Stellen Sie sich vor, Sie hätten in Ihrer Kindheit oder Jugend Missbrauch erlitten, diesen verdrängt und dennoch hätte er sich zerstörerisch in Ihre Seele und Ihren Leib eingefressen. Irgendwann kommen Ihre traumatischen Erfahrungen in Ihnen hoch, Sie überwinden Ihre Ängste und fassen schließlich den Mut, über Ihre Vergangenheit zu sprechen und aktiv gegen den Verbrecher vorzugehen – nur um anschließend in Kirche, Gemeinde und Gesellschaft auf Bagatellisierungsversuche, Ignoranz oder gar Anfeindungen zu stoßen. Eigentlich braucht es nicht allzu viel Einfühlungsvermögen, um sich vorzustellen, wie verheerend und retraumatisierend solche Dynamiken sind. Psychologen sprechen in einem solchen Zusammenhang von „sekundärer Viktimisierung“: Betroffene werden durch die Reaktion von Personen oder Institutionen zum zweiten Mal zu Opfern gemacht.
Ein besonders perfides Beispiel für ein solches Vorkommnis ist aktuell im oberpfälzischen Eslarn, dem Heimatort des Missbrauchstäters Pfarrer Georg Zimmermann, zu beobachten. Hier wurde nach einer Initiative des dortigen Betroffenenbeirats beschlossen, die nach dem verurteilten – im Ort jedoch immer noch beliebten – Täter benannte Straße umzubenennen. Daraufhin hatten die Anwohner ein Bürgerbegehren gegen die Änderung ins Leben gerufen und mehrere hundert Unterstützer mobilisiert. Sie begründeten ihr Vorgehen zum einen mit dem Verweis auf die angebliche „Besserung“ des Täters nach seiner Haft (obwohl dem Betroffenenbeirat laut Süddeutscher Zeitung gegenteilige Aussagen vorliegen), zum anderen mit dem durch die Änderung befürchteten bürokratischen wie finanziellen Mehraufwand.
Am Ende siegten Ignoranz und Bequemlichkeit: Weder dramatische Appelle des Betroffenenbeirats noch die Beteuerung des Bürgermeisters, auf die Änderungsgebühren zu verzichten, konnten die Anrainer von ihrem Ansinnen abbringen. So stimmten am Sonntagabend knapp 58 Prozent der Einwohner für das Beibehalten des Namens eines verurteilten Verbrechers. Mit diesem Entscheid werden die Betroffenen nun auf besonders schmerzvolle Weise erneut zu Opfern gemacht – diesmal durch gleichgültige Menschen, die es offenbar vorziehen, den Namen eines Missbrauchstäters in der Adresse zu führen und damit die Gefühle der Überlebenden mit Füßen zu treten, als einen kleinen Behördengang anzutreten.
Wie sollte es nach dieser Abstimmung nun weitergehen? Allen Betroffenen der Verbrechen von Georg Zimmermann ist zu wünschen, dass sie umfangreiche psychologische Betreuung erhalten, um diesen Schlag ins Gesicht halbwegs verkraften zu können, und dass das mediale Echo kritisch, laut und deutlich ausfällt. Für die besagte Straße sollte man entsprechende Maßnahmen überlegen: Man könnte aufklärende Hinweistafeln, mahnende Installationen oder Ähnliches anbringen. Und für die Anwohner, die sich der Umbenennung entgegengestellt haben, bleibt nur zu hoffen, dass sie irgendwann realisieren, was sie den Betroffenen mit ihrer Entscheidung angetan haben und dann vielleicht so viel Mitmenschlichkeit aufbringen können, sich bei den Opfern zu entschuldigen und einer Umbenennung schließlich doch zuzustimmen. Alternativen gäbe es ja zuhauf! Wie wäre es beispielsweise mit einer Doris-Reisinger-, Matthias-Katsch- oder Klaus-Mertes-Straße?