PsychologieWer verzeiht, wird frei

Verzeihen ist gut für einen Menschen, der sich auf diese Weise davon befreit, einem Übeltäter gegenüber dauerhaft Rache oder sonstige negative Gefühle zu empfinden. Wer betrogen, verletzt, verleumdet oder beleidigt wurde, leidet mehrfach in seiner Seele: durch die Ungerechtigkeit selbst und durch die erzeugten negativen Gefühle Wut, Frustration oder Scham. „Zu verzeihen ist eine Kunst, die zu größerer Freiheit führt und uns das Leben aktiv gestalten lässt. Man tritt damit aus der Opferrolle heraus“, erklärt die Züricher Psychotherapeutin Verena Kast im Magazin „Psychologie heute“.

Es dauerte lange, bis sich die Psychologie mit dem Verzeihen befasste. „Vergebung war über Jahrhunderte moralisiert und spiritualisiert“, sagt der britische Sozialpsychologe Masi Noor. Es war der Religion als Aufgabe überlassen. Dabei hilft Verzeihen, „geschehenes Unrecht zu verarbeiten, loszulassen und in den eigenen Lebenslauf zu integrieren“, so Mathias Allemand, Professor für Gesundheitsforschung des Alters an der Universität Zürich. Verletzungen gehören zum Leben. Es gehe darum, ein Gleichgewicht wiederherzustellen und offene Rechnungen zu begleichen, aber gar nicht in erster Linie zwischen zwei Menschen, dem Täter und dem Opfer, sondern zuerst in der eigenen Seele.

Offene Wunden gibt es in allen Lebensbereichen. Schweizer Studien zeigen, dass jüngere Menschen meist mit Lügen hadern, mit Seitensprüngen und dem Verlassenwerden. Ältere belastet dagegen eher Mobbing und das Gefühl, am Arbeitsplatz übergangen zu werden. Frauen erleben Verletzungen vor allem in Beziehungen, Männer im Arbeitsleben, beobachtet die Journalistin Silke Pfersdorf.

Kann man alles verzeihen? Laut einer amerikanischen Studie ist davon nur ein Viertel der älteren Befragten, aber ein Drittel der Jüngeren überzeugt. Sechzig Prozent der Älteren und über vierzig Prozent der Jüngeren halten allerdings Mord, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung für unentschuldbar. Vergebung ist zudem nicht immer die beste Antwort auf Verletzungen. Wer etwa einem missbrauchenden Partner immer wieder verzeiht, verlängert den Missbrauch nur. Verena Kast warnt vor dem „Pseudoverzeihen“. Manchmal ist bei Opfern die Zeit einfach noch nicht reif für den Schritt zum wahren Verzeihen.

Manchmal ist Nachsicht auch eine Altersfrage, vermutet Mathias Allemand. Studien zeigen, dass ältere Menschen eher zur Vergebung bereit sind als Jugendliche. „Möglich ist natürlich, dass die ältere Generation das Vergeben sozusagen noch beim wöchentlichen Kirchgang geübt hat.“ Die eigene emotionale Stabilität spielt beim Verzeihen eine wichtige Rolle. Sie entwickelt sich erst im Lauf des Lebens. Ältere Menschen haben schon mehr Kränkungen erfahren und gelernt, damit umzugehen.

Die meisten Menschen empfinden es als wichtig, die negativen Teile ihrer Lebensgeschichte aufzuarbeiten. „Das ist auch eine Möglichkeit, das eigene Leben nachträglich zu verstehen“, so Allemand. Auf dem Sterbebett, das berichten Pfleger in Krankenhäusern wie Hospizen, ist Verzeihen häufig der letzte Wunsch eines Menschen.

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