Zu einem neuen Buch von Jürgen HabermasVerteidiger der Religion

Immer wieder hat Jürgen Habermas betont, dass Ideen und Prinzipien der Neuzeit im Erbe der jüdisch-christlichen Glaubenstradition wurzeln, sich selbst jedoch als religiös unmusikalisch bezeichnet. Wie positioniert er sich in seinem jüngsten Buch angesichts der Widersprüche zwischen einer behaupteten Wiederkehr der Religion und einem zunehmend aggressiven Naturalismus?

Die Begegnung von Jürgen Habermas mit damals Kardinal Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München im Januar 2004 hat aufmerken lassen. Zu unterschiedlich sind die beanspruchten geistesgeschichtlichen Traditionen, als dass man ohne weiteres ein gegenseitiges öffentliches Interesse hätte vermuten können.

Denn während Habermas sich der europäischen Aufklärungstradition verpflichtet weiß, die historischen Säkularisierungsprozesse aus einer inneren Notwendigkeit heraus verstehen lernt und auch bejaht, blieb Ratzinger gegenüber der Neuzeit immer skeptischer. Im Grunde stehe hinter dem „implizite(n) Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen“ der Wille, „endlich wie ein Gott“ sein zu können (Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen, 2. Aufl., Freiburg 2003, 200) – theologisch gesprochen: der von der Sünde korrumpierte Wille. Auch die Ansprachen, die er bisher als Benedikt XVI. hielt, lassen keine sich verändernde Einschätzung hinsichtlich des Neuzeitphänomens erkennen. Die Kontinuität zu seinem Vorgänger im Papstamt ist unübersehbar.

Die Gründe hierfür sind bekannt. Zu stark ist die Skepsis gegenüber einer säkular gewordenen Vernunft. Der Angriff auf die Menschlichkeit im Herzen Europas durch das Naziregime und andere Ideologien, die unübersehbaren Pathologien einer Vernunft, die nur noch die Dimension technischer Rationalität zu kennen scheint und die Kräfte des Machbaren sich ungebremst entfesseln lässt, schließlich ein diesseitsfixierter Konsumismus lassen das Lehramt mit wachsendem Nachdruck auf die Folgen hinweisen, die der Verlust seiner historisch gewachsenen christlichen Identität für Europa hat. Die angedeuteten Vernunfteskalationen werden allesamt als Konsequenz eines gottlos gewordenen Europas ausgedeutet.

Kann eine Rechristianisierung Europas den Säkularisierungsauswüchsen Einhalt gebieten?

Zusätzlich genährt wird die Skepsis gegenüber den europäischen Säkularisierungsprozessen dadurch, dass auf Weltmaßstäbe bezogen Europa der einzige Kontinent zu sein scheint, wo die öffentliche Bedeutung der Religion abnimmt. So werden Grundlagen des Zusammenlebens ausdrücklich ohne Gottesbezug verständigt. Europa scheint hier einen Sonderweg zu beschreiten. Im Münchener Akademiegespräch hat Ratzinger explizit die Möglichkeit erwogen, „ob nicht aus kulturvergleichender und religionssoziologischer Sicht die europäische Säkularisierung ein Sonderweg sei“ (Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, 54). Und die Konsequenz? Stellt sich in dieser Diagnose nicht die Frage, ob nicht einzig und allein eine Rechristianisierung Europas den Säkularisierungsauswüchsen noch Einhalt gebieten kann, so dass die Wahl des Namens Benedikt auch in diesem Sinn als Programm für ein sich zermürbendes Europa verstanden sein will?

