Literatur und Religion

Viele Religionen berufen sich für ihre Glaubensinhalte auf eine ihnen eigene Heilige Schrift. Im Christentum entstand der bis heute gültige Kanon der Bibel (= „das Buch“) vor knapp 1700 Jahren. Diese Übertragung aus dem Koiné-Griechischen und dem Hebräischen in das Lateinische nennt man „Vulgata“. Das Alte Testament enthält mit den fünf Büchern Mose einen Teil der jüdischen Torah, zudem die Erzählungen der Propheten und Psalmen. Das Neue Testament enthält die Frohe Botschaft (Evangelium) in den vier Versionen von Markus, Lukas, Matthäus und Johannes, zudem einige Briefe des Apostels Paulus.

Die Erzählung von Jesus Christus, seinem Leben, seinem Weg nach Jerusalem und seiner Auferstehung begeistert viele Leser. Bis heute ringen Theologinnen um die richtige Auslegung der Gleichnisse, Wundergeschichten, Lieder, Liturgien, Aphorismen, Weisheiten, Reden oder Briefe. Da es sich bei einem großen Teil der Bibel um literarische Texte handelt, ist die Bibel auch für Literaturwissenschaftler besonders interessant, verdanken sie doch ihr akademisches Fach der Suche nach der Wahrheit hinter den Texten der Bibel: Der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) legte mit seiner Deutung der Bibeltexte den Grundstein für die moderne Hermeneutik, also die Wissenschaft des Textverständnisses. Literaturwissenschaftlerinnen teilten ihr Wissen und ihre Methoden mit den Theologen, die die sogenannte kritische Bibelauslegung (Erich Zenger) in die Bibelwissenschaften integriert haben. Die neuen Methoden ermöglichen Einblicke in die Autorschaft einzelner Texte (wer und wie viele verfassten die Texte, und über welchen Zeitraum?) und in die Intention der Autoren (wollten sie einen historischen Bericht verfassen oder handelt es sich mehr um ein Gleichnis voller Metaphern?).

Auch die nichtreligiöse Literatur enthielt schon vor der Antike religiöse Gedanken und Symbole. In den griechischen Sagen sprechen die Helden mit den Göttern, ebenso in den ägyptischen Mythen. Aufgrund des mosaischen Bilderverbots fiel es christlichen Literaten bis in die Frühe Neuzeit schwerer, Geschichten über ihre Religion zu schreiben, aber auch hier gibt es einige Beispiele, insbesondere die Heiligenlegenden, also die Erzählungen über die Wundertaten der Heiligen.

Moderne Romane und Gedichte behandeln sehr häufig religiöse Motive, wenigstens in Ansätzen. Die Autorinnen begeben sich mit ihren Protagonisten, Figuren und Helden auf die Suche nach den alten und zeitlosen Fragen der Menschheit: Was ist der Sinn des Lebens? Warum gibt es Leid? Was kommt nach dem Tod? Woher kommen wir und wohin gehen wir?

Philipp Adolphs

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