Kreuzverehrung oder Trimm-dich-PfadDie Kniebeuge des Peter Handke

Was dem einen eine sportliche Übung, ist dem anderen eine Geste der Ehrfurcht. Ein Blick in die Notizen „Vor der Baumschattenwand nachts“.

Peter Handke notierte in seinen Tagebuchaufzeichnungen „Vor der Baumschattenwand nachts“: „Ein Einsamer beim Kniebeugen. Vor einem Wegkreuz? Nein, es ist ein Trimmpfad.“ Beim flüchtigen Lesen ist man geneigt, diese Beobachtung zu überblättern. Aber ein zweiter Blick zeigt, dass in dieser Aufzeichnung auf knappstem Raum eine Verschiebung festgehalten ist, die für unsere Kultur bedeutsam ist. Das Wort „Kniebeuge“ ist mehrschichtig. Es bringt, was kaum je wahrgenommen wurde, Religion und Sport zusammen. In der Religion ist das Beugen der Knie eine Geste der Ehrfurcht vor dem Allerheiligsten – etwa, wenn Katholiken das ewige Licht vor dem Tabernakel brennen sehen, innehalten und beim Betreten der Kirchenbank eine Kniebeuge machen. Im Sporthingegen gehört dieselbe Geste zum üblichen Gymnastikprogramm.

Trimm dich – Kreuzweg

Peter Handkes spontaner Reflex, als er unterwegs den „Einsamen“ Kniebeugen verrichten sieht, geht ins Religiöse: „Vor einem Wegkreuz?“ Die Kniebeuge – ein Zeichen der Sammlung und Andacht? Doch der einstige Klosterschüler, dem die Gesten der Liturgie in Fleisch und Blut übergegangen sind, muss sich selbst berichtigen: Auf einem Trimmpfad!

Interessant ist, dass sowohl der Kreuzweg als auch der Trimmpfad auf den Wegcharakter des menschlichen Lebens Bezug nehmen. Der Mensch ist Homo viator. Er beginnt seinen Weg, ohne gefragt worden zu sein, ob er will. Und er läuft seine Bahn bis zum Tod, den er ebenfalls nicht in der Hand hat. Dazwischen gibt es Stationen, die er bewältigen muss, oft aber nur mit fremder Hilfe bewältigen kann.

Die vierzehn Bilder des Kreuzwegs stellen dem Vorübergehenden die Passion Jesu verdichtet vor Augen. Memoria, meditatio und imitatio – Gedächtnis, Betrachtung und Nachahmung lauten die Vorzeichen frommer Lebenskunst. Die Erinnerung an das Leiden und das betrachtende Verweilen vor den einzelnen Szenen, die von der Verurteilung durch Pilatus bis hin zur Grablegung reichen, blieben unvollständig ohne zumindest den Versuch einer Nachahmung im eigenen Leben. Daher der Appell, man möge das eigene Kreuz auf sich nehmen und die Herausforderungen des Lebens mit Blick auf Christus bestehen. Die Stationen eines Trimm-dich-Pfads bieten hingegen ein abwechslungsreiches Programm von Übungen, das den Sportler trainiert und an körperliche Grenzen führen kann.

„Andacht! Mehr Andacht...“

Die zufällige Alltagsbeobachtung Handkes muss nicht, aber sie kann als Gleichnis gelesen werden: Der Kreuzweg, das wird man nüchtern eingestehen, scheint heute vielerorts Trimm-dich-Pfaden Platz gemacht zu haben. Religion, die auf Sammlung zielt und den Menschen über sich hinausführt, ist auf dem Rückzug. Ein anderer Kult breitet sich aus, der die Modellierung des Körpers betreibt. Jung, fit und schön sein, lautet der Leitspruch. Aber hier droht der Kommentar in eine kulturpessimistische Falle zu tappen: Von einer Säkularisierung des Heiligen oder von Sport als Ersatzreligion ist in Handkes Aufzeichnung nicht die Rede. Er protokolliert nur, was er sieht – und überlässt es dem Leser, das von ihm Gesehene und Festgehaltene zu deuten.

Allerdings ringt auch Peter Handke, der gerne zu Fuß unterwegs ist, immer wieder um Aufmerksamkeit: „Andacht! Mehr Andacht, Eingedenksein in deinen Alltäglichkeiten!“, ruft er sich selber zu („Vor der Baumschattenwand nachts“, 2016). Dabei richtet er sein Augenmerk auch auf den Gekreuzigten: „Ich habe den Gekreuzigten in mir – bin seiner nur gar oft nicht eingedenk.“ Das Bild des entstellten Corpus crucifixi, das der Betrachter durch häufige Betrachtung verinnerlicht hat, steht quer zu den Idolen, die in Lifestylemagazinen ihre makellosen Körper zur Schau stellen und um die Blicke der Leser buhlen. Warum aber des Gekreuzigten eingedenk sein? Ist er nicht hässlich und abstoßend?

Sein Bild zeigt etwas, was sonst gerade nicht gezeigt wird. Es macht etwas sichtbar, was sonst unter der Wahrnehmungsschwelle bleibt: Die Leidenden und Verlassenen, die ans Bett Gefesselten und im Todeskampf Liegenden, die Misshandelten und zu Unrecht Geschundenen – haben sie Raum im Denken? Gibt es einen Ort für sie in der Sprache? Peter Handkes Schreiben gibt ihnen Raum: „Der Kreuzweg der Heutigen im Sterben: im Liegen, und Liegen, und Liegen.“

Compassio mit Zorn

Aber das Eingedenken fremden Leids in den Krankenzimmern der Kliniken und den Sterbezimmern der Altenheime ist nicht alles. Der Dichter bringt auch die Verbindung zwischen sich, dem Betrachter, und dem Gekreuzigten selbst ins Wort. Er spricht vom Aufwallen eines Drangs, das abgründige Mysterium des Kreuzes gegen die Erklärungswut mancher Interpreten zu schützen: „Das Gefühl für das Leid des Gekreuzigten wappnet mich mit Zorn gegen die Vernünftler“, so in den früheren Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ (2007). Hier wird der Einbruch einer doppelten seelischen Anspannung festgehalten. Die Compassio, das Mitleiden mit dem Gekreuzigten, setzt einen zornigen Abwehrreflex gegen die „Vernünftler“ frei, die das Geheimnis des Kreuzes offensichtlich vorschnell in ihre Maßstäbe pressen und es gerade so verflachen und verfehlen. „Nieder mit den Denksportlern“, heißt eine andere polemische Notiz. Was aber wäre das: das Geheimnis des Kreuzes, das die „Vernünftler“ verflachen und verfehlen? Und wer wären die „Denksportler“, die Peter Handkes Zorn auf sich ziehen? Und wie wäre das Mysterium des Kreuzes unverkürzt zur Sprache zu bringen, so dass es die Menschen in ihren Lebenslagen heute erreicht?

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