Die Rede von der Wiederkehr der Religion leidet unter einer seltsamen Unschärfe

Auch Jürgen Habermas teilt in seinem neuen Buch „Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze“ (Frankfurt 2005) die Sonderwegsdiagnose. Wie viele andere auch zeigt er sich überrascht von der „Revitalisierung wie der weltweiten Politisierung von Glaubensgemeinschaften und religiösen Überlieferungen“ (7). „Aus dem Normalvorbild für die Zukunft aller übrigen Kulturen wird ein Sonderfall“ (121). Zumindest für die außereuropäischen Kontexte scheint sich die These, dass die voranschreitenden globalen Modernisierungsprozesse die Überlieferungsströme der Religionen zum Versiegen bringen würden, als dogmatischer Schlummer zu entpuppen. Freilich wird man diese These auch auf die europäischen Kontexte nur noch mit Vorsicht anwenden können. Denn ob Europa überhaupt noch von einer Revitalisierung der religiösen Kräfte ausgenommen ist, ist längst nicht mehr klar. Auch hier hat die Sehnsucht nach Religion breite Bevölkerungskreise erreicht. Die offensichtlich unstillbare Sehnsucht des Menschen nach einem Transzendenten, nach Verlässlichkeit in der Lebensführung und zeitlos gültigen Werten entlädt sich in religiösen Erweckungsszenarien.

Aber man kann nur davor warnen, angesichts der Wiederkehr des Religiösen in den durchsäkularisierten Gesellschaften Europas nun den Frühling des Christentums zu wittern. Die Rede von der Wiederkehr der Religion leidet unter einer seltsamen Unschärfe. Die Sehnsucht nach religiöser Bindung wird gestillt wie es gefällt. Zu viel Reflexion wirkt hier störend. Auf Autorität fixierte fundamentalistische und evangelikale Gruppen bilden dabei nur Spielarten dieser Form von Bedürfnisbefriedigung. In einer großen Ökumene vereint finden sich ansonsten ausgesprochen heterogene Gruppen. Dass der Schlaf der Vernunft in Sachen Religion Ungeheuer gebären könnte, wird im Wohlgefühl gemeinschaftlichen Erlebens verdrängt. Von der Suche nach einer Synthese von Glaube und Vernunft, Christentum und Kultur ist wenig zu verspüren.

Herbert Schnädelbach jedenfalls hat jüngst zu bedenken gegeben, dass die „Wiederkehr der Religion“ bestenfalls die Wiederkehr eines religiösen Bedürfnisses sei und beiläufig auch auf die penetranten Funktionalisierungen der Religion als Beleg verwiesen: „Wenn Religion nur in der Form wiederkehrt, dass alle wissen, wozu sie gut wäre, um sie dann in maßgeschneiderter Form einzusetzen“, so bestätige dies nur, „wofür alles spricht – dass wir hier im Westen bereits in einem postreligiösen Zeitalter leben“ (Die Zeit, 18. August 2005). Der Religionsbegriff wird gegenwärtig so inflationär gebraucht, dass weder das Stichwort vom Ende noch das von der Wiederkehr der Religion allzu viel auszusagen vermögen. Sehr wohl ist aber mit Schnädelbach zu diskutieren, ob das europäische Zeitalter nicht zu guten Teilen ein postchristliches ist. Auch wenn die Sehnsucht nach Religion ungestillt ist, sie vielleicht sogar angesichts der ungebremsten Modernisierungsschübe, ihrer ökonomischen Härten und sozialen Kälten wächst, leuchtet der Wahrheitsanspruch des Christentums noch lange nicht ein. Denn werden, wenn der Logos des Glaubens ins Zentrum der Verkündigung rückt, die religiös Begeisterten nicht schnell von der Müdigkeit überwältigt?

