MarienfrömmigkeitDie Knotenlöserin wird nicht arbeitslos

Die Zuordnung des Monats Mai zu Maria ist eine Frucht des 19. Jahrhunderts und dessen marianischer Begeisterung. Heute, scheint es, haben wir andere Sorgen. Aber genau deswegen ist eine neuerliche Zuwendung zur Herrenmutter wichtig.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat Maria als typus Ecclesiae, als Urbild der Kirche vor Augen gestellt, weil sie im Neuen Testament als die große, die exemplarisch Glaubende gezeichnet wird (Lumen gentium 53, 63, 65). Gerade darum wurde sie, fokussiert in zahlreichen Wallfahrtsorten, verehrt und angerufen als Hilfe der Christen (Passau), Mutter des Guten Rates (Genazzano bei Rom) oder Knotenlöserin (Augsburg). Gerade das um 1710 für Sankt Peter am Perlach von Johann Georg Melchior Schmidtner geschaffene Bild mit diesem Titel hat große Bekanntheit erreicht, seit man weiß, dass Papst Franziskus eine Kopie im Domus Sanctae Marthae, seiner Residenz, hat anbringen lassen. Die Lage der Kirche ist jedenfalls wirr genug, um nach jeder möglichen Entflechtung der Probleme Ausschau zu halten. Wir versuchen, anhand biblischer Aussagen über Maria einige Themen anzudeuten, die in der gegenwärtigen Situation durch eine neue Zuwendung zur Gestalt der Mutter Christi in neue Perspektiven gerückt werden.

„Eine Jungfrau Namens Maria“ (Lk 1,26f.): Eine aus dem Volk – Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals hat als wesentliche Ursache den Klerikalismus zutage gefördert, das heißt den auf die herausgehobene Stellung der Autoritätsträger sich berufenden Herrschaftsanspruch (vor allem) von Geweihten gegenüber den „einfachen Christen“. Im Kontrast dazu erscheint das Mädchen aus Nazareth als der Mensch, der sich auf kein einziges Privileg, keine einzige Prärogative beruft, sondern nichts sein will als „Dienerin des Herrn“, die sich ganz dem „Mächtigen“ zur Verfügung stellt und eben und allein deswegen ihre Stellung in der Kirche besitzt – das ist kurz und knapp der Gehalt des Magnificat (Lk 1,46–55). Maria ist Urbild einer Kirche, die eine Gemeinschaft von grundsätzlich Gleichen, eine communio aus der gnadenhaften Berufung Gottes ist. Alle sind gleicherweise, gleichermaßen Weggefährten zum gleichen Ziel kraft der gleichen Gnade.

„Mir geschehe, wie du gesagt hast“ (Lk 1,38): Schwester im Glauben – So müsste die Überschrift einer biblischen Mariologie lauten. Die 142 (von 7957) Verse des Neuen Testaments, in denen Maria vorkommt, kreisen alle um dieses zentrale Thema der Bibel insgesamt. Nur aus einer vertrauensvollen Hingabe an Gottes Willen vermag sie die zahlreichen Katastrophen ihres Lebens von der problematischen Schwangerschaft bis zur Zeugenschaft bei der Hinrichtung ihres Kindes zu ertragen. Das Zweite Vatikanum fasst zusammen: Sie ging „den Pilgerweg des Glaubens“ (Lumen gentium 58). Glauben aber ist in christlichem Verständnis extrovertiert, missionarisch, auf das Wohl der Mitmenschen bedacht. So gesehen, leidet die heutige Kirche tatsächlich an Glaubensschwund: Sie ist zu sehr introvertiert, auf den eigenen Nabel konzentriert. Sie ist wie Petrus, der vor dem Versinken im See Angst hat: kleingläubig (vgl. Mt 14,28–31) – und das ist ein an Schärfe nicht zu überbietender Vorwurf des Meisters. Nur der Glaube hält über Wasser.

„Wie soll das geschehen?“ (Lk 1,34): Denken – Das Lukasevangelium stellt die Herrenmutter nicht als unterwürfige, willenlose Frau dar, sondern als eine Persönlichkeit, die zwar Gottes Ansage als entschlossen Hörende gegenübersteht, doch sie gleichzeitig mit rationaler Schärfe überprüft (vgl. Lk 1,34; 2,19.51).

Die Kirche hat sich immer mehr in eine Abschottungshaltung begeben. Deshalb wäre der tätige Mut zur Reform die angemessene Form aller Marienverehrung: im Mai und alle Tage.

Ihre Grundhaltung ist der Dialog. Denn Glauben wirft Fragen auf, und Fragen sind menschlich, also unter Nutzung des eigenen Verstandes in der Gemeinschaft der Glaubenden zu beantworten. Dieser Erkenntnis ist die Kirche seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr wirklich gefolgt. Hatte sie sich bei der Begegnung mit den Kulturen immer mit diesen ins Gespräch gebracht und gerade so ihre eigene Position einbringen können, begibt sie sich in der Neuzeit mehr und mehr in eine Wagenburg-Haltung der Abschottung, des universalen „Antimodernismus“ und – als Folge – der Ablehnung der fortschreitenden Erkenntnisse in der Wahrheit. Der „Fall Galilei“ ist der sprichwörtliche, aber nicht der einzige Kasus der Gesprächsverweigerung. Die Kirche hat auf solche Weise den Mut zum Glauben an die Einheit und Wahrheit Gottes des Schöpfers und des Erlösers verloren.

„Sie haben keinen Wein mehr“ (Joh 2,3): Empathie – Zu den Ruhmesseiten der Kirchengeschichte gehört der Einsatz der Christenmenschen für die Armen, Entrechteten, Kranken, Verlassenen. Von der Klostermedizin bis zu den Sterbehospizen haben sie oft Pionierarbeit geleistet. Der moderne Sozialstaat wäre anders kaum denkbar. Trotzdem zeigt sich bei den Glaubenden in der Kirche ebenso auch eine oft erschreckende Gefühlsarmut gegenüber den Benachteiligten. Sie offenbarte sich unverhüllbar im Umfeld des Missbrauchsskandals. Wenn ihn die Kirchenoberen überhaupt zur Kenntnis nehmen wollten, dann einzig unter dem Aspekt des Zölibatsvergehens des Täters und der daraus sich ergebenden Befleckung der reinen Weste der Kirche. An das Leid der Opfer dachte entsetzlich lange niemand. Erst seit dem 8. Dezember 2021 ist im neuen Strafrecht des Kirchenrechtsbuches sexuelle Übergriffigkeit ein Delikt gegen „Leben, Würde und Freiheit des Menschen“ (can. 1398). Gerade im Bereich von Sexualität, Ehe und Familie erscheint die Hierarchie nach wie vor menschenverachtend. Die Evangelien hingegen zeichnen Maria von Nazareth als Personifizierung der compassio, des Mit-Leidens. Sie schildern insgesamt fünf Szenen, in denen sie mit den Mitmenschen in Kontakt tritt (Mk 3,31–35 par.; Joh 1,39–56; 2,1–12; 19,25–27; Apg 1,14). Ihr Motiv ist stets die Sorge für die anderen. Am anrührendsten ist ihr Verhalten auf der Hochzeit zu Kana. Da geht es um keine existenzielle Not, um keine erschütternde Katastrophe, sondern um ein wenig Glück für zwei Verliebte. Genau das aber brauchen diese. Es ist bezeichnend, dass diese Liebesfähigkeit und Liebenswürdigkeit ihres Wesens bestimmend für eine von grenzenlosem Vertrauen getragene Marienverehrung in der Christenheit geworden ist. Spätestens seit dem 4. Jahrhundert sind sich die Christinnen und Christen einig: „Man hat es noch niemals gehört, dass jemand, der zu dir eine Zuflucht genommen hat, … von dir verlassen worden sei“ („Memorare“, fälschlich Bernhard von Clairvaux zugeschrieben).

Auch die flüchtigste Besichtigung der kirchlichen Lage zeigt: Es gibt derzeit vertrackt viele Knoten an einer langen Schnur. Es scheint: So viele wie nie zuvor Die Knotenlöserin wird nicht arbeitslos. Im Blick auf sie darf man vertrauen, dass die Kirche auf dem mühseligen, von innen wie von außen gefährdeten Pilgermarsch, also auf synodale Weise, glücklich vorankommen wird. Der tätige Mut zur Kirchenreform ist die heute angemessene Form aller Marienverehrung – im Mai und alle Tage.

 

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

Der CiG-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen CiG-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten. Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.