Braucht Deutschland eine Zivilreligion?Der Staat und die religiösen Bürger

Im demokratischen Rechtsstaat herrscht Religionsfreiheit. Gleichzeitig hat er ein vitales Interesse daran, dass seine Bürger sich an einen ethischen Grundkonsens halten und diesen immer wieder erneuern. Eine Zivilreligion kann nicht von Staats wegen verordnet werden. Sie ist nicht zuletzt auf das Engagement religiöser Bürger angewiesen.

„Terror-Angst killt Mozart“ – so titelte die „Berliner Zeitung“ am 27. September 2006. In Wirklichkeit geht es nicht um Mozart. Dessen Oper „Idomeneo“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in höchster Seenot das Gelübde ablegt, im Falle seiner Rettung den ersten Menschen, den er an Land trifft, dem Poseidon zu opfern. Als ersten trifft er seinen eigenen Sohn. Hans Neuenfels zeigt in seiner im Jahre 2003 uraufgeführten Inszenierung dem Publikum in einem Schlussbild die abgeschlagenen Häupter aller großen Religionsstifter. Ein geköpfter Gekreuzigter, ein geköpfter Prophet und ein geköpfter Buddha – ein Befreiungsschlag der besonderen Art. „Mit einer tiefen, intensiven Erschütterung hat sich dieser Idomeneo von seiner Religion, von seiner Weltanschauung getrennt und zu seiner ureigenen Substanz gefunden“, so begründet Hans Neuenfels die Schlussszene seiner Inszenierung. Die Intendantin der Deutschen Oper in Berlin, Kirsten Harms, nahm die Oper, die für November auf dem Spielplan stand, aus dem Programm, als sie vom Berliner Innensenator auf ein „Sicherheitsrisiko von unkalkulierbarem Ausmaß“ hingewiesen wurde. Nach dem Karikaturenstreit befürchtete dieser islamistische Proteste gegen die Neuenfels-Inszenierung. Zwischen der Verteidigung der Freiheit der Kunst und ihrer Verantwortung für Mitarbeiter und Besucher habe sie sich entscheiden müssen, sagte die Intendantin.

Welchen Preis will ich für meine Freiheit zahlen?

Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit war einheitlich und gewaltig: Empörung allenthalben. Formulierungen wie „Selbstzensur“, „Feigheit“, „vorauseilender Gehorsam“, „Anschlag auf die Freiheit der Kunst“, „Bestärkung der Terroristen in ihrem Machtgefühl“ fanden sich in fast allen Tageszeitungen. „Es kann und darf nicht sein, dass Islamisten bestimmen, was auf deutschen Bühnen gespielt wird“, meinte Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm. Einhellig rief man zur Verteidigung der Freiheit der Kunst auf. Man warnte vor der Angst, die Entscheidungsträger zunehmend beschleiche, wenn es um den Islam gehe. „Diese Angst ist der Henker unserer Freiheit“, hieß es in einem Kommentar. Die Intendantin verteidigt sich: „Wäre etwas passiert, hieße es zu Recht, ich hätte mich über Warnungen hinweggesetzt.“ Dafür hatte man auch Verständnis, bat die Intendantin aber eindringlich, die Oper wieder auf den Spielplan zu setzen. Eben diese Bitte wiederholten auch die islamischen Verbände während der Islamkonferenz, zu der Innenminister Wolfgang Schäuble am 27. September 2006 eingeladen hatte. Die Konferenz könne sich diese Inszenierung dann ja gemeinsam ansehen, schlug der Minister vor. In der Tat: Nur über das, was gezeigt werden darf, kann man auch diskutieren. Eine heimliche Absetzung des Stücks dient niemandem. Spannend hingegen wäre eine öffentliche Debatte zwischen religiösen und nichtreligiösen Intellektuellen in Deutschland darüber, ob Neuenfels’ Idomeneo in der Schlussszene weniger ein Befreier und Aufklärer ist, als vielmehr Inbegriff einer gewalttätigen Selbstvergottung des neuzeitlichen Menschen.