Es sind letztlich auch nicht diese Religionsphänomene, die hinter der Sonderwegsvermutung von Habermas stehen. Die von ihm für die europäische Neuzeit reklamierte Übersetzung von Gehalten der religiösen Tradition in eine säkulare Sprache lebt gerade von Rationalitätsansprüchen. Sie entwickeln dort ein Eigenleben jenseits der Religion. Was übersetzbar sein soll, muss freilich verstanden sein. Verstehen zu können setzt indes auch voraus, um die historische Herkunft des eigenen Selbstverständnisses zu wissen. Deswegen kann es der säkularen Vernunft auch keineswegs gleichgültig sein, ob die Moderne gedächtnislos wird und ihr religiöses Erbe vergisst. Wenn etwa der theologische Begriff der Gottebenbildlichkeit dem religiös Unmusikalischen auch künftig noch etwas aussagen soll, da in ihm die Idee der unverzweckbaren Würde einer jeden menschlichen Person vorgebildet ist, darf sein semantischer Gehalt in den wirren religiösen Aufbruchsstimmungen nicht verwaschen werden. Eine sich auf das Menschenrechtsethos verpflichtende säkulare Vernunft wird deshalb, ja muss in diesem Sinne konservativ sein; sie muss an der Unterscheidung der Geister und damit an semantischer Eindeutigkeit interessiert sein.

Immer wieder hat Habermas betont, dass Ideen und Prinzipien der Neuzeit im Erbe der jüdisch-christlichen Glaubenstradition wurzeln. Aber es ist ein Erbe, dessen Glaubenssubstanz sich für viele Zeitgenossen der späten Moderne aufgebraucht hat, so dass – durchaus von Melancholie begleitet – nur noch die rettende Aneignung seiner humanisierenden Gehalte bleibt. Der Glaube an den barmherzigen und Gerechtigkeit verheißenden, den Tod überwindenden Gott hat in Europa zunehmend seine Plausibilität eingebüßt. So bedeutet die Erfahrung, dass wir auf die Gunst anderer und vielleicht sogar auf die Gunst eines Gottes angewiesen sind, für Habermas auch völlig zu Recht „noch keine Lizenz für die Annahme eines göttlichen Heilsversprechens“ (Texte und Kontexte, Frankfurt 1991, 143).

Übersetzung in säkulare Vernunft

Anders formuliert: Das Bedürfnis nach Sinn garantiert noch lange nicht dessen Erfüllung. Die Sehnsucht nach einem rettenden Gott verspricht noch nicht dessen Existenz. An dieser Differenzierung rüttelt Habermas auch in seinem neuen Buch nicht. Der Glaube an einen rettenden Gott speist sich vielmehr aus einer der philosophischen Vernunft in ihrer Wirklichkeit nicht mehr vergewisserbaren Quelle: der Offenbarung. Dem religiös Unmusikalischen ist diese Quelle versiegt.

Keineswegs aber hat sich damit für diesen das Religionsthema bereits erledigt. Vernünftig einsichtig zu machen ist immer noch, warum auch künftig mit einer „fortdauernden Nicht-Übereinstimmung von Glauben und Wissen“ zu rechnen ist. Diese Nicht-Übereinstimmung verdiene aber „nur dann das Prädikat ,vernünftig‘, wenn religiösen Überzeugungen auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein epistemischer Status zugestanden wird, der nicht schlechthin irrational ist“ (118). Habermas wendet sich damit gegen die Vorstellung, Religion müsse notwendig in Wissen aufgehoben werden. Ausreichend für den nichtreligiösen Bürger ist es, dass der Glaube intern logisch ist – was sehr wohl die Möglichkeit einschließt, dass er sich einer freien geschichtlichen Offenbarung Gottes verdankt, da eine solche nicht a priori mit den Mitteln der Vernunft auszuschließen ist. In ihrer gegenseitigen epistemischen Würdigung gehen dabei religiös musikalische und religiös unmusikalische Bürger ein klares Bündnis ein: Beide reklamieren das Prinzip Freiheit gegen einen materialistischen Naturalismus, der nur noch physikalische Kausalitäten zulässt und dem Wort Freiheit seinen Gehalt bestreitet: „In der politischen Öffentlichkeit genießen deshalb naturalistische Weltbilder, die sich einer spekulativen Verarbeitung wissenschaftlicher Informationen verdanken und für das ethische Selbstverständnis der Bürger relevant sind, keineswegs prima facie Vorrang vor konkurrierenden weltanschaulichen oder religiösen Auffassungen“ (118).

