JHWH: Archäologie auf den Spuren GottesWer ist der „Ich bin, der ich bin“?

Historiker und Religionswissenschaftler versuchen JHWH, dem geheimnisvollen Gott im brennenden Dornbusch, mit moderner Quellenforschung und historisch-kritischer Bibelexegese auf die Spur zu kommen. Ihre Ergebnisse überraschen – und können erschüttern.

Auf die Frage, wer sie ist, antwortet die Stimme aus dem brennenden Dornbusch im Buch Exodus mit dem berühmten Ausspruch: „Ich bin, der ich bin“ (3,14). Mose scheint diese Antwort gereicht zu haben, aber zahllosen Religionswissenschaftlern und Theologen gibt der Gott des Alten Testaments noch immer Rätsel auf. Wo trat er das erste Mal in Erscheinung? Wer waren seine Gläubigen? Und was unterscheidet ihn von den zahllosen anderen Göttern, Geistern und Dämonen der Region?

Der Bibelforscher Christian Frevel hat in der Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ (2/2019) jetzt die Geschichte dieses Gottes nachgezeichnet. Ein wichtiger Anhaltspunkt ist dabei der Name aus dem Dornbusch: JHWH. Spannender als die zahlreichen späteren Übersetzungen ist die Herkunft des Wortes. Laut Frevel stammt es aus dem Altnordarabischen und bedeutet ursprünglich „Er fährt durch die Lüfte, er weht“. Das Tetragramm, also dieses aus vier Konsonanten bestehende Wort, lässt damit auf die Vorstellung eines „antiken Wettergottes des Baal-Hadad-Typus“ schließen. In den Quellen kann diese Bezeichnung für Gott bis ins 14. Jahrhundert vor Christus zurückverfolgt werden. Historische Listen aus einem ägyptischen Tempel erwähnen die Volksgruppe der Schasu-Jahu als „Unruhestifter“ im ägyptischen Herrschaftsgebiet. Schasu ist eine ägyptische Bezeichnung für die Halbnomaden und bedeutet „durchwandern, durchschreiten“. Bei Jahu handelt es sich um eine Ortsangabe, die klar machen sollte, um welche Region es sich handelt – wahrscheinlich ein Gebiet östlich des Araba-Grabens, im heutigen Grenzgebiet zwischen Israel und Jordanien, oder in Nordarabien.

Dass es eine Verbindung zwischen dem Name JHWH und dem Gebiet Jahu gibt, ist zwar nur eine Vermutung, „aber doch eine in der alttestamentlichen Wissenschaft … sehr breit akzeptierte“. Immerhin könnte es ein erster Hinweis auf den Ursprungsort des JHWH-Glaubens sein. In der Bibel finden sich andere Orientierungspunkte. So heißt es im Buch Deuteronomium: „Der Herr ist vom Sinai gekommen und ist ihnen aufgeleuchtet von Seïr her. Er ist erschienen vom Berge Paran her und ist gezogen nach Meribat-Kadesch“ (33,2). Zwar lassen sich die genannten Regionen heute nicht mehr genau zuordnen, sie weisen aber in eine bestimmte Richtung. Aufgrund dieser und ähnlicher Stellen wurde JHWH – so Frevel – lange „mit dem tiefen Süden verbunden“.

Gott des Nordens?

Allerdings vermuten einige Bibelwissenschaftler hinter diesen geografischen Angaben mehr politisches Kalkül als eine echte historische Aufzeichnung. „Warum legt die Bibel so großen Wert darauf, dass JHWH nicht aus dem Norden kommt?“, fragt Frevel. „Vielleicht, weil es doch so war?“ Tatsächlich könnte die enge Verbindung Gottes mit dem Süden eine Strategie judäischer Gelehrter gewesen sein, um die Herkunft JHWHs aus dem Nordstaat Israel zu verschleiern und eine Nähe zum Südstaat Juda anzudeuten. Endgültige Aussagen über den Ursprung des alttestamentlichen Gottes lassen sich heute nicht mehr treffen.

Die bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstandene „Midianiterhypothese“ versucht, das Problem auf Grundlage der biblischen Quellen zu lösen. In der Exodusgeschichte begegnet Mose JHWH, als er die Schafe seines Schwiegervaters, eines midianitischen Priesters, hütet. Der Dornbusch wird in Midian lokalisiert und „das Ursprungsgebiet des Gottes JHWH“ auf einen Umkreis von etwa hundert Kilometern im heutigen israelisch-jordanischen Grenzgebiet eingeschränkt. Frevel argumentiert, dass der Exodus eine der wenigen Bibelstellen ist, die Midian – trotz der historischen Feindschaft zu Israel – in einem positiven Licht zeichnet und in die Nähe des biblischen Gottes rückt. Das könnte für die „Midianiterhypothese“ sprechen. Zumal die Midianiter als „nicht leicht zu fassende, tribal organisierte soziale Größe“ in der Darstellung in den ägyptischen Tempeln durchaus zu den Schasu gezählt werden könnten.

