Arnold Angenendt (1934-2021)Religion fällt nicht vom Himmel

Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt ist gestorben. Einer seiner Schüler erinnert sich.

Ich bin dankbar für mein Leben.“ Diesen Satz hat der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, der vor wenigen Tagen 86-jährig in Münster verstorben ist, während der vergangenen Jahre und bis in die letzten – von Parkinson beschwerten – Wochen seines Lebens hinein stets wiederholt. In diesen Dank schloss er manchen Zufall ein, der für sein Leben eine zukunftsweisende Bedeutung hatte: Seit seinem 60. Geburtstag sprach er oft von der Befreiung seines niederrheinischen Heimatdorfes Asperden durch die Briten, die er als Kind miterlebt hatte. Ihm war bewusst, wie viel Glück er und seine Familie gehabt hatten, dass dabei niemand zu Tode gekommen war. In diesem Erlebnis wurzelte auch seine Grundüberzeugung, dass sich für den Frieden unter den Menschen jede Mühe lohnt. Zudem votierte er immer wieder für die Öffnung nationaler Grenzen und für die Infragestellung von Ressentiments gegenüber Fremden und Fremdem.

„Jeder Mensch ist Mensch!“, hat er oft gesagt, um für ein gedeihliches Miteinander zu werben. Er selbst hatte erlebt, wie lebensförderlich diese Grundhaltung ist: in seinen Kinderjahren nahe der Grenze zu den Niederlanden, dann als Schüler auf dem katholischen Elite-Gymnasium Gaesdonck, später als Wissenschaftler mit Stationen in Toronto, Paris oder Princeton. Beständig warb er als Professor der Kirchengeschichte seit 1976 an der Universität Bochum und seit 1983 an der Universität Münster für das Kennenlernen anderer Länder und Kulturen: in seinen von eigener Erkenntnisfreude geprägten Vorlesungen ebenso wie auf seinen äußerst beliebten Exkursionen mit Studierenden ins In- und Ausland. Wer ein guter Theologe, eine gute Theologin werden will, so war er überzeugt, muss viel gelesen und ebenso viel gesehen und erlebt haben.

Immer wieder fragte er als Forscher und akademischer Lehrer, wie Menschen unter aus heutiger Sicht fremd anmutenden Verstehenshorizonten ihr Leben sinnhaft gestalteten. Warum lebten Menschen ausgerechnet in der bevölkerungsarmen und auf das eigene Dorf bezogenen Welt des Frühmittelalters die biblischen Berufungsworte (vgl. etwa Gen 12,1ff.) buchstabengetreu, indem sie die Heimat verließen und ohne Navigationssystem, ohne befestigte Wege und ohne jeden persönlichen Schutz über Hunderte von Kilometern zu Fuß oder sogar per Schiff in die Fremde zogen? Wie konnte es dazu kommen, dass die Frauen, denen Jesus doch die gleiche Würde wie den Männern zugesprochen hatte, spätestens ab dem Frühmittelalter als das untergeordnete Geschlecht galten? Welche Rolle spielten kultische Reinheitsideale beim Aufbruch zu den Kreuzzügen? Wenn Arnold Angenendt seine facettenreichen Antworten auf derartige Fragen entwickelte und dabei gegenläufige Strömungen mitbedachte, war ihm nichts so fremd wie Menschen, die auf der Basis heutiger Plausibilitäten mit vorschnellen Antworten bei der Hand waren. Dann konnte er auch schon einmal mahnen: „Seien Sie immer auf der Hut, dass Sie die Menschen fremder Epochen nicht mit heutigen Maßstäben beurteilen!“

Der bedeutendste wissenschaftliche Beitrag Arnold Angenendts liegt darin, dass er Erkenntnisse aus der französischen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Forschung aufnahm und sie mit Einsichten aus der Religionsgeschichte verband, um all das für die Kirchengeschichte fruchtbar zu machen. Diese richtete er damit im Sinne einer Geschichte des Christentums inhaltlich neu aus und machte sie innerhalb wie außerhalb der Theologie wissenschaftlich anschlussfähig und attraktiv. Dafür ehrten ihn die schwedische Universität Lund mit der Ehrendoktorwürde und die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften mit der Aufnahme als ordentliches Mitglied.