Jedenfalls theoretisch. Denn andererseits ist auch nicht zu übersehen, mit welcher Hartnäckigkeit längst auch in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen sich die Stimmen mehren, die dem Menschen seine Freiheit absprechen. Zu den Zeichen der Zeit gehört nicht nur eine Wiederkehr des Religionsphänomens. In einer seltsamen Gleichzeitigkeit wird ein materialistischer Monismus propagiert, der alles, was bisher als spezifisch menschlich angenommen wurde, konsequent naturalisiert. Weder ist Geist noch Freiheit, sondern alles ist nur physikalisch zu erklärende Natur – so lautet die das menschliche Selbstverständnis am gründlichsten umstürzende Einflüsterung der Gegenwart (vgl. zur Diskussion etwa Christian Geyer [Hg.], Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt 2004). Wenn Habermas sich auch in diese Debatte einmischt und in einem Buch die Themenfelder Naturalismus und Religion verhandelt, ist dies kein Zufall. Beide sind nach seinem Dafürhalten demokratiegefährdend. Ein Naturalismus in jedem Fall, da er mit seiner Streichung des Freiheitsbegriffs die Basis demokratischer Selbstverständigungsmöglichkeiten einer Gesellschaft ausmerzt. Ohne in Freiheit gründende Meinungsbildung annehmen zu können, verliert ein demokratisches Gemeinwesen seine Grundlage. Religion wird dann zu einer Gefahr für die Demokratie, wenn sie sich als vernunftfeindliche Orthodoxie und somit als Fundamentalismus gibt. Angesichts dieser Tendenzen gibt es für den Demokraten Habermas nur eine Möglichkeit: Für das Vernunftprinzip und damit für die Wirklichkeit menschlicher Freiheit zu streiten.

Glaube und praktische Vernunft vor den Herausforderungen des Naturalismus

Gegen den reduktionistischen Naturalismus rekurriert Habermas auf die „,epistemische Unverfügbarkeit‘ der erlebenden und leistenden Subjektivität des Menschen“ (215). Die Ontologisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem naturalistischen, auf ,harte‘ Fakten geschrumpften Weltbild sei „nicht Wissenschaft, sondern schlechte Metaphysik.“ Schlechte Metaphysik zu liefern war eigentlich symptomatisch für ein Denken, welches, ohne die Grenzen endlicher Erkenntnis zu respektieren, den Überstieg nimmt zu einem Absoluten. Die Theologie steht stets im Verdacht, dieses Absolute – in ihrer Sprache Gott – bereits philosophisch in seiner Wirklichkeit vergewissern zu wollen. Kaum aber wird die Theologie bescheiden und erkennt, dass Aussagen über Gott nur dann möglich sind, wenn er sich zu seinem eigenen Exegeten macht – sprich: sich selbst offenbar macht – bekommt es das kritische Denken mit einer neuen Metaphysik zu tun, die sich anheischt, sich an die Stelle der Theologie zu setzen. Gegenüber solchen deterministischen Theorien erweist sich Habermas als entschiedener Verteidiger der Freiheit. Zwar bestreitet er nicht die „Abhängigkeit des bewussten Lebens vom organischen Substrat“ (183), von dem, was wir Körper nennen. Wogegen er sich aber wendet, sind Programme, die „als ,mentale Verursachung‘ begriffene Willensfreiheit“ als einen „Schein“ zu entlarven beanspruchen, „hinter der sich eine durchgängige kausale Verknüpfung neuronaler Zustände nach Naturgesetzen verbirgt“ (155). Die Konsequenz hieße: Die Möglichkeit, sich vernünftig nach Gründen zu orientieren und selbstinitiativ zu bestimmen, entfiele. Die Vorstellung eines Handelns aus selbstbestimmter Freiheit wäre eine Illusion.

