365 Tage hat das Kalenderjahr. Die römisch-katholische Kirche bezeugt in ihrem Verzeichnis der Heiligen, Märtyrer und Märtyrerinnen mehr als 14000 Personen – Tendenz (je nach Pontifikat) steigend. Selbst wenn man das Gedenken der Heiligen großzügig auf die Tage des Jahres aufteilen würde, käme man – noch ohne Auslassung des Weihnachts- und Osterfestkreises, der Feste des Herrn und der Marienfeiertage – auf mehr als 38 Personen, die pro Tag ihren offiziellen Platz in der Liturgie und dem (Stunden-)Gebet hätten. Warum das nicht der Fall ist und wie die römisch-katholische Kirche dennoch eine so große Zahl an Vorbildern und Fürsprecherinnen im Glauben verehren kann, zeigen zwei aktuelle Dekrete der vatikanischen Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung.
Große Errungenschaften
Vor wenigen Tagen ließ Papst Franziskus drei neue Gedenktage in den liturgischen Generalkalender des römischen Ritus einschreiben und dort offiziell verankern. Mit diesem Akt wurden eine Frau und zwei Männer in den Kalender aufgenommen, die im Mittelalter und am Übergang zur Neuzeit lebten und für jeweils große Errungenschaften in Kirche und Theologie stehen: die Benediktinerin und Äbtissin Hildegard von Bingen († 1179), der armenische Abt und Mystiker Gregor von Narek († um 1005) und der spanische Prediger und Missionar Johannes von Ávila († 1569). Alle drei verehrt die römische Kirche schon länger als Heilige, und allen dreien hat sie zu unterschiedlichen Anlässen den Ehrentitel der Kirchenlehrerin oder des Kirchenlehrers zuerkannt. Warum also erhalten sie (erst) jetzt einen offiziellen Gedenktag im Kirchenjahr?
Ein Akt der Bestätigung
Zur Beantwortung dieser Frage hilft ein Blick auf jenes Verfahren – oder besser: jenen liturgischen Akt –, der in der deutschen Sprache etwas unglücklich als „Heiligsprechung“ bezeichnet wird: das Kanonisationsverfahren. Der kirchliche Akt der Kanonisation macht eine Person nicht zur / zum Heiligen, er spricht ihr also nicht irgendeine besondere, gar moralische Qualität zu, die sie vorher nicht hatte. Es ist vielmehr ein Akt der Bestätigung, ja der Auszeichnung höchsten Ranges: Der zuständige Ortsbischof und – seit dem 13. Jahrhundert – der Papst tragen durch die Kanonisation einer Person dafür Sorge, dass seine / ihre Bekanntheit und Verehrung nicht nur lokal oder regional begrenzt bleibt, sondern dass sie / er der ganzen Kirche an allen Ecken und Enden der christlichen Oikumene (das heißt der ganzen Welt) bekannt und vertraut werde.
Aber – so könnte man einwenden: In Zeiten von Wikipedia und ständiger Abrufbarkeit von online aufbereiteten Informationen braucht es solche Netzwerke gar nicht mehr – ja es gibt heute, etwa durch die sozialen Medien, weit effizientere Methoden, Leute und ihr Wirken bekannt zu machen. Blickt man aber insbesondere auf die Kanonisationspraxis der Kirche im ersten Jahrtausend, dann zeigt sich, dass es um mehr als um „darum wissen“, „bekannt sein“ geht: Bevor sich der Begriff „Kanonisation“ als Fachausdruck etabliert hatte, gab es (und gibt es bis heute) eine andere Formulierung, die dasselbe – aber deutlicher und emotionaler – zum Ausdruck bringt: Die Gebeine des / der verstorbenen Heiligen werden „zur Ehre der Altäre erhoben“.
Prägemal der Papst-Politik
Ja, die / der Heilige soll der weltweiten Kirche bekannt werden – aber nicht zum Selbstzweck, nicht nur für möglichst viele Likes und Followers aus der Ferne, sondern mit der konkreten Verantwortung, dieser/m Heiligen einen Platz im Gebet der Kirche, der Gläubigen zu geben. Dazu gibt es das kirchliche Glaubensgut des sogenannten „Kanon der Heiligen“ (daher auch der Begriff der Kanonisation), das heißt: der Gemeinschaft all derer, die die römisch-katholische Kirche als Heilige verehrt. Und dieser Kanon, dieser in der christlichen Tradition als Schatz bezeichnete „Ort“ ist mit 14000 Personen noch nicht ausgelastet…
Kanon und liturgischer Kalender der Kirche sind – so sehen wir jetzt – nicht identisch. Letzterer ist neben seiner offensichtlichen liturgischen Funktion ein nicht minderes Politikum. Denn welche Personen darin Aufnahme finden, welches Geschlecht (bisher äußerst wenige Frauen), welchen Stand (Klerus oder Laien), welche Herkunft (bisher Europa-zentriert) und welche kirchlich-hierarchische Position diese haben, ist grob unausgewogen. Der Beschluss von drei neuen Gedenktagen – und einer Erweiterung eines bestehenden um die biblische Person Maria, Schwester der Martha – ist daher keine liturgische Marginalie, sondern Prägemal der aktuellen Kirchenpolitik, wie Papst Franziskus sie vorantreibt. Es lohnt vor diesem Hintergrund einmal mehr, die drei Kirchenlehrerinnen und Kirchenlehrer zu studieren und sich auf Spurensuche danach zu begeben, was ihre Präsenz im Kalender der Kirche verändern, korrigieren, mutig erneuern und auf Zukunft hin bedeuten kann.