Überbehütung schränkt Kinder einKinder brauchen das Risiko

Kinder werden heute mehr denn je umsorgt und von allen Gefahren abgeschirmt aber Überhütung kann ihnen sogar schaden

Kinder brauchen das Risiko
Immer weniger Eltern lassen ihre Kinder einfach mal machen. © istock, Juanmonino

Die Mutter fand, dass es schon lange an der Zeit war, das kleine Mädchen losziehen zu lassen. Der Vater tat sich noch schwer. Doch eines Tages reifte auch bei ihm die Erkenntnis: „Lovis“, sagte er zu seiner Frau, „unser Kind muss lernen, wie es ist, im Mattiswald zu leben. Lass Ronja hinaus!“ „Schau an“, erwiderte seine Frau, „hast du das endlich auch begriffen?“

Mit diesen Worten beginnt das Abenteuer, das das 1981 erschienene Buch Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren zu einem der berühmtesten Kinderbücher der Welt gemacht hat. Eigentlich ein ungeheuerlicher Akt: Da schicken zwei liebende Eltern ihr einziges Kind schutzlos in einen gefährlichen Märchenwald, in dem es vor feindlichen Geschöpfen, tiefen Abgründen und reißenden Gewässern nur so wimmelt. Außerhalb der Literatur ist solch eine Situation schier unvorstellbar. Verletzung der Aufsichtspflicht! Kindeswohlgefährdung! Solche Begriffe würde man den Eltern wohl vorwurfsvoll entgegenschleudern.

Die Sorge führt zu immer mehr Kontrolle

Allein in die weite Welt hinein – das ist heute keine Option mehr. Noch nie hat eine Elterngeneration ihre Kinder derart intensiv im Blick gehabt. Zu keiner Zeit wurden Kinder so sehr verwöhnt, behütet und beschützt wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie sollen möglichst immer in Sichtweite bleiben, nur vorsichtig mit Stöcken herumfuchteln, am besten niemals mit Feuer spielen, keine Felsen erklimmen, keine Abkürzungen durchs dornige Gebüsch nehmen, keinen Sand essen und sich nie die Knie blutig schlagen. Helikopter- oder Curling-Eltern werden diese Erwachsenen genannt, die von der Geburt bis zum Ende des Studiums am liebsten rund um die Uhr wachend an der Seite ihrer Kinder stehen würden.

Weil der Nachwuchs so unbeschadet wie möglich durch die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens kommen soll, lautet die vordringlichste Aufgabe der Erwachsenen: Gefahrenquellen minimieren. „Die Risikoaversion hat stark zugenommen“, erklärt Professor Peter Höfflin von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. „Wir leben in einer Gesellschaft, die zunehmend ängstlich ist, fast schon panisch.“ Das betreffe nicht nur Eltern, sondern sei eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, so der Sozialwissenschaftler.

Es soll nichts passieren, es darf nichts passieren. Wer sich sorgt und nach mehr Sicherheitsmaßnahmen ruft, findet viel Zustimmung. Und so geht der Trend deutlich in Richtung Verbot. Eines von vielen Beispielen: In Freiburg haben im letzten Jahr die Arbeiterwohlfahrt und der Caritasverband entschieden, dass in den Sankt-Martins-Laternen keine Kerzen mehr brennen dürfen. LED sei einfach sicherer. Höfflin wundern solche Auswüchse nicht. Er erforscht seit vielen Jahren, wie sich Kindheit in Deutschland verändert. Die Freiräume seien merklich geschrumpft, sagt er. Am Nachmittag unbeaufsichtigt draußen spielen dürfen nur noch die wenigsten Kinder. Geschweige denn, Wege alleine zurücklegen. Früher war beides – zumindest für Grundschulkinder – normal.

Räume für das freie Spielen fehlen

Der Wissenschaftler macht aber nicht nur überbesorgte Eltern dafür verantwortlich, dass Kinder heute auf Schritt und Tritt begleitet werden. Auch der moderne Städtebau hat auf den Entdeckungsdrang der Jüngsten wenig Rücksicht genommen. Die Spielmöglichkeiten von Kindern im außerhäuslichen Umfeld sind seit den 1970er-Jahren massiv zurückgegangen. „Unsere Studien zeigen, dass im Wohnumfeld maßgebliche Veränderungen stattgefunden haben.“ Kinder wurden, kurz gesagt, systematisch aus dem öffentlichen Raum verdrängt.

Es fehlt nicht unbedingt an hübsch ausstaffierten Spielplätzen, sondern vor allem an sogenannten Aktionsräumen. Das können Grünflächen, Plätze, Brachen sein. Wichtig: Der Ort muss gut erreichbar und weitgehend ungefährlich sein, und Kinder sollten dort auf andere Kinder treffen, mit denen sie gemeinsam etwas gestalten können. Und zwar, ohne dass die Argusaugen der Eltern ständig auf ihnen ruhen. Denn aus vielfältigen Forschungen wisse man: „Immer auf Nummer sicher zu gehen, ist kontraproduktiv. Wenn man alle Risiken beseitigt, wächst das Risiko.“ Kinder müssen sich erproben und an ihre Grenzen gehen dürfen, um lebenswichtige Risikokompetenzen zu erwerben. Nur so ist eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung möglich. „Fallen lernt man nur durch Fallen“, betont Höfflin.

Hindernisse überwinden macht stark

Die heutige Elterngeneration hat an das freie Spielen mit anderen Kindern, das oft draußen im Dreck stattfand und bei dem es manchmal zu Wortgefechten und Rangeleien kam, lebhafte, meist sehr positive Erinnerungen. Doch paradoxerweise führt das nicht dazu, dass die Eltern den eigenen Kindern eine ähnlich lange Leine lassen. Heike Kostarellis ist seit 16 Jahren Leiterin einer Kindertageseinrichtung in Gelsenkirchen. „Manchmal frage ich mich, wie ich das überhaupt überlebt habe“, sagt sie lachend über ihre eigene Kindheit. Auch ihr fällt auf, dass viele Eltern zutiefst verunsichert sind. Sie wollen ihre Kinder bestmöglich fördern, aber am liebsten nur theoretisch und intellektuell. Bewegung bedeutet Gefahr. Also wechselt das Kind vom Maxi Cosi in den Buggy und von da direkt aufs Geschwisterboard vor dem Kinderwagen. Selbst laufen, etwas erleben, auch mal ein Mäuerchen hochklettern, das ist oft nicht mehr vorgesehen, berichtet die 49-Jährige.

Kostarellis hat schon Mütter und Väter erlebt, die wegen kleiner Schürfwunden sofort zum Kinderarzt fahren. Freies Spiel steht bei diesen Eltern nicht hoch im Kurs. Ihnen wäre es lieber, wenn die ErzieherInnen als permanente Animateure auftreten. „Es braucht viel Wissen und Fingerspitzengefühl, um sich solchen Wünschen entgegenzustellen.“ Die Eltern wollen ja durchaus das Richtige: nämlich ihre Kinder zu jungen Erwachsene heranziehen, „die selbstbewusst und selbstständig agieren und reagieren können“. Nur wählen sie dafür den denkbar schlechtesten Weg. „Ich habe das Gefühl, den Kindern wird jegliches Hindernis aus dem Weg geräumt, damit sie bloß keine Fehler machen.“ Dabei sind Fehler aus Sicht der Pädagogin wichtige Lernetappen. Nur wer sich mal an einer Kerze verbrannt und an einem Stift gepikst hat, weiß, was die Worte „heiß“ oder „spitz“ wirklich bedeuten.

Den Stärken der Kinder mehr vertrauen

Doch die Gelassenheit, ihr Kleinkind mit „Messer, Gabel, Scher’ und Licht“ hantieren zu lassen, haben die meisten nicht. „Der Blick ist auf das Negative gerichtet, auf das, was alles passieren könnte.“ Nachmittags ziehen sich die Familien in ihre privaten Schutzräume zurück. In fast jedem Garten steht eine Schaukel, eine Rutsche, ein Trampolin. Nur Kinder sieht man auf den gemähten Rasenflächen selten. Heike Kostarellis macht das traurig und nachdenklich. Sie wünscht sich mehr Dialog, mehr elterliche Netzwerke. „Der Kindergarten könnte ein Ort des Austausches sein.“ Auch um festzustellen, dass andere von ähnlichen Ängsten geplagt werden. Gemeinsam gelingt es vielleicht besser, die Spiel- und Freiräume der Kinder trotzdem wieder ein bisschen großzügiger zu gestalten.

Vater Mattis hat es schließlich auch geschafft, seinem Herz einen Ruck zu geben. Nur ein paar Ratschläge gibt er Ronja noch mit auf den Weg. Sie solle sich vor Wilddruden, Graugnomen und Borkaräubern hüten. Nicht verirren, nicht in den Fluss plumpsen, nicht in den Höllenschlund fallen. „Sonst noch was?“, fragt die Tochter neugierig. „O ja“, antwortet der Vater. „Aber das merkst du schon selber so allmählich. Geh jetzt!“

Die Ängste haben zugenommen

kizz sprach mit dem Kindheitsforscher Prof. Peter Höfflin von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg

Haben Eltern heute zu viel Angst um ihre Kinder?

Vorneweg würde ich gerne zwischen Gefahr und Risiko unterscheiden. Natürlich dürfen Kinder keinen Gefahren ausgesetzt werden, bei denen sie ernsthaft Schaden nehmen können. Kinder brauchen aber bestimmte Risiken. Und da lässt sich feststellen, dass die Ängste der Eltern und auch der Pädagogen zugenommen haben. Wir sind heute weniger bereit, Risiken einzugehen, das ist eine generelle gesellschaftliche Entwicklung. Und bei dem Versuch, mehr Sicherheit zu schaffen, bewirken wir zum Teil genau das Gegenteil.

Was sind mögliche Ursachen dieser Entwicklung?