So wie selbstverständlich auch der Glaube, gedacht als die freie Überantwortung des Menschen an Gott, eine Illusion wäre: ein Schein von Freiheit, produziert durch neuronale Zustände. Religiöse Unmusikalität wäre in der Konsequenz eines solchen materialistischen Monismus selbstverständlich auch nur ein neuronaler Zustand. Der am überlieferten Gott zerbrochene Glaube, die trostlose Melancholie des Menschen angesichts des unglaubwürdig gewordenen Gottes hätte sich als Schein entlarvt. Aber kann man das wollen?

Die Melancholie bleibender Ungetröstetheit

Habermas weiß um die Melancholie bleibender Ungetröstetheit. Aber lieber zahlt er diesen Preis, als der naturalistischen Versuchung zu erliegen, alle Bewusstseinsphänomene nur noch als Resultate neuronaler Verschaltungen zu deuten. Ungetröstet bleiben zu müssen ist der Preis derjenigen, die den Glauben an Gott als rettende Instanz zwar nicht mehr existentiell übersetzen können, an der Freiheitsbegabung des Menschen aber noch lange nicht rütteln. Wenn Habermas die „in der Selbsterfahrung gegenwärtige Spontaneität des Handelns“ davor schützt, eine „anonyme Quelle“ zu sein, sondern mit einem „Subjekt“ identifiziert, „das sich ein ,Können‘ zuschreibt“ (164 f.), so zeigt sich, wie präsent Intuitionen der jüdisch-christlichen Tradition auch da fortwirken, wo der Glaube selbst existentiell nicht (mehr) übersetzbar ist: Die Beziehungswilligkeit dieses Gottes setzt Freiheit auf Seiten des Menschen voraus. Im kulturellen Humus dieses Glaubens entsteht die Neuzeit, die sich den Gedanken der Freiheit zum Prinzip ihres Denkens erhebt. Kant kennt den Begriff einer Freiheit, die eben dieses Moment der Bestimmbarkeit des Willens durch sich selbst meint – und spricht doch, so Habermas, erst dann von wahrer Autonomie, „wenn sich der Wille von Gründen binden lässt“, die sich „aus Verpflichtungen“ ergeben, „die wir uns als Personen gegenseitig schulden“ (165). Der konsequente Naturalist wird freilich auch diese Möglichkeit, sich jenseits des Glaubens an einen Schöpfergott als freies und zur Verantwortung herausgerufenes Wesen zu verstehen, als Schein entlarven. Denn könnten wir nicht einer Illusion erliegen, wenn wir uns ein solches Können aus Freiheit unterstellen? Könnte nicht der Glaube an ein solches Können ausschließlich ein ,neuronaler Zustand‘ sein? Erzeugt durch Kausalitäten, die von Freiheit nichts wissen?

Dies ist die Behauptung des konsequenten Naturalisten. Habermas macht dagegen darauf aufmerksam, dass dieser Behauptung ein stillschweigender Perspektivenwechsel zugrunde liegt. Es ist der „Wechsel von der Teilnehmer- zur Beobachterperspektive“, der den Eindruck vollständiger Determination erweckt. Durch diesen Perspektivenwechsel können Handlungsmotivationen ihren epistemischen Status von freiheitsermöglichenden Bedingungen verlieren und nun den Status von handlungsdeterminierenden Faktoren erlangen. De facto aktualisiert Habermas hier Argumente, die bereits um 1800 formuliert wurden. Verabsolutiert man die theoretische Vernunft, indem man nur noch physikalische Kausalitäten anerkennt, und lässt diese als einzige wissenschaftlich legitime Rationalität zu, so verlieren sich alle vermeintlichen Freiheitsäußerungen in einer reinen Scheinwelt. Nur – mit welchem Recht eigentlich wird die in der Selbsterfahrung gegenwärtige Spontaneität meiner selbst ihres Wahrheitsgehaltes beraubt? Auch die Naturwissenschaften sind nicht davor gefeit, in einen dogmatischen Schlummer zu verfallen. Dass der reale Vollzug menschlicher Freiheit von vielfältigen naturalen Bedingungen mitbestimmt ist, ja sogar ermöglicht ist, ist selbstverständlich. Habermas weist mit Nachdruck hierauf hin. Eine philosophische (aber auch eine theologische!) Anthropologie, welche die naturalen Aufkommensbedingungen von Freiheit verschweigt, verfehlt die Wirklichkeit menschlicher Existenz. Wer aber nur noch determinierende Natur sieht, legt ein Design auf die Welt und den Menschen, das an den Phänomenen vorbeigeht.

