brachte dann Formen der Kooperation zum Schutz der Umwelt mit sich. Eine langjährige Zusammenarbeit ergab sich bei der Studie über die Lebensqualität in der Bioregion Taiwan. 1991 kam es zur Gründung eines Nationalen Kirchenrats (NCCT), in dem 14 Kirchen oder kirchliche Organisationen zusammenarbeiten. In diesem Gremium ist auch die katholische Kirche Taiwans vertreten. Gegenwärtig ist der Erzbischof von Taipei, Joseph Ti Kang, der Vorsitzende des taiwanesischen Kirchenrats. Im Mai diesen Jahres war eine Delegation des NCCT in der Bundesrepublik, Großbritannien und Schweden zu Besuch.

Seit der Vollversammlung des ÖRK in Canberra 1991 sind sowohl die Presbyterianische Kirche Taiwans wie auch der Chinesische Kirchenrat (CCC) Mitglied in diesem ökumenischen Gremium. Der Chinesische Christenrat (CCC) in der VR China hat große Schwierigkeiten mit dem Selbstverständnis der taiwanesischen presbyterianischen Kirche, die ihre Verwurzelung in Taiwan zum Ausgangspunkt ihrer Position macht, dass die presbyterianischen Christen auf Taiwan frei über ihr Schicksal entscheiden wollen. Konkreter Streitpunkt ist dabei die Option für eine politische und staatliche Unabhängigkeit Taiwans, in der sich das Prinzip der „taiwanesischen Identität“ in der Kirchenverfassung der Presbyterianischen Kirche Taiwans konkretisiert. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Presbyterianische Kirche immer wieder zu Fragen der politischen Verhältnisse und der Zukunft Taiwans geäußert. Erklärungen wie „Erklärung über das nationale Schicksal“ (1971), „Unser Aufruf“ (1975), „Eine Erklärung zu den Menschenrechten“ (1977), „Öffentliche Erklärung über die Souveränität Taiwans“ (1991) und „Gegenwärtige Beziehungen zwischen Taiwan und China“ (1993) waren geprägt von theologischen Reflexionen über Taiwan als Heimatland der presbyterianischen Christen und der Verantwortung der Kirche, Anwalt der Unterdrückten zu sein. Durch die Identifikation mit den Anliegen der Bevölkerung Taiwans möchte die Presbyterianische Kirche das Image der christlichen Kirche als fremder Religion korrigieren.

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