Der bedeutendste Beitrag Angenendts: Er nahm Erkenntnisse der französischen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Forschung auf und verband sie mit Einsichten aus der Religionsgeschichte.

An immer neuen Beispielen aus unterschiedlichen Epochen vor allem der mittelalterlichen Christentumsgeschichte zeigte Arnold Angenendt, dass das religiöse Leben nie einfach vom Himmel fiel, sondern von einem sich beständig wandelnden Bedingungsgefüge abhängig war. So bezog er Faktoren, die sich in der Geschichte unterschiedlich schnell verändern – etwa Klima, Bevölkerungsdichte, Bildungslevel – in seine Forschungen ein und fragte jeweils nach der Prägekraft dieser Größen für die alltägliche Religiosität der Menschen. Ebenso untersuchte er umgekehrt, wie die Religiosität einer Epoche auf die Sozialgeschichte – also auf die Wirtschaft, das Bildungswesen oder die Schriftlichkeit – zurückwirkte.

Mit diesem Zugang legte Angenendt im Laufe der Jahre eine Vielzahl meist epochenübergreifend ausgerichteter, international beachteter Untersuchungen vor: zu Heiligen und Reliquien, zu Sexualitäts- und Familienvorstellungen oder zu Toleranz und Gewalt. Darin findet sich auch manches, was er offensiv und orientierend in die öffentliche Diskussion über die Geschichte von Christentum und Kirche einspeiste – bisweilen auch als Argumente gegen klerikale Verengungen und fundamentalistische Versuchungen in den eigenen Reihen.

Zu seinem Leben gehörte auch, dass er sich selbst gern von neuen Einsichten packen ließ: kaum ein Tag ohne ein gelesenes Buch, kaum ein Tag ohne eine geschriebene Zeile – so gestaltete Arnold Angenendt seine Zeit. Umso mehr freute er sich, wenn er Menschen, die ihm zuhörten, neue Horizonte eröffnen und ihnen „Aha“-Erlebnisse bescheren konnte. Einer Gruppe von Studierenden erläuterte er im niederländischen Museum Kröller-Müller bei Arnheim vor einem Bild von Vincent van Gogh, wie man es anschauen und seinen Blick ausrichten muss, damit sich die vordergründige Ansammlung von gemalten Strichen vor dem inneren Auge in eine tiefenscharfe Perspektive verwandelt. Für ihn waren solche gemeinsamen Erlebnisse „Genuss pur“. Besonders liebte er in der Geschichte der Malerei die Stillleben, also Gemälde aus der Zeit ab dem 17. Jahrhundert, auf denen Blumen oder Früchte, Gläser oder Instrumente zu sehen sind. In ihnen entdeckte er etwas von seiner persönlichen Lebensauffassung und Lebensfreude: Auf der einen Seite zeigen diese Gemälde die Kostbarkeit der seltenen Blumen oder Früchte, auf der anderen Seite die im Bild spürbare Begrenztheit dieser Fülle angesichts eines nur noch halb vollen Weinglases oder einer bereits halb heruntergebrannten Kerze. „Lebensfreude – das ist das Verkosten des Schönen im Wissen um seine Begrenztheit“, so fasste Arnold Angenendt zusammen.

Ich selber habe ihn immer als besonders anregend empfunden, wenn er darüber reflektierte, ob die von ihm erforschten historischen Entwicklungen eine möglicherweise unverzichtbare Bedeutung für die Gegenwart haben könnten. So zeigte er sich gewiss: „Die Geschichte gibt Auskunft über die ethische Gewordenheit des Menschen.“ Derartige Erkenntnisse brachte er auch als Priester und mitreißender Prediger ein, wenn er auf die Bedeutung der Innerlichkeit, den Wert von Meditation und Gebet, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die zivilisationsprägende Kraft von christlicher caritas und Totensorge zu sprechen kam.

„Die Haltung eines Christen gegenüber einem verstorbenen Mitmenschen ist geprägt durch Dank“, hat Arnold Angenendt als Historiker und Theologe oft gesagt. Gründe zum Danken für sein schöpferisches Leben, das nun eine letzte Grenze überschritten hat, gibt es reichlich.

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