LeitartikelKirche im Einwanderungsland

Dass die Religion muslimischer Migranten und Migrantinnen ausdrücklich als Integrationshindernis gebrandmarkt wird wie in der gegenwärtigen integrationspolitischen Debatte, ist in dieser Schärfe doch neu. Selbstredend dürfen sich die Kirchen in dieser Auseinandersetzung nicht verstecken. Natürlich werden sie als so etwas wie die berufenen Hüter des, wie es in diesem Kontext nicht ganz unproblematisch und geschichtsvergessen heißt, jüdisch-christlichen Erbes gesehen. Umso mehr müssen sie sensibel dafür sorgen, dass das Christentum nicht als Widerpart zum Islam funktionalisiert und instrumentalisiert wird. Als Glaubensgemeinschaft sind sie als - wer denn sonst? - Dialogpartner und als Anwälte auch für die religiösen Bedürfnisse der Muslime im Land gefordert.

Die Selbstfindungsprozesse des relativ frisch bekehrten „Einwanderungslands Deutschland“ sind meist heftig, die zyklisch wiederaufflammenden Debatten um Integration und Integrationsverweigerung, deutsche Leitkultur und kulturfremde Zuwanderer verlaufen stets hoch emotionalisiert. Rückschläge sind dabei nicht ausgeschlossen, und allein die Tatsache, dass im Jahr 2004 endlich eine Einigung über ein Zuwanderungsgesetz für Deutschland möglich war, verhindert noch nicht, dass von Zeit zu Zeit offenbar auch sehr grundsätzlich gestritten werden muss.

Insofern barg auch die jüngste Diskussion, die eine Buchveröffentlichung des chronischen Provokateurs Thilo Sarrazin Anfang September ausgelöst hat, zunächst kaum Überraschendes. Unter dem viel versprechenden Titel „Deutschland schafft sich ab“ warnt der inzwischen geschasste Bundesbankvorstand nicht nur vor den Folgen der Überalterung unserer Gesellschaft, sondern zeigt auch – versetzt mit kruden Vererbungstheorien – wie die Integration insbesondere muslimischer Migranten und Migrantinnen in Deutschland auf ganzer Linie zu scheitern droht.

Die in diesen Fragen Engagierten und Experten gerade auch in kirchlichen Institutionen und Organisationen wie der Caritas werden das quasi rituell Folgende mit einer gewissen Gelassenheit ertragen haben: den Medienhype und die „Boulevardisierung“ des Themas zu reißerischen Schlagzeilen ebenso wie die oft fehlende politische Auseinandersetzung mit den steilen Thesen selbst: Pflichtschuldig geäußerte „Abscheu“ und tiefe „Betroffenheit“ ob des vorgeblich bisher noch nie Gehörten mussten der erregten Öffentlichkeit offenbar genügen.

Dennoch scheint dieses jüngste Kapitel im Schauspiel um Deutschland und seine Einwanderer auch eine neue Qualität zu besitzen. Dass sich beispielsweise unter Migranten in städtischen Brennpunkten durchaus auch eine ausgesprochene Verweigerungshaltung gegenüber der deutschen Gesellschaft beobachten lässt, ist ebenso wenig neu wie das Phänomen, für das jetzt offenkundig nur das passende Stichwort gefunden wurde, „Deutschenfeindlichkeit“: eine höchst problematische Einstellung zu Deutschland und den Deutschen besonders unter Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft, die offenbar jede soziale Anschlussmöglichkeit verpasst haben. Dabei kann sich dieser Hass allerdings auch gegen andere, besonders aufstiegsorientierte und vermeintlich zu „angepasste“ Migranten und vor allem Migrantinnen richten.

Es hat in Deutschland sehr lange gedauert, bis beispielsweise die Politik entdeckte, dass die einstmals gerne ins Land geholten „Gastarbeiter“ auch einer Religion, im Fall der zahlreichen Türken beispielsweise einer den meisten Deutschen fremden Religion angehören. Dass jedoch die Religion der muslimischen Migranten ausdrücklich als Integrationshindernis gebrandmarkt wird, wie Sarrazin, vor allem aber seine durchaus zahlreichen Verehrer und Verteidiger behaupten, ist in dieser Schärfe doch neu.