Verbündete im Namen der Freiheit

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderung des Naturalismus gewinnt die Rede vom „Ende der Neuzeit“ eine ganz andere Brisanz. Auch in der Logik der Naturalisierungsprogramme ist die Neuzeit am Ende. In dieser Logik sind aber selbstverständlich auch alle vorneuzeitlichen philosophisch-theologischen Anthropologien am Ende, die Freiheit zwar noch nicht zum reflexiven Prinzip subjekthafter Selbstverständigung gemacht hatten, deren Wirklichkeit aber selbstverständlich voraussetzten. Wer nicht das Fatum absoluter göttlicher Prädestination predigt, sondern Glaubenkönnen und Sündigenkönnen als Auszeichnung des Menschen begreift, die in dessen Freiheit gründet, wird sich deshalb zwangsläufig zum Anwalt der Freiheit gegenüber ihren Verächtern machen und sich solidarisch mit der Intuition der Neuzeit erklären, Freiheit als Prinzip der Selbstverständigung bewussten Lebens zu begreifen. Dies ist umso leichter, als solche Anwaltschaft die Schattenseiten der neuzeitlichen Freiheitsprozesse überhaupt nicht verschweigen muss und auch nicht wird, da die sich zunehmend auf sich selbst besinnende autonome Vernunft um ihre wesensgemäß (!) aufgegebene Anwaltschaft für den anderen Menschen weiß. Es ist eine Anwaltschaft, die sich dazu bestimmt, dem anderen Menschen seine Würde schulden zu wollen, seinem um Anerkennung seiner Würde bittenden Blick nicht auszuweichen. Dies meint Autonomie. Dem anderen Menschen schulden zu wollen, was dieser zum Leben benötigt, unbedingt, und gerade darin wahrhaft Mensch zu sein. Auch verschließt sich diese Weise autonomen Daseins nicht gegenüber der Möglichkeit Gottes. Denn sie empört sich nicht nur gegen alle menschenverachtenden Ideologien, sondern registriert die Grenze des eigenen Könnens. Die Handlungsgrenzen setzende Macht des Todes verweist unnachgiebig auf einen Gott, der den Tod zu töten vermag und Gerechtigkeit und Heil, von keiner Zeit mehr bedrohtes Glück schenkt. Kant mag zwar den Glauben auf eine Ethik verkürzt haben. Aber dass moralisches Handeln, auch wenn es ausschließlich um seiner selbst willen zu geschehen hat, sich in die Hoffnung auf Gott eingewiesen findet, weil es zu schwach ist, endgültiges Glück zu gewähren, ist ein Gedanke, der nicht vergessen werden darf. Selbst wenn Habermas die neuzeitlichen Säkularisierungsprozesse für irreversibel hält, so erinnert er an die Gefahr, die ein Vergessen dieser Sehnsucht für die säkulare Vernunft bedeutet.

Das Phänomen religiöser Unmusikalität ist nicht auflösen

Bei aller Gemeinsamkeit im Eintreten für die Würde menschlicher Freiheit sind an dieser Grenze des Denkens, an der der Gottesgedanke unausweichlich wird, doch auch Grenzen der Verständigung zwischen Gläubigen und religiös Unmusikalischen gesetzt. Diese Grenzen führen in ein theologisches Dunkel. Denn die Frage, warum die einen glauben können und die anderen nicht, lässt sich nicht mehr auflösen. Vernünftig zu riskieren ist aber noch der Gedanke, dass Gott eine Geschichte gewollt hat, in der diese Alternativen möglich sind, eben weil er nur in freier Anerkennung Gott für den Menschen sein will. Die Form des Glaubens, nur existentiell sein Wagnis eingehen zu können, entspricht dann der Absicht Gottes mit seiner Schöpfung. Auch der säkularen Vernunft ist dieser Gedanke einsichtig zu machen. Denn der Glaube, der sich auf freie geschichtliche Offenbarung gründet, ist als vernunftgemäß ausweisbar, da das prinzipielle Gegenteil zu behaupten, die Möglichkeiten der Vernunft übersteigt. Und als sinnvoll zu vertreten ist dieser Glaube allemal, da spätestens das Bewusstsein des Todes die Einsicht in die Angewiesenheit des Menschen auf einen rettenden Gott provoziert. Gleichwohl löst der Nachweis, dass es keineswegs vernunftwidrig ist zu glauben, das Phänomen religiöser Unmusikalität nicht auf. Es wäre theologisch fatal, hier auf ein willkürliches Gnadenwirken Gottes (die einen begnadet er zum Glauben und die anderen eben nicht) zu verweisen. Denn dann wäre alles Tat Gottes und der Glaube nicht mehr als freier und damit als humaner Akt ausweisbar. Ein theologischer Monismus wäre die Konsequenz, das Problem der Theodizee unerträglich verschärft.

Ein determinierender Gott ist nicht nur alles andere als freiheitsbefördernd, er ist auch nicht identifizierbar mit dem Gott Jesu, der zur Freiheit herausruft. Und theologisch noch fataler wäre es, die säkulare Vernunft sündentheoretisch zu deuten. Denn nicht nur ist ja die Existenz des freien, sich unverfügbar offenbarenden Gottes nicht beweisbar, so dass die epistemische Grenze zwischen Glauben und Wissen bleibt, sondern sie ist zudem zutiefst angefragt durch eine Geschichte, die ihn allzu oft vermissen lässt.

Eine Bedrohung für den Glauben stellt das nicht dar. Eher noch wächst dem Glauben, der sich einer solchen säkularen Vernunft ausgesetzt sieht, eine Chance zu. Er sieht sich gezwungen, Zeugnis von seiner eigenen Vernünftigkeit zu geben. Diese gründet eben nicht in einem philosophischen Wissen, dem religiös Unmusikalischen sondern in einem Glauben an Offenbarung. Ein solcher Glaube kann auch vom nichtreligiösen Bürger anerkannt werden, so wie der gläubige Mensch die Möglichkeit einräumt, den Schritt in den Glauben nicht tun zu können. Vereint sind aber beide im Eintreten für die unveräußerbare Würde einer jeden menschlichen Person. Ohne die Frage des Glaubens berühren zu müssen, können sie ein Bündnis eingehen nicht nur gegen einen materialistischen Monismus, sondern auch gegen alle vernunftfeindlichen religiösen Fundamentalismen und Irrationalismen: Was nicht vernünftig ist, weil es dem Wesen der Freiheit nicht entspricht, mag sich zwar Religion nennen. Es zwingt aber zur Kritik im Namen von Freiheit und Demokratie.

So wie auch eine „säkularistische Weltsicht“, innerhalb derer „religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotenzial“ abgesprochen wird, zur Kritik im Namen der Freiheit zwingt. (118) Eine solche, wohl noch zu gewinnende und stets neu zu verteidigende Neuzeit kann philosophisch und theologisch gewagt werden. Religiöser Wahn und der schleichende Säkularismus hingegen erzwingen vereinte Kritik. So auch der Naturalismus.

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