Inzwischen gilt als gesichert, dass die Gruppe auch semitisch sprechende Bevölkerungsteile einschloss, die sich in Ägypten niedergelassen hatten. Die Theologin Helga Kaiser unterscheidet zwischen verschiedenen Gruppen, die entweder als Hirtennomaden und Wirtschaftsflüchtlinge in Ägypten einwanderten oder als Kriegsgefangene verschleppt wurden. Einiges spricht dafür, dass diese „Proto-Israeliten“ zur überlieferten Zeit auf ägyptischen Großbaustellen arbeiteten. Die Bibel gibt dem Pharao, der das Volk Gottes nach zehn Plagen ziehen lässt, zwar keinen Namen, liefert aber andere Hinweise auf die historische Verankerung der Exodusgeschichte. So wird berichtet, welche Städte die Arbeiter zu errichten hatten – die Ramses-Stadt, die ehemalige ägyptische Hauptstadt, und Pitom (Ex 1,11). Aus Bauaufzeichnungen lässt sich das 13. und 12. Jahrhundert vor Christus als ungefährer Zeitraum für die erste Begegnung des Mose mit seinem Gott und für das Auszugsereignis ermitteln.

Ein Gestirnsgott war vorher da

Löst man sich von den biblischen Quellen, wird die Lösung des Rätsels allerdings schwieriger. Moderne Forscher gehen davon aus, dass das Exodus-Buch erst mit mehreren hundert Jahren Abstand zur Flucht aus Ägypten geschrieben wurde und daher nicht mehr als gewisse „geografische Erinnerungen“ enthalten kann. Für die Person des Mose, als Mittler zwischen JHWH und seinen Gläubigen, sieht die Quellenlage noch düsterer aus. In ägyptischen oder anderen außerbiblischen Schriften der Zeit taucht er nicht auf. Versuche, ihn mit historisch verbürgten Würdenträgern zu identifizieren, scheiterten. Dagegen lässt sich recht eindeutig nachweisen, dass Moses Geburtsgeschichte als ausgesetztes Kleinkind im Binsenkörbchen aus dem 8. Jahrhundert vor Christus stammt und deutliche Parallelen zur Legende des mesopotamischen Gottkönigs Sargon aufweist. Nicht einmal das Volk, das JHWH aus der Gefangenschaft befreit, ist historisch belegt. Zwar gibt es Aufzeichnungen über semitisch sprechende nomadische Einwanderer in Ägypten, aber „keinerlei Beleg dafür, dass Israel als Volksgemeinschaft schon in Ägypten existierte“. Stattdessen könnte ausgerechnet der Name des auserwählten Volkes in eine ganz andere Richtung deuten. Für Frevel steht fest, dass „der Name Isra-el auf den kanaanäischen Gott El weist und nicht auf den Gott JHWH“. Und der Bibelforscher geht noch weiter: Auch die Hauptstadt des gelobten Landes, Jerusalem, soll nach einem anderen Gott, dem Gestirnsgott Schalem, benannt sein. Und sogar der erste Tempel wurde ursprünglich für einen unbekannten Sonnengott errichtet. JHWH ist in dieser Lesart „ein Spätling, der sich seine Position im Pantheon erst langsam erarbeitete“.

Zu dieser Theorie könnten auch die jahrhundertelangen Lücken zwischen den gefundenen JHWH-Quellen passen. Nach der Erwähnung in der ägyptischen Schasu-Jahu-Inschrift vergehen fünfhundert Jahre, bis der Gottesname erneut auftaucht. Wissenschaftler entziffern ihn auf einer moabitischen Stele, die um 850 vor Christus „die Altäre JHWHs“ und den „König von Israel“ erwähnt (vgl. Foto erste Seite). Das ist die früheste historisch nachweisbare Verbindung zwischen JHWH und seinem auserwählten Volk. Die biblische Darstellung einer ungebrochenen Linie vom Schöpfergott der ersten Menschen zur Offenbarung im Dornbusch und somit von JHWH als bekanntem „Gott der Väter“ lässt sich damit nicht halten. Allgemein scheint der Gott der historischen Quellen nicht viel mit dem bekannten späteren Gottesbild zu tun zu haben. In Segens- und Grußformeln wird er sehr lokal als „JHWH von Samaria“ oder „JHWH des Südens“ angesprochen. Und gelegentlich wird ihm eine göttliche Gemahlin zur Seite gestellt.