Mit der offenbar nur rhetorisch gemeinten Frage „Wie viel Islam verträgt Deutschland?“ titelte mit sicherem Gespür für Volkes Stimmung am 4. Oktober die „Bild“-Zeitung – adressiert an Bundespräsident Christian Wulff. Dieser hatte in seiner Rede zum „Tag der deutschen Einheit“ den gut gemeinten Versuch unternommen, die zu entgleisen drohende Migrations- oder Islam-Debatte mit einer Hymne an die kulturelle und religiöse Vielfalt im Land zu beruhigen. Deutschland sei in Fragen der Integration viel weiter, als es die derzeitige Auseinandersetzung vermuten lasse, versicherte der Bundespräsident, benannte aber durchaus auch den gleichwohl großen Nachholbedarf etwa im Bildungsbereich und versprach, die Sorgen und Ängste der heimischen Bevölkerung sehr ernst zu nehmen.

Der Satz aber, über den Deutschland nun seit Wochen nicht mehr zur Ruhe kommen will, lautete in einer Mischung aus Wertung und schlichter Beschreibung: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, so wie zweifelsfrei Christentum und Judentum. Als der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble im Kontext der ersten so genannten Islamkonferenz 2006 genau dasselbe sagte, fand er kaum größere Resonanz, schien er doch nur etwas ganz Selbstverständliches zur Sprache zu bringen.

Eine Neuauflage der Leitkultur-Debatte

Wulff hingegen befeuerte mit diesem Satz geradezu den schon schwelenden Streit über den Islam und seine Rolle im Land und sorgte für eine Neuauflage der bislang meist klanglos versandeten „Leitkultur“-Debatten. Vergeblich mahnten da in diesen Tagen Experten wie der Migrationsforscher Klaus Bade, in der Intergrationsdebatte doch nicht zu sehr die Muslime in den Vordergrund zu stellen oder eine „durchweg muslimische Problemzone“ zu beschwören. Empirische Studien sollten nachdenklich machen: So schneiden beispielsweise Italiener bei der Erhebung von Bildungserfolgen durchschnittlich schlechter ab als die Türken.

Während sich aber die Vertreter muslimischer Verbände über die Geste des Präsidenten herzlich freuten und der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime gar hoffte, durch die Rede werde ein „Ruck“ durch die muslimische Gesellschaft gehen, erntete Wulff von anderer Seite anschwellend heftige Kritik: Zuvorderst aus den Reihen der eigenen Partei, wo angesichts der gerade eifrig betriebenen parteiinternen Selbstvergewisserung über das Konservative in der Union das Thema gerade recht zu kommen schien.

Das Gros der Kritiker sah in der allzu unbedachten Umarmung der Muslime die unverwechselbare Prägung Deutschlands durch das jüdisch-christliche Erbe relativiert. Die Diskussion gipfelte schließlich in der Erklärung des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, neue Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie der Türkei oder arabischen Ländern seien prinzipiell unerwünscht wegen deren Schwierigkeiten mit der Integration.

Selbstredend dürfen sich die Kirchen in einer solchen Debatte über nicht-integrationsbereite Muslime beziehungsweise den Islam als Integrationshemmnis nicht verstecken. Da traf es sich gut, dass die diesjährige so genannte „Interkulturelle Woche“ in die Hochphase der Sarrazin-Wulff-Auseinandersetzung Anfang Oktober fiel. So nutzte „Ruhrbischof“ Franz-Josef Overbeck seine Predigt im ökumenischen Eröffnungsgottesdienst in Essen zur Warnung vor einem „integrationspolitischen Ping-Pong-Spiel“, bei dem die einen auf Versäumnisse der Zuwanderer und die anderen auf die der Politik hinweisen. Integration gelinge nur dann, wenn sie als eine gesamtgesellschaftliche und langfristige Aufgabe verstanden werde, die Zugewanderte und Einheimische mit eigenen Beiträgen aktiv angehen. Die Interkulturelle Woche, die in diesem Jahr unter dem Motto „Zusammenhalten – Zukunft gewinnen“ stand, ist eine Initiative der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie, mitgetragen von Kommunen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Ausländerbeiräten.

Ohne den Namen direkt zu nennen, distanzierte sich der Bischof sehr deutlich von Sarazzin: Das christliche Welt- und Menschenbild widerspreche allen Theorien, die unversöhnliche Gegensätze zwischen Kulturen konstruierten. „Es widerspricht jeder Einteilung der Menschheit in Gruppen oder Rassen, die einen unterschiedlichen Wert besitzen, unterschiedlich fleißig, intelligent, volkswirtschaftlich gewinnbringend, friedlich oder was auch immer sein sollen.“

Zudem setzen die Kirchen in ihrem Gemeinsamen Wort zur Interkulturellen Woche schon einen Gegenakzent zu der islamfixierten und überhitzten Debatte, indem sie unmissverständlich noch weitere, gleichfalls drängende migrationspolitische Brennpunkte benennen: den Flüchtlingsschutz in dem mehr und mehr zur Festung werdenden Europa, die Integration der im letzten Jahr in Deutschland – gerade auf Drängen der katholischen Kirche – aufgenommenen irakischen Flüchtlinge, die nach wie vor eklatanten ungleichen Bildungschancen von Migranten und Migrantinnen überhaupt, die überfällige Überprüfung des so genannten „Asylbewerberleistungsgesetzes“ und schließlich das Schicksal derer, die ohne Aufenthaltsrecht und Duldung in Deutschland leben, geschätzt zwischen 200 000 und 450 000.

Mit berechtigtem Stolz erinnern die Kirchen dabei in diesen jährlichen gemeinsamen Erklärungen immer wieder daran, dass sie seit gut 30 Jahren schon mahnen, die Realität eines auch religiös vielfältiger werdenden Einwanderungslands anzuerkennen und sich den damit verbundenen Herausforderungen ernsthaft zu stellen. Jahrzehnte lang haben die Kirchen so unbeirrt und häufig auch für die Politik unbequem die Anwaltschaft für Zuwanderer, Flüchtlinge, Asylbewerber und Illegale übernommen – unvergesslich der nimmermüde Einsatz des im letzten Jahr verstorbenen langjährigen Vorsitzenden der Migrationskommission der Bischofskonferenz, der Münsteraner Weihbischof Josef Voß. Dies sollte sie auch in der aktuellen integrationspolitischen Diskussion über jeden Verdacht stellen, hier womöglich Eigeninteressen zu verfolgen.

Keine Beruhigungspille, sondern Aufgabenbeschreibung

Auch bei den Kirchen stieß der Bundespräsident auf Lob und Kritik: So mahnte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, die Muslime gehörten zwar zu uns, gleichwohl seien sie vielen von uns fremd, und ihre Integration stehe in vielem noch aus. Auch der Islambeauftrage der Bischofskonferenz, der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke, fandLob und Tadel: Es sei fraglos ein wichtiges Zeichen gewesen, dass Wulff gerade zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit den Muslimen die Hand gereicht habe. Darüber aber, so sorgte sich Jaschke, dürfe die eigene christliche Kultur nicht hintangestellt werden. Deutschland sei eben kein „Multikulti-Land“, wenn über 60 Prozent der Deutschen christlichen Kirchen angehörten. Es reiche nicht, wie der Bundespräsident nur von christlich-jüdischen Wurzeln zu sprechen, mahnte auch der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst, dem dies zu sehr nach abgeschlossener Vergangenheit und Geschichte klang.

Auch der amtierende Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, forderte einen differenzierteren Blick: Der Islam sei zwar Teil der Gesellschaft, aber noch nicht eingewoben in die Verfassungsordnung und -wirklichkeit. Viele Fragen seien noch ungeklärt, etwa das Verhältnis Staat und Religion, die Stellung der Frau und die Gültigkeit der Scharia. Sein Amtsvorgänger Wolfgang Huber warnte, die Äußerung des Präsidenten als „Beruhigungspille“ misszuverstehen. Huber will in dieser eher eine „Aufgabenbeschreibung“ sehen, darüber zu diskutieren, welche Gestalt der Islam haben muss, der auf Dauer zu Deutschland gehören soll.

Als Glaubensgemeinschaft gefordert

Selbstredend werden die Kirchen in Deutschland als so etwas wie die berufenen Hüter des, wie es in diesem Kontext nicht ganz unproblematisch und geschichtsvergessen heißt, jüdisch-christlichen Erbes gesehen. Dabei erinnert der in solchen Fragen stets unbestechliche evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf angesichts der in diesen Tagen vielfach bemühten These von dem auf christlich-jüdischem Erbe ruhenden Grundgesetz: Der moderne Verfassungsstaat, und speziell der Rechtsstaat in Deutschland, sei weithin gegen die Kirchen durchgesetzt worden; bis weit in die fünfziger Jahre habe man in den Diskursen beider großer Kirchen den Begriff der Menschenrechte eher kritisch gesehen.

Erst recht aber müssen die Kirchen in dieser Debatte sensibel dafür sorgen, dass das Christentum nicht als Widerpart zum Islam funktionalisiert und instrumentalisiert wird. Ganz alltagspraktisch wird das allzu penetrante Beschwören einer christlichen Leitkultur auch bei den Aufgeschlossenen und Gutmeinenden unter den Andersgläubigen eher Abwehrreflexe denn Dialogbereitschaft auslösen.

Als Glaubensgemeinschaft sind die Kirchen in dieser Debatte um die Muslime im Einwanderungsland Deutschland dennoch besonders gefordert, als – wer denn sonst? – Dialogpartner und als Anwälte: für den Wunsch muslimischer Gläubiger etwa nach angemessenen Gottesdiensträumen ebenso wie nach einer gesicherten Glaubensunterweisung der nachwachsenden Generation. Unmissverständlich hat so die katholische Kirche in den letzten Jahren den Neubau von Moscheen ebenso befürwortet wie einen islamischen Religionsunterricht.

Ebenso glaubwürdig wird der verantwortliche Umgang mit den Schattenseiten der eigenen Geschichte – gerade der lange Weg zu Religionsfreiheit und den Menschenrechten im Allgemeinen – die Kirche protestieren lassen, wo alle muslimischen Migranten wie in den letzten Tagen und Wochen so oft über einen Leisten geschlagen werden.

Natürlich ist die im Kontext der Sarrazin-Wulff-Debatte erneut und auch schon fast reflexhaft erhobene Forderung nach Gleichstellung der Muslime in Deutschland mit den Kirchen rechtlich hoch problematisch. Ende September hat sich der Deutsche Juristentag dem Thema gewidmet „Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?“: Muss der Gesetzgeber den Muslimen entgegenkommen oder sollten sich umgekehrt die Muslime stärker nach den Angeboten des Staates ausrichten?

Dass aber die juristische Gleichsetzung mit Kegelclubs, dem ADAC oder Betriebssportvereinen einer Religionsgemeinschaft unwürdig sei, wie der Bonner Staatsrechtler Christian Waldhoff mahnte, müsste gerade für die Christen im Land doch nachvollziehbar sein. Mit seinem Vorschlag einer neuen Organisationsform unterhalb des Körperschaftsstatus konnte sich Waldhoff beim Juristentag allerdings unter den versammelten Kollegen nicht durchsetzen.

Die christlichen Kirchen tragen in dieser Debatte eine besondere, genuine Verantwortung: „Das Integrationsengagement der Kirche erwächst aus ihrem Auftrag und Selbstverständnis“, heißt es in dem bemerkenswerten Wort der deutschen Bischöfe zur Integration von Migranten „Integration fördern – zusammenleben gestalten“, veröffentlicht im September 2004. Die Botschaft der Bibel sei geprägt von der Wertschätzung der Gastfreundschaft, der Achtung und des Schutzes für die Fremden. Das Evangelium der Nächsten- und Fremdenliebe fordere von der Kirche entschiedene Taten der Solidarität mit den Fremden. Dazu gehöre auch die Unterstützung bei der Integration in die deutsche Gesellschaft.

Dabei lässt sich der bischöflichen Erklärung in keine der beiden Richtungen Blauäugigkeit vorwerfen: weder in den Grundforderungen an die Zugewanderten, noch in denen an Mehrheitsgesellschaft, Staat und Gesetzgeber. Die Verpflichtung auf das „ganz praktische Zeugnis für die Wertschätzung und Beheimatung von Migranten“ ist der selbstauferlegte Glaubwürdigkeitstest. Allerdings sind bischöfliche Ermahnungen und Interventionen, die überzeugende Praxis von kirchlichen Organisationen das Eine. Das Andere: „Auch die Gläubigen in Deutschland müssen angesichts der Realitäten eines Einwanderungslandes zeigen, dass sie wirklich aus den üblichen national und kulturell geprägten Mustern herauszutreten in der Lage sind.“

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