Ein Gespräch mit Rita Süssmuth über Frauenpolitik„Wir brauchen mehr Optionen, nicht weniger“

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es in Artikel 3 Grundgesetz. Dagegen zeigen Zahlen und Statistiken, aber auch die offenkundige soziale Wirklichkeit, dass Frauen hierzulande längst nicht „in bester Verfassung“ sind. Wir sprachen mit der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) über den Stand der Gleichberechtigung. Die Fragen stellte Brigitte Böttner.

HK: Frau Professor Süssmuth, seit 1986 sind Sie Vorsitzende der Frauen-Union der CDU. Die Themen Frauenerwerbstätigkeit, Familienarbeit, Frauen in Führungspositionen finden sich bereits in Ihren „Frauenreden“ der ersten Stunde. 15 Jahre später stehen sie immer noch – oder wieder – zur Diskussion. Täuscht der Eindruck, oder hat sich tatsächlich wenig getan in der „Frauenfrage“?

Süssmuth: Der Eindruck stimmt. Es hat sich einerseits viel getan, aber andererseits hat es erhebliche Rückschritte gegeben. Seit den siebziger Jahren sind die Frauen dabei, die Strukturen zu verändern, bis hinein in die aktuelle Diskussion. Diese Entwicklung, die manche für eine Folge der Anti-Babypille hielten, war nicht frei von Rückschlägen. Ganz entscheidend hängt sie mit den veränderten rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Frauen zusammen. Gewiss stimmt auch, dass es Persönlichkeitsrechte und Freiheit nicht zum Nulltarif geben kann. Die Emanzipation der Frauen hat ihren Preis gehabt. Sie ist einhergegangen mit Überforderungen, mit erheblichen Spannungen zum anderen Geschlecht, zugleich aber auch mit Fragen nach der eigenen Identität.

HK: Die sich heute weniger denn je mit der Rolle der Hausfrau und Mutter deckt...

Süssmuth: Ob es das veränderte Geburtenverhalten, das veränderte Heiratsverhalten, das veränderte Ausbildungsverhalten oder das veränderte Berufsverhalten betrifft: Hier treten immer wieder Diskussionen dazwischen, die aus der Männerwelt kommen, aber auch von einer Minderheit von Frauen mitgetragen werden. Unter anderem taucht dabei die These auf, dass die Zerreißproben der Gesellschaft damit zusammenhängen, dass die Frauen ihre Rolle verändert haben. Das geht bis hin zu der Auffassung: Wo die Frauen nicht mehr im häuslichen Bereich tätig sind, gibt es weniger Kinder. Eine Behauptung, die mittlerweile empirisch widerlegt ist. Anfangs prallten in vielen gesellschaftlichen wie kirchlichen Gruppierungen zeitgleich zwei Frauenbilder und somit auch Weltbilder aufeinander. Doch hat sich allmählich bis in die Kirchen, aber auch in die konservativeren Parteien hinein – nicht ohne Kontroversen – die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine der zentralen Zukunftsfragen die Frauenfrage ist.

„Unter den Pionierinnen gab es mehr Zusammenhalt“

HK: Den geschlechterpolitischen Durchbruch haben bislang aber weder das Frauenwahlrