Ein Interview mit Bildungsexpertin Ilse Wehrmann „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt auf Kosten der nächsten Generation“ 

Keine Einigkeit und kaum Ergebnisse – Bildungsexpertin Ilse Wehrmann ärgert sich über die Bilanz des Bildungsgipfels Mitte März. Im Interview spricht sie über ihren Wunsch nach mehr Leidenschaft, wenn es um Kinder geht, und fordert den Abbau von Bürokratie.

Ein Interview mit Bildungsexpertin Ilse Wehrmann
© privat

Welche Erwartungen hatten Sie an den Bildungsgipfel für die Frühe Bildung?
Ich hatte vor allem die Erwartung, dass Frühe Bildung ein Bundesthema wird. Dass also nicht nur auf Länderebene und kommunaler Ebene diskutiert wird, welchen Reformbedarf wir in Deutschland haben. Umso enttäuschter bin ich natürlich, wie gering die Beteiligung der Ministerpräsident*innen und Senator*innen war. Das betrifft auch Bremen: Wenn gerade ein Bundesland, das so schlecht dasteht, da nicht mal hinfährt.

Was kann ein Bildungsgipfel überhaupt realistisch leisten?
Wir müssen schauen, dass das Geld nicht einfach weiter nach dem Gießkannenprinzip verteilt wird, sondern dass wir auch einen Masterplan entwerfen, wohin Hilfen gegeben werden. Ich finde die Initiative mit dem Bildungsgipfel richtig, aber das muss sicher besser vorbereitet werden und alle mit-einbeziehen.

Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf in der frühkindlichen Bildung?
Wir brauchen eine nationale Qualitätsinitiative, wie wir sie schon mal in den 1990er-Jahren hatten. Kinder sind in unserem Land die großen Verlierer geworden – allein schon durch Corona. Sie werden nicht mehr gesehen und ich glaube, da machen wir uns sehr schwer schuldig. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger hat versucht, alle an einen Tisch zu holen, und das darf man nicht kleinreden. Überlegenswert wäre auch eine generationenübergreifende Initiative, in der die „alten weißen“ Protagonist*innen mit „jungen Wilden“ aus der Elementarpädagogik zusammenkommen und sich gegenseitig mit ihren Vorstellungen von einer radikalen „Kita-Revolution“ konfrontieren. Als Quintessenz dieser Diskussion könnten aus dem breiten Perspektivenspektrum heraus Handlungsempfehlungen nicht nur für die Politik, sondern auch für die maßgeblichen Akteur*innen der früh-kindlichen Kindertagesbetreuung abgeleitet werden. Denn es muss in diesem Land endlich etwas ins Rollen kommen. Den Versuch eines solchen unkonventionellen „runden Tisches“ wäre die Sache meines Erachtens wert, wenn die Politik schon nicht „in die Puschen kommt“.

Was braucht es dafür?
Ein breites, gesamtgesellschaftliches Bündnis für Kinder in unserem Land. Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt auf Kosten der nächsten Generation. Der Gipfel könnte ein Anfang gewesen sein und ich hoffe, dass man sich nicht entmutigen lässt. Es gab ja eine hohe Beteiligung, aber nicht un-bedingt von der politischen Spitze. Ich erlebe, dass in der Bundesregierung das Thema Bildung keine Rolle spielt. Und ich bin dankbar, dass Saskia Esken von der SPD deutlich gemacht hat, dass wir auch ein Sondervermögen für Bildung brauchen. Dieses wird mindestens im selben Umfang nötig sein wie für die Rüstung. Frühe Bildung muss zum Bundesthema auch für Kanzler Olaf Scholz werden. Am besten macht er die Teilnahme am nächsten Bildungsgipfel für alle Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene zur Pflicht.

Was kritisieren Sie an der derzeitigen Situation besonders?
Ich wünsche mir eine leidenschaftlichere Debatte für Kinder und ihre Bildung in unserem Land und wundere mich, dass es bei all dem, was zurzeit in Deutschland passiert, nicht zu größeren Protesten kommt.
Ich begleite in Bremen den Bau vieler Kitas und bin entsetzt über deutsche Bürokratieverliebtheit. Meistens dauert es Jahre, bis die Baugenehmigung für eine Kita erteilt wird. In der Zwischenzeit laufen die Kosten davon und wertvolle Chancen für die Kinder werden vertan. Wir dürfen uns nicht da-ran gewöhnen, dass über 300.000 Kinder trotz Rechtsanspruchs noch immer keinen Kita-Platz bekommen. Was muss denn noch passieren, um Politiker*innen aufzurütteln? Wir brauchen eine ganz neue und viel größere Empathie für Kinder, um sie nicht weiter zu Verlierern zu machen.

Was halten Sie von aktuellen Vorschlägen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in Kitas?
Wir dürfen uns nicht darauf fokussieren, dass jetzt auch Unausgebildete in Kitas arbeiten sollen. Natürlich sind Überlegungen wichtig, wie sich der Fachkräftepool erweitern lässt. Aber in der Medizin käme niemand auf die Idee, unausgebildetes Personal operieren zu lassen. Solche Möglichkeiten werden immer nur diskutiert, wenn es um Kinder geht. Es ist unfassbar, dass die Entwicklungschancen von Kindern in ihren ersten Jahren noch immer von der Finanzkraft einer Kommune oder vom Familienbild des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin abhängig sind.

Welche Ergebnisse sollte ein neuer Bildungsgipfel bringen?
Einheitliche Standards, damit Rahmenbedingungen wie Gruppengröße oder Mindestquadratmeter im Innen- und Außenbereich nicht so unterschiedlich sind. Aber auch Vorgaben für Toilettentrenn-wände beispielsweise ließen sich einheitlich für ganz Deutschland regeln. So etwas gäbe den Kommunen Planungssicherheit. Außerdem muss es zu einheitlichen Finanzbedingungen sowie Anforderungen an Personalausstattung und Gruppengröße kommen. Und es müsste bundeseinheitlich fest-gelegt sein, dass die Qualität in den Einrichtungen regelmäßig kontrolliert wird. Die Kita-Finanzierung wäre also einheitlich, aber auch trägerunabhängig zu regeln. Ebenso lassen sich Ausbildungsstandards festlegen: Welche Fachkräfte dürfen in den Einrichtungen arbeiten und was sind die Inhalte ihrer Ausbildung? In anderen Berufen funktioniert das ja auch.

Was brauchen Kitas und Fachkräfte aus Ihrer Sicht aktuell am dringendsten?
Um räumliche Standards zu gewährleisten, müsste es ein Sanierungsprogramm für Kindergärten und Schulen in Deutschland geben. Mithilfe einer Taskforce-Gruppe könnten Genehmigungsverfahren schnell realisiert werden. In manchen Kommunen habe ich erlebt, dass einmal im Monat alle Bauvorhaben besprochen wurden, anstatt anderthalb Jahre auf ihre Genehmigung zu warten. Außerdem müssen die pädagogischen Berufe gesellschaftlich aufgewertet werden. Immerhin gestalten Erzieher*innen und Lehrer*innen die Zukunft eines Landes. Das können nur die bestausgebildeten und bestbezahlten Personen sein. Diese Berufe attraktiver zu machen, ist nicht nur eine Finanz-frage, sondern vor allem eine gesellschaftliche Herausforderung. Auch brauchen wir mehr Solidarität zwischen Eltern und Pädagog*innen, damit sie nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten. Schließlich brauchen wir noch Runde Tische, an denen mit Fachleuten aus der Praxis Perspektiven entwickelt werden. Um das alles anzugehen, ist ein Zehnjahresplan notwendig. Wir können in Deutschland nicht so „weiterwurschteln“ wie bisher.

Was würden Sie Fachkräften vor Ort empfehlen, um an ihrer Situation etwas zu verbessern?
Sie müssen auf die Straße gehen und demonstrieren. Nötige Veränderungen werden uns nicht in den Schoß fallen, wenn Erzieher*innen nicht massiver für ihre Interessen eintreten. Wenn sie sich berufspolitisch nicht engagieren, wird nichts passieren. Revolutionen starten von unten, nicht von oben. Anders kommen wir aus der Misere nicht heraus – auch Erzieher*innen vor Ort nicht. Vor allem müs-sen sie die Kommunalpolitiker*innen in die Verantwortung nehmen, sie in die Einrichtungen holen und ihnen die Realität vorführen.

Interview: Matthias Bergediek, Redaktion kindergarten heute

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