Was die Volkskirchen verlierenEin Lob auf die Lauen

Die Volkskirchen konnten lange Zeit ein breites Bevölkerungsspektrum binden, doch die Strukturen bröckeln. Das gefährdet ihre Glaubwürdigkeit.

In den biblischen Schriften kommt das Mittelmaß nicht gut weg. Weil sie „weder heiß noch kalt“ sind, speit Gott die Lauen aus (Offb 3,16). Und als hätte sich die gesellschaftliche Situation seit Entstehung des Neuen Testaments kaum verändert, durchzieht die Bekenntnisrhetorik auch unsere Zeit.

Erst kürzlich wieder in einer Predigt gehört: Die Krise der Kirche wäre halb so wild, würden die Leute nur überzeugter glauben. Die Menschen, die austreten, machten es sich zu leicht. Sähen nur die bröckelnde Fassade, hätten den Blick für die Schönheit im Inneren verloren. Vorbild für die Zukunft des Christentums müssten der kleine Kreis und das einmütige Gebet der Urgemeinde sein. Entscheidung und feuriges Bekenntnis – ist das die Lösung?

Der neidvolle Blick auf die vermeintliche Bekenntnisstärke der antiken Kirche übersieht zweierlei: Zum einen sind die frühchristlichen Texte nicht interessenfrei. Sie schreiben etwas herbei, was gerade erst im Entstehen ist, betreiben Religionspropaganda im besten Sinne. Zum anderen haben sich die Zeiten seitdem eben doch geändert. Und zwar gravierend: Wir können nur zum Preis der intellektuellen Selbstaufgabe in das geschlossene Weltbild der Antike zurück. Aufklärung und gesellschaftliche Liberalisierung lassen sich nicht ungeschehen machen – zum Glück.

Angesichts einer Welt voller Widersprüche ist die Versuchung zur Profilschärfung groß. Jedoch stoßen zu steile Überzeugungen die Mehrheit eher ab – siehe das Beispiel sich nach rechts anbiedernder Parteien ebenso wie evangelikaler Gruppierungen, die hierzulande zwar verstärkt aufkeimen, aber aller Statistik nach kein breites Phänomen werden. Der Gegenpart zum Lauen ist nicht etwa der Gläubige, sondern der Schwärmer, der Extremist. Und diesem begegnen moderne Gesellschaften aus gutem Grund mit Argwohn und Ablehnung.

Das Laue hat dagegen zu Unrecht ein schlechtes Image: Wer wäscht sich gern mit eiskaltem oder kochend heißem Wasser die Hände? Die temperantia, die Mäßigung, zählte einst zu den vier Haupttugenden: Im Mittelmaß verbinden sich die unangenehmen Extreme und werden handhabbar.

Das Christentum war gerade deshalb so erfolgreich, weil es als durch und durch laue Religion entstanden ist: Es verband vorhandene religiöse Strömungen zu einer neuen Einheit. Es verlangte keine rituelle Absonderung aus der heidnischen Gesellschaft und vermochte es, verschiedenste Milieus sowohl intellektuell wie emotional zu binden.

Auch die Volkskirchen konnten das: Sie forderten keine Totalidentifikation, kein tägliches Bekennertum. Hier konnte jeder dazugehören. Man ging sonntags zum Gottesdienst und ließ Gott darüber hinaus „einen guten Mann sein“, wie es so schön heißt. Im gleichen Maß, in dem die Kirche ihre gesellschaftstragende Größe einbüßt, verliert sie für die vielen „mittelmäßigen“ Gläubigen an Attraktivität. Das hat existenzgefährdende Folgen. Denn gerade die Mittelmäßigen schaffen es, in ihrem Leben Glaube und Alltag zu verbinden – weil diese nicht als Gegensatz erscheinen, sondern sich gegenseitig durchdringen. Mit jedem Lauen, der die Glaubensgemeinschaft verlässt, verliert sie ein unersetzliches Bindeglied zur Welt.

Die Austrittsgründe sind gewiss vielfältig. Neben den offensichtlichen zählt zu ihnen, dass die Kirche in ihren Moralansprüchen zu heiß und im Umgang mit den Menschen zu kalt ist. Weil sie es den Lauen unerträglich macht, kehren sie ihr den Rücken.

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