BuchbesprechungHansjörg Günther: Umwege in eine achtsame Moderne

„In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang / Versehen mit jedem Sterbesakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein." Bertolt Brecht, der die urbane Welt der Zwanzigerjahre besingt, hat Anteil daran, dass die Großstadt unter Gläubigen nicht den besten Ruf genießt. In seiner materialreichen Untersuchung, einer Dissertation im Fach Christliche Sozialwissenschaften, unternimmt Hansjörg Günther den Versuch, darzustellen, welche Hindernisse der „deutsche Katholizismus" zu überwinden hatte, ehe es ihm gelang, sich aus dem Schatten des Kulturkampfes (1871–1887) zu lösen und das Gefühl eigener „Inferiorität", also einer geistig-kulturellen Zurückgebliebenheit, abzustreifen – und damit ein weltoffenes Verständnis für „Religion und Urbanität" zu gewinnen, das beispielsweise dem charismatischen Berliner „Großstadtapostel" Carl Sonnenschein den Weg bereitete, um im expressiven Telegrammstil festzuhalten: „In dieser Stadt reicht die Kanzel nicht. In dieser Stadt reicht der Religionsunterricht nicht. In dieser Stadt reicht die Seelsorge nicht. Ueber ihre Grenzen hinaus müssen Presse, Buch, Flugblatt gehen."

Verfolgte das katholische Milieu bis zum Ersten Weltkrieg die Tendenz, ein Übermaß an staatsbürgerlicher Loyalität zu leisten und die wilhelminische Großstadtfeindlichkeit zu akzeptieren, kam durch den Untergang des Kaiserreiches das Modernisierungspotenzial der „katholischen Subkultur" (Thomas Nipperdey, Urs Altermatt) plötzlich voll zum Tragen. Gerade unter gebildeten Großstädtern gab es einen regelrechten Konversionsboom: Hugo Ball, Max Scheler, Gertrud von Le Fort und Edith Stein lauten bekannte Namen. „Die spezifische katholische Ungleichzeitigkeit", so der Theologe und Sozialwissenschaftler, „versprach gerade Künstlern und Intellektuellen Wege zum Heil".

Tatsächlich erweist sich Günthers Blick auf die Großstadt Berlin, den Kristallisationspunkt vieler soziologischer Diskurse, bei Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel, als fruchtbarer Ansatz. Denn wie neben vier anderen katholischen Zeitschriften vor allem die Relecture des „Hochland" aus den Zwanzigerjahren zu zeigen vermag, kommen darin verstärkt Brückenbauer zwischen „Katholizismus und Moderne" zu Wort. Sich dieser Auseinandersetzung selbst innovativ zu widmen, ist das Verdienst der Studie.

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Hansjörg Günther

Umwege in eine achtsame ModerneDie Großstadt im Fokus von Soziologie, Stadtkritik und deutschem Katholizismus

Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015. 495 S. 49,90 € (D)