Seelsorge ist nicht Sozialarbeit,
sagt THORSTEN FREI.
So viel Sorge um den Zustand der Kirchen ist von kirchenfernen Menschen sonst eher selten zu hören. Selbst der Spiegel springt den Kirchen zur Seite. Ausgelöst wurde die Debatte von Julia Klöckner – einer ausgebildeten Religionslehrerin, die nicht nur katholische Theologie studiert hat, sondern auch stets eine besondere Nähe zur Kirche pflegt. Es ist ein Rollentausch der ungewöhnlichen Art und gibt einen ersten Hinweis darauf, dass die Bundestagspräsidentin den Finger in die Wunde gelegt haben könnte.
Wie politisch die Kirchen sein sollen, ist eine Frage, die schon lange, ja letztlich von Beginn der Kirchen an, diskutiert wird. Und natürlich sind es die Kirchen selbst, die diese Entscheidung für sich selbst treffen müssen. Fest steht aber, dass sich eine Kirche, die sich mehr und mehr tagespolitischen Themen nähert, auch als ein entsprechender Akteur behandelt wird. Parteien und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) müssen sich der Kritik, die auch mal hart formuliert sein kann, stellen. Sie können nicht den Anspruch erheben, sakrosankt zu sein. Ähnlich könnte es den Kirchen ergehen, wenn sie sich konkreten politischen Zielen verschreiben, die vielleicht nur von einigen ihrer Mitglieder geteilt werden.
Ich persönlich bekenne mich aus unterschiedlichsten Gründen zur katholischen Kirche. Letztlich ist sie für mich auch immer ein Ort der Geborgenheit. Ich lebe in dem Bewusstsein, dass sie mir im Zweifelsfall Sicherheit bieten könnte, wenn ich Halt suche. Ein Zufluchtsort für die Seele.
Das christliche Heilsversprechen richtet sich nicht auf diese Welt, und es unterliegt ganz gewiss nicht dem jeweiligen Zeitgeist. Die Bibelstellen, in denen Jesus vor den Pharisäern warnt, die ihr eigenes Spiel spielen und vorgeben, nur das Gute im Sinn zu haben, sollten uns eine Warnung sein.
Genau darin liegt die große Herausforderung für die Kirche: Sie muss den Menschen im Hier und Jetzt Halt bieten, ohne sich in den Stürmen der Tagespolitik zu verkämpfen. Die Seelsorge ist eben eine geistliche Begleitung und keine klassische Sozialarbeit.
Julia Klöckner hat es pointiert formuliert, als sie davon sprach, dass es das gute Recht der Kirchen sei, sich für das „Tempolimit 130“ einzusetzen – aber dafür zahle sie nicht unbedingt Kirchensteuer. Sie hat einen Punkt, wenn sie sagt, dass Kirchen ähnlich einer NGO austauschbar werden könnten, wenn sie sich zu sehr in der Tagespolitik verheddern, anstatt sich mit grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod auseinanderzusetzen.
Glaube muss konkret werden,
betont THOMAS SCHÜLLER.
Julia Klöckner weist den Kirchen eine ihr genehme Rolle zu: Sie sollen sich bitte um das Seelenheil kümmern, Gott loben und preisen und sich ansonsten aus tagespolitischen Debatten tunlichst heraushalten. Was der neuen Bundestagspräsidentin vorzuschweben scheint, ist eine Wohlfühlreligion, die politisch nicht weiter stört und dem Staat – praktischerweise – mit praktizierter Nächstenliebe auch noch viele Aufgaben abnimmt: in Kitas und Schulen, Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Sozialeinrichtungen.
Mit der künstlichen Trennung von „Sinnfragen“ zu Leben und Tod einerseits, tagespolitischen Beliebigkeiten andererseits verfehlt die studierte Theologin den ganzheitlichen Charakter der christlichen Botschaft. Klöckners Platzanweiser-Gestus wirkt parteipolitisch motiviert. Sie redet von angeblich überflüssigen Einlassungen der Kirchen zu Tempo 130. Aber im Sinn hat sie den Ärger über den Einspruch gegen den migrationspolitischen Kurs der Unionsparteien und gegen die gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD im Parlament.
Keine Frage: Je konkreter die Kirchen sich zur Asyl-, Sozial- oder – ja – zur Umweltpolitik äußern, aber auch zu den Grundfragen von Krieg und Frieden, von Leben und Sterben, desto mehr gilt für ihre Beiträge die Kraft des besseren Arguments. Sie haben weder einen Erkenntnisvorsprung noch einen privilegierten Anspruch auf Gehör. Sie müssen – im Gegenteil – die oft schwierigen Abwägungsprozesse respektieren und die daraus resultierenden Entscheidungen in demokratischem Geist akzeptieren.
Dennoch bleibt das Bekenntnis zu Jesus Christus im Glauben immer eine politische Provokation. Das Evangelium nimmt Partei für die Schwachen und Unterdrückten. Es durchkreuzt Machtmissbrauch, und es prophezeit den Mächtigen – im Magnificat der Gottesmutter Maria – den Sturz vom Thron. Der Apostel Paulus nennt dies den „Stachel im Fleisch“, Johann Baptist Metz spricht vom Evangelium als der „gefährlichen Erinnerung“ an einen mitleidenden, parteiischen Gott, der in der Geschichte wirkt. Ein unpolitisches Christentum wäre Verrat an Gott – und am Menschen.
Die kuschelige Nachkriegsallianz, in der dem Staat Wohlfahrt und Sicherheit für alle oblagen und die Kirchen für den ethischen Kitt sorgten, kommt an ihr Ende. Zeitenwende – auch im Staat-Kirche-Verhältnis. Zu Julia Klöckners Beruhigung: Die Kirchen werden den Menschen auch künftig beistehen „in Fragen, die Anfang und Ende des Lebens betreffen“. Sie werden verlässliche Partner des Staates bleiben. Aber sie werden die „Tagespolitik“ auch künftig nicht außer Acht, die neue Regierung nicht einfach gewähren lassen. Und sie werden den Kanzler und Vorsitzenden einer C-Partei mit der Frage konfrontieren, ob dieses C noch Gewicht hat.