Die Freiheit der Kunst ist die Voraussetzung dafür, dass über die Qualität eines Kunstwerks öffentlich debattiert werden kann. Insofern leben alle, Künstler, Muslime, Christen, Konfessionslose von dieser Freiheit. Je größer aber die gegenseitige Aufmerksamkeit wird, umso riskanter wird die Realisierung dieser Freiheit. Harald Jähner („Berliner Zeitung“) hat die bisherige Lage so beschrieben: „Die deutsche Kultur ist für ihren staatlich bezahlten Mut weltbekannt. So viel Kunstblut wie auf unseren Bühnen fließt nirgendwo auf der Welt. Es wird sich das Zeug gleich literweise über den Kopf geschüttet, es wird nackt geschissen, masturbiert, und ejakuliert, und wenn einem gar nichts mehr einfällt, um ein paar Leute zum wütenden heraus Rennen zu bewegen, wird neben der Orgie ein Kreuz aufgestellt, damit wenigstens der örtliche Bischof von seinen Gemeinden zum Abfassen eines Protestbriefes gedrängt wird. Dann stellt sich die geballte Geistesmacht der Republik vor die in ihrer Freiheit bedrohte Kunst und jagt dem armen Bischof einen gehörigen Schrecken ein.“ Das scheint sich zu ändern. Je kostbarer die Freiheit empfunden wird, umso höhere Ansprüche werden in Zukunft an die Kunstwerke gestellt werden, die von dieser Freiheit leben.

Die Frage wird drängend: Welchen Preis bin ich bereit für meine Freiheit zu bezahlen? Die Realisierung der Freiheit bekommt einen konfessorischen Charakter. Für deutsche Protestanten ist die Urszene konfessorischer Freiheit der Auftritt des Augustiner-Mönchs Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms. Bei aller notwendigen Kritik an der Heroisierung dieser Szene in Wort und Bild, bleibt doch das auch heute noch Respekt heischende Faktum, dass ein junger Intellektueller wagte, von der Freiheit seines Gewissens ebenso wie von der Freiheit seines Forschens offensiv Gebrauch zu machen. Er riskierte für diese Freiheit nicht nur seinen Ruf, er riskierte dafür auch sein Leben. Indem er dieses Risiko einging, wurde er zu einem Modell für die Freiheit eines Christenmenschen, der in strenger Bindung an die Wahrheit gerade nicht der Beliebigkeit und dem Relativismus zum Opfer fällt, sondern mit Selbstdisziplin und Mut für diese Freiheit einzustehen bereit ist.

Der Mut ist die Schwester der Freiheit. Aus welchen Quellen aber schöpfen Bürgerinnen und Bürger diesen Mut? Woher kommt Zivilcourage? Viele Beobachter glauben, in der vom schönen Juniwetter unterstützten Partystimmung bei der Fußballweltmeisterschaft Anzeichen für einen neuen deutschen Patriotismus zu sehen. Ob diese Stimmung auch Konflikt- und Krisenfälle übersteht? In diesen Tagen wurden deutsche Kriegsschiffe in den Libanon geschickt. Deutsche Soldaten riskieren ihr Leben auch in Afghanistan, im Kongo und am Horn von Afrika. Achtzehn junge Deutsche wurden bereits in Afghanistan getötet. Die Soldaten haben Eltern, Ehepartner und Kinder. Nicht nur die Toten, auch deren Angehörige bezahlen für die „Verteidigung der Werte der westlichen Welt“ – am Hindukusch. Wenn die Zahl der getöteten deutschen Soldaten steigen wird, dann wird die Frage, wofür sie eigentlich gestorben sind, nicht zum Verstummen zu bringen sein. Der Rechtswissenschaftler Bernhard Schlink hat darauf hingewiesen, dass den Deutschen die Vorstellung von einem „Opfer, das man ist“ sehr viel näher liege als die Vorstellung von einem „Opfer, das man bringt“. Und der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von einer „postheroischen Gesellschaft“, die Opfer nicht mehr ertragen könne.

Wertkollisionen sind nicht zu vermeiden

Die Anrufung der „Werte“ und die Forderung nach mehr „Wertevermittlung“ wirkt angesichts dieser Problemlage eigenartig matt. Je mehr Werte im Umlauf sind, umso klarer tritt zutage, dass Werte miteinander in Konflikt geraten. Die politische Philosophie der Nachkriegszeit hatte dafür noch ein klares Bewusstsein. Ernst Wolfgang Böckenförde warnte in den sechziger Jahren eindringlich davor, dass sich der Staat selbst als Werteerzieher versteht. Denn damit würde gerade jene Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben, die Freiheit konstituiere. Der Staat als Werteerzieher öffne dem Subjektivismus der Tageswertungen Tür und Tor. Nicht Grundwerte, sondern Grundrechte konstituierten Freiheit in einem liberalen Gemeinwesen. Damit nimmt Böckenförde die Kritik seines Lehrers Carl Schmitt auf, der vor einer Tyrannei der Werte gewarnt hatte und auf die zugleich dezisionistische wie totalisierende Struktur des Wertbegriffs aufmerksam gemacht hatte. „Der höchste Wert hat das Recht und die Pflicht, den niederen Wert sich zu unterwerfen und der Wert als solcher vernichtet mit Recht den Unwert als solchen. (Vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976; Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Die Tyrannei der Werte, Hg. Sepp Schelz u.a., Hamburg 1979, 9–43, 36f.)

Mit einer eigenen Zivilreligion kann der Staat nur verlieren

Bereits Max Weber hat darauf aufmerksam gemacht, dass Wertekollisionen zwischen der christlichen Liebesreligion und der kapitalistischen Gewinnmaximierungsrationalität unvermeidlich sind. Es ließen sich noch eine ganze Reihe von Wertekollisionen in unserer Zeit ausmachen: die Genderforschung macht darauf aufmerksam, dass zwischen männlichen und weiblichen Bewertungen ethischer Sachverhalte beträchtliche Unterschiede bestehen. Die Religionswissenschaften können auf Wertekollisionen zwischen der islamischen und der westlich-kapitalistischen Welt hinweisen. Die Generationenforschung untersucht intergenerationell differierende Wertvorstellungen. Man kann also nicht davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Wertepluralismus sich sozusagen von alleine zu einem bunten Mosaik fügt. Die geschichtliche Erfahrung legt vielmehr nahe, dass sich Wertekollisionen konflikthaft entwickeln. Das muss, wie die Konfliktforschung zeigt, nicht zum Nachteil einer Gesellschaft sein. Der Soziologe Niklas Luhmann hat sich die Attraktivität des Wertediskurses in seinem Essay „Grundwerte als Zivilreligion“ aus dem Jahre 1978 so erklärt: „Zunehmende Differenzierungen des Gesellschaftssystems erfordern zunehmende Generalisierungen der für alle verbindlichen Symbolik.“ (Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas, in: Archivio di Filosofia Nr. 2/3, 1978, 51–71, 62.) Die Pluralisierung des religiösen Feldes führe dazu, dass eine bestimmte Konfession den Universalkonsens eines Gemeinwesens nicht mehr garantieren könne. Diese Feststellung Luhmanns hat übrigens auch dann Gültigkeit, wenn die christlichen Kirchen sich als das historische geistige Fundament Europas stilisieren. Das ist schlechter Kulturprotestantismus – oder Kulturalismus. Wer darüber hinaus noch glaubt, die Präsenz christlicher Symbole an öffentlichen Schulen dadurch retten zu können, dass diese mit der Kultur verbunden seien, das Kopftuch beispielsweise aber nicht, der hat die Struktur des Problems noch nicht verstanden.

Die Wertedebatte zeigt, dass eine Gesellschaft auf einen immer schon unterstellten Universalkonsens angewiesen ist. Wenn eine Gesellschaft nicht mehr darauf vertrauen kann, dass darüber Konsens herrscht, dass man die Würde des anderen achtet, dass man nicht nach Belieben tötet, dann bricht sie auseinander. Ohne Vertrauen gibt es keine Gesellschaft. Und ohne die Unterstellung gemeinsamer Überzeugungen entsteht kein Vertrauen.

Das Problem, auf das Luhmann aufmerksam macht, lautet aber: Ist dieser Universalkonsens, ist diese Zivilreligion überhaupt formulierbar? Sobald das nämlich jemand versucht, erntet er Widerspruch. Der Universalkonsens kommt offenbar nur als umstrittener zum Vorschein. Nach Luhmann kann man sich diesen Universalkonsens wie das neutrale Licht vorstellen. Erst in der Brechung durch die Teilsysteme der Gesellschaft wird er sichtbar. Weil er aber nur aus einer bestimmten Perspektive heraus in den Blick kommt, empfinden ihn andere als einseitig, also bestreitbar. Werte können notwendig nur als umstrittene zur Geltung kommen. Das stimmt mit unseren Alltagsbeobachtungen überein: Jeder ist für Werte. Geht es aber darum, sie zu bestimmen, fängt der Streit an. Luhmann, der Ironiker, fand das nicht schlimm: Dann gebe es einen Universalkonsens halt nur als umstrittenen.

Der Soziologe und Pädagoge Emile Durkheim glaubte nicht, dass ein lediglich unterstellter, gar nicht mehr formulierbarer Universalkonsens ausreiche, um eine Gesellschaft immer wieder neu zu reproduzieren. Denn genau das sei ja die wesentliche Aufgabe eines Gemeinwesens: Die heranwachsende Generation an das herrschende System zu gewöhnen und ihr gleichzeitig die Möglichkeiten zur Veränderung des Systems an die Hand zu geben. Durkheim war davon überzeugt, dass ein Gemeinwesen nur überleben könne, wenn es eine Vision von sich selbst habe. Keine Nation ohne eine „Destination“ – ohne ein Bewusstsein von ihrer Herkunft, ihrer Verfassung und ihrer Bestimmung. Eine Gesellschaft, so Durkheim, sei eine geistig-moralische Entität. Und nur, wenn von Generation zu Generation weitergegeben werde, worin die geistig-moralische Legitimität des Gemeinwesens liege, seien die Menschen bereit, an diesem Gemeinwesen mitzuarbeiten und für dieses Opfer zu bringen. Der Staat erwartet, dass junge Männer und Frauen selbst ihr Leben opfern. Dafür brauche man starke Gründe. An den Schulen werde den Schülerinnen und Schülern eine Welt versprochen. Eine Welt, in der es Gutes und Böses gebe. Eine Welt, in der Hoffnungen wachsen und in der mit Enttäuschungen umgegangen werden müsse.

An der Schule, so Durkheim, müssen aus jungen Menschen Bürger gemacht werden. Die Schule erschien ihm deshalb als der hervorragende Ort, an dem Zivilreligion, also eine Vorstellung von der Herkunft, Verfassung und Bestimmung des Gemeinwesens im Lichte religiöser Überzeugungen gebildet werden könnte. Wir können gegenwärtig bei den Bildungspolitikern eine zunehmende Unbefangenheit feststellen, die zivilreligiöse Bildung der heranwachsenden Generation in die eigenen Hände zu nehmen. Damit droht aber die Gefahr einer staatseigenen Bewirtschaftung zivilreligiöser Bestände. Nun kann man das Bedürfnis des Gemeinwesens nach Zivilreligion schwerlich bestreiten. Der Kulturkampf hat allerdings gezeigt, dass ein Staat mit einer staatseigenen Zivilreligion, die mit den Konfessionen und Weltanschauungen im Lande konkurriert, auf die Dauer nur verlieren kann. Auch das laizistische Verdrängungsmodell Frankreichs, das Jahrzehnte lang als besseres und modernes Modell gepriesen wurde, offenbart seine Schwächen: ein katastrophaler Mangel an religionskultureller Bildung der heranwachsenden Generation und ein nur schwer zu kontrollierender Konflikt mit unterprivilegierten Muslimen sind dafür Anzeichen.

Hingegen erweist sich die so genannte „hinkende Trennung von Kirche und Staat“, die besser als „partnerschaftliches Verhältnis von Kirche und Staat“ bezeichnet werden sollte, als einkluges Modell des Ausgleichs und der innergesellschaftlichen Friedenssicherung. Nimmt man das Verhältnis von Kirchen und Staat in Deutschland als einen Spezialfall für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, wie es in liberalen politischen Theorien entworfen wird, dann ist das deutsche Modell kein anachronistisches, sondern ein modernes, die Zivilgesellschaftstärkendes Modell. Eine Zivilreligionstheorie geht also davon aus, dass ein Gemeinwesen ohne ein Bewusstsein von der eigenen Herkunft, Verfassung und Bestimmung nicht überleben kann und dass ich dieses kollektive Bewusstsein in ein Verhältnis zu den religiösen und weltanschaulichen Gewissheiten seiner Bürgerinnen und Bürger bringen muss. „Zivilreligion“ ist eine analytische Kategorie, mit deren Hilfe die bei den Bürgerinnen und Bürgern anzutreffenden Gewissheiten von der Bestimmung des eigenen Gemeinwesens im Lichte religiöser Grundüberzeugungen beschrieben werden.

Selbstverständlich gibt es auch Bürgerinnen und Bürger, die die Bestimmung ihres Gemeinwesens nicht in einen religiösen, sondern in einen weltanschaulichen Rahmen stellen. Aber auch diese nichtreligiösen Bestimmungen vermehren nur noch die Pluralität der Sinngebungen. Juden, Muslime, Christen, Atheisten haben je eigene Zivilreligionen ausgebildet. Und so gibt es nicht nur eine, sondern es gibt eine Pluralität von zivilreligiösen Modellen der Zustimmungsfähigkeit zum gegenwärtigen Gemeinwesen auch aus religiösen Gründen. Die Befürchtung Thomas Meyers, dass mit dem Begriff der Zivilreligion eine „Scheinbegründung für die neue Hegemonie der Religion im öffentlichen Raum“ versucht und eine Resakralisierung des öffentlichen Raumes angestrebt werde, ist unbegründet (Die Ironie Gottes. Die politische Kultur zwischen Resakralisierung und Religiotainment, in: Macht Glaube Politik? Religion und Politik in Europa und Amerika, Hg. Tobias Mörschel, Göttingen, 2006, 61–83, 70). Das Gegenteil ist zumindest für diejenigen Zivilreligionstheoretiker der Fall, die in der Tradition des Christentums stehen. Denn für sie ist die Unterscheidung von Vorletztem und Letztem, von Reich der Welt und Reich Gottes konstitutiv für ihre Theorie des Politischen. Das Konzept der Zivilreligion setzt also eine kritische Haltung zu den identifizierten zivilreligiösen Phänomenen in Gang. Vor zwanzig Jahren habe ich am Ende meiner Dissertation über Zivilreligion an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnert. In einem liberalen Staatswesen trägt der Souverän in der Tat nur ein fiktives Kleid. Des Kaisers Kleider sollen nur in den Vorstellungen der Bürger existieren (Rolf Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh, 1987, 300 f.). Die Zivilreligion eines liberalen Gemeinwesens lebt von der Lebendigkeit und Kraft der Religionsgemeinschaften. Denn dort wird eine Gottesbeziehung gebildet, die weiter und tiefer reicht als die bei Staatsakten und politischen Reden angerufenen Werte. Die Angst sei der Henker der Freiheit, hieß es in einem Kommentar zum „Idomeneo-Skandal“. Die Fähigkeit, mit der eigenen Angst umzugehen, wird also zu einer zivilgesellschaftlichen Kompetenz. Angst engt ein, wer die Angst überwindet, stellt seine Füße wieder auf weiten Raum. Angstüberwindungskompetenz zeichnet Religionen aus. Religionspsychologisch gewendet könnte man sagen: Religion ist das Jenseits der Angst. Wer sein Leben und seine Endlichkeit eingebettet weiß in die Weite der unendlichen Zugewandtheit Gottes zu jedem einzelnen Menschen, der wird einen größeren Beitrag zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit leisten können als derjenige, der ängstlich auf den unaufhaltsam verrinnenden Rest seines Lebens starrt. Widerstandskämpfer wie beispielsweise Martin Luther King oder Dietrich Bonhoeffer sind Zeugen einer solchen christlichen Freiheit. Insofern können die politischen Eliten froh sein, wenn es viele religiöse Bürger im Lande gibt. Und deshalb ist es richtig, wenn sich der Innenminister darum bemühen will, dass aus „Muslimen in Deutschland“ „deutsche Muslime“ werden. Mit Hilfe von Deutschkursen und Aufnahmetests allein wird das nicht gelingen. Es stellt sich vielmehr die Frage: Wie machen wir unser Land so attraktiv, dass jemand gerne Deutscher wird? Was können wir denen, die zu uns kommen, versprechen? Welchen Visionen von einer besseren Gesellschaft jagen wir nach? Niemand ist bereit, sein Leben für einen Haufen von Zynikern und Abzockern zu riskieren.

Der „Idomeneo-Skandal“ zeigt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft von einer Hermeneutik des Verdachts zu einer wohlwollenden Unterstellung von Normalität fortschreiten muss. Wer andere dauernd verdächtigt, leidet am Ende unter seiner von ihm selbst erzeugten Angst. Mit aller wünschenswerten Klarheit hat eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebene repräsentative Befragung von muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, gezeigt, dass sich die Einstellungen von Kopftuch tragenden Frauen von denen, die kein Kopftuch tragen, nicht unterscheiden. „Was denkt der Kopf unter dem Tuch?“, titelte „Die Zeit“ am 14. September 2006 und kommt zu dem Ergebnis: „Die erste repräsentative Untersuchung muslimischer Kopftuchträgerinnen zeigt: Sie sind ganz normale Frauen.“ Sie lassen sich von ihren Männern genauso wenig vorschreiben wie die Frauen ohne Kopftuch, sie haben die gleichen Karrierevorstellungen, die gleichen Lebensträume. Wo besteht heute vordringlicher zivilreligiöser Handlungsbedarf in Deutschland? Auf die Inklusion und auf die Vermeidung von Exklusion der deutschen Muslime ist zu achten! Auf die wachsende Selbstverantwortung des Individuums ist zu verweisen! Orte für eine stabile Streitkultur auch in religiösen Fragen sind bereitzustellen! Die Zivilreligion eines Landes ist immer volatil. Die Religionsgemeinschaften müssen diesen gesellschaftlichen Universalkonsens so beeinflussen, dass zivilreligiöse Rhetorik und Alltag ebenso wenig auseinander brechen wie die zivilreligiöse Stimmung im Lande und die Grundpositionen einer christlichen politischen Ethik. Zynikern jedenfalls darf die politische Arena nicht überlassen werden.

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