Es ist schwierig, das auf einen einzelnen Faktor zurückzuführen. Wir beobachten dieselbe Tendenz in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Das Recht spielt eine große Rolle, Haftungsansprüche nehmen zu, es gibt die Angst vor Schadenersatzansprüchen. Es ist auch nicht nur ein Problem der Eltern. Ich glaube, dass Kinder heute in Kindertagesstätten noch behüteter sind und noch weniger die Gelegenheit bekommen, frei zu spielen und Risiken einzugehen. Und umgekehrt können Kinder keine Entwicklungsschäden einklagen, wenn es ihnen aus Sicherheitsgründen verboten wurde zu toben. Dabei haben Kinder ja auch Rechte. Bei Risikofragen geht es immer darum, eine Balance zu finden. Wer Kinder in Watte packt, ist zwar auf der sicheren Seite, nimmt dafür aber andere Schäden in Kauf.

Wann hat das angefangen, dass wir in unserer Gesellschaft immer mehr auf Sicherheit schauen?

Wir beobachten das schon länger. Wir haben mithilfe von Interviews verglichen, wie Kinder früher aufgewachsen sind und wie sie das heute tun. Die Großelterngeneration hat damals die Kinder einfach zum Spielen rausgeschickt. Man hat sich eher Sorgen gemacht, dass die Kinder etwas anstellen, als dass sie selber Schaden nehmen. Das hat sich diametral geändert.

Hatten Eltern früher einfach weniger Zeit, sich um die Kinder zu kümmern?

Das kommt sicher dazu, die Kinderzahl war größer und die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren andere. Es hat aber auch einen Wandel in der Einstellung zu Kindern gegeben. Heute wird die Entscheidung für ein Kind ganz bewusst getroffen. Eltern sind mit vielfältigen Erwartungen konfrontiert, sie stehen unter Druck und fragen sich, ob sie alles richtig machen. Mehr über Kindererziehung nachzudenken ist natürlich positiv, aber das kann auch in die falsche Richtung ausschlagen. Es gibt Mobilitätsstudien, die zeigen ganz deutlich, dass sich Kinder heute viel weniger frei bewegen dürfen als frühere Generationen.

Lassen sich bei den Kindern bereits Folgen dieser Entwicklung beobachten?

Das ist auf jeden Fall massiv, da gibt es eine ganze Fülle von Studien. Die Möglichkeit sich zu bewegen ist einerseits für die körperliche Entwicklung ganz zentral, andererseits aber auch für die psychische Entwicklung. Im aktuellen Stuttgarter Kindergesundheitsbericht zum Beispiel steht, dass ein Kind bei der Ein schulung viermal ohne absetzen auf einem Bein hüpfen kann, wenn es sich altersgemäß entwickelt hat. Das können aber nur 70 Pro zent, 30 Prozent haben hier Einschränkungen. Was in Stuttgart besonders auffällig ist: Es gibt Stadtteile, da können das weniger als 50 Prozent der Kinder. Das sind Wohngebiete mit starker Verdichtung und sehr wenigen Spielmöglichkeiten, hier gibt es also eine soziale Benachteiligung durch räumliche Ungleichheit.

Gibt es bereits ein Bewusstsein dafür, dass da etwas falsch läuft?

Mein Eindruck ist, dass sich das aktuell ganz stark entwickelt, sowohl in den Medien als auch in der Fachdiskussion. In den letzten Jahren gab es zwei große Debatten, über Kindheit und Bildung und über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei ist das Thema Kinderrechte etwas unter die Räder geraten, also die Frage, was brauchen Kinder eigentlich, auch aus ihrer Perspektive betrachtet. Und das kommt jetzt stärker.

Können Sie einmal skizzieren, wie ideale Spielorte für Kinder aussehen müssten?

Wir gehen davon aus, dass Kinder in ihrem Wohnumfeld Spielräume brauchen, die vier Kriterien erfüllen: Erstens die Gefahrlosigkeit, das bedeutet, es dürfen an der Spielstätte nur Gefahren bestehen, die Kinder erkennen und mit denen sie umgehen können. Zweitens die Zugänglichkeit, das heißt der Ort muss für Kinder problemlos erreichbar sein. Drittens sollte der Spielplatz Kindern Interaktionschancen bieten, also die Möglichkeit, Gleichaltrige zu treffen und mit ihnen etwas zu unternehmen. Viertens sollte die Spielstätte gestaltbar sein, also den Kindern vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, das ist bei naturnahen Spielplätzen etwa besonders gegeben.

Kommen wir noch mal auf die Eltern und ihre Ängste zurück. Was kann man ihnen raten?

Spontan aus dem Bauch würde ich sagen, man kann Eltern nur dazu ermuntern, ihr Kind genau zu beobachten und abzuwägen. Natürlich muss man es vor nicht kalkulierbaren Gefahren bewahren, aber üblicherweise überfordern sich Kinder im Spiel nicht und sind kompetent im Umgang mit Risiken. Zum Beispiel beim Klettern: Da probieren sie sich aus, gehen an ihre Grenze, erweitern sie Stück für Stück, aber gehen eigentlich nicht über sie hinaus. Diese Gelegenheit sollten Kinder bekommen, denn dadurch werden sie sicherer.

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