Auf Umwegen zum Nationalgott

Erst im 8. Jahrhundert vor Christus scheint JHWH zum unangefochtenen Nationalgott aufzusteigen. Belege für seine Verehrung nehmen „geradezu explosionsartig“ zu. In Grabanlagen und Verwaltungsnotizen, auf Felsinschriften und Siegeln – überall taucht der Gottesname auf. Sogar in den Königsfamilien kamen „JHWH-Namen“ wie Atalja, Ahasja oder Joram in Mode. Dass diese Tradition im Nordreich begann und sich die JHWH-Verehrung allem Anschein nach erst mit der Zeit im Südreich Juda und Jerusalem durchsetzte, spricht laut Frevel für die Theorie, dass beide Reiche lange getrennt voneinander existierten. Das biblisch überlieferte „Großreich“ Davids und Salomos im 10. Jahrhundert vor Christus scheint es in dieser Form nicht gegeben zu haben.

Stattdessen könnten die – verhältnismäßig spät schriftlich festgehaltenen – Erzählungen über die Frühzeit Israels und über JHWHs besonderen Bund mit seinem Volk, vom Exodus bis zu den ersten Königen, vor allem als Gründungsmythos gedient haben, um die verschiedenen Stämme und Dynastien der Region zu vereinen. Frevel geht davon aus, dass die Familie der Omriden, die lange die Regierung des Nordstaates Israel stellte, tatsächlich eng mit einer aus Ägypten geflohenen semitischen Exodusgruppe verwandt war. JHWH begann in diesem Modell als „ein lokaler, in Wüstengebieten verorteter Gott“, der nach der geglückten Flucht zum besonderen Schutzgott der Gruppe wurde, nach und nach andere Götter verdrängte und schließlich über Umwege zum Nationalgott von Jerusalem aufstieg. Die zahlreichen Wunder der Exoduserzählung – die zehn Plagen, die Teilung des Meeres, die Feuer- und Rauchsäule, die sich auch als überdauerte Hinweise auf einen Gewittergott lesen lassen – sind damit spätere Ausschmückungen und „kunstvolle literarische Konstruktion … im Dienste der Aussage über den mächtigen Gott JHWH“. Dazu passt, dass die verschiedenen „naturwissenschaftlichen“ Erklärungsmodelle, mit denen besonders amerikanische kreationistische Bibelforscher immer wieder eine Historizität der biblischen Geschichte beweisen wollen, regelmäßig ins Leere laufen. Auch die ausführlichen ägyptischen Aufzeichnungen enthalten keinerlei Hinweise auf solche wundersamen Ereignisse.

„Gott des Flickenteppichs“?

Folgt man diesen Forschungsergebnissen und Theorien, können sie traditionelle Glaubensvorstellungen erschüttern. Nicht nur derjenigen Gläubigen, die die alttestamentarischen Gottes- und Wundererzählungen als historische Berichte verstehen wollen, sondern auch jener, die an einen einzigen, ewigen Gott und seine durch die Jahrtausende ungebrochene Offenbarung glauben möchten. Unter dem strengen wissenschaftlichen Blick der Forschung scheint JHWH zu einem „Gott des Flickenteppichs“ zu zerfallen. Handelt es sich um einen Nationalgott, der seinen Namen aus der einen religiösen Tradition geerbt hat, sein Volk aus einer anderen und den Tempel aus einer dritten? Und kann es Zufall sein, dass seine Propheten und Wunder – nachträglich zu großartigen Mythen ausgebaut – immer an die Erzähltraditionen der umgebenden Glaubenssysteme erinnern?

Das ist eine Lesart der Quellen und Modelle. Doch der neue Blickwinkel auf Gott und die Beziehung zu seinen Gläubigen kann auch etwas Befreiendes haben. Die Geschichte JHWHs ist nicht aus einem Guss. JHWH war nie der Gott einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Region und einer bestimmten Zeit, sondern von Anfang an die Summe verschiedenster Vorstellungen und Einflüsse. Das Gottesbild des Alten Testaments zeigt nicht nur den Gott des Christentums – und damit den Gott von Katholiken, Evangelischen, Orthodoxen, Altorientalen und zahllosen Freikirchen – und den Gott des Judentums und des Islam. JHWH war schon immer ein Gemeinschaftsprojekt, in dem Gläubige aus verschiedensten kulturellen und religiösen Hintergründen ihre Hoffnungen, Eindrücke und Erfahrungen mit „dem Göttlichen“ wiederfinden konnten. JHWH ist ein Gott in Entwicklung, ein stets „Werdender“, in dem sich unzählige Traditionen und Vorstellungen versammeln. Auch die Wahrnehmung und Verehrung dieses Gottes war über die Jahrtausende einem ständigem Wandel unterworfen. Trotzdem gilt seine Selbstoffenbarung aus dem Dornbusch noch heute. Besonders in der vielleicht treffendsten modernen Übersetzung als Prozess: „Ich bin da als der, der ich für euch da sein werde – für immer.“

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

Der CiG-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen CiG-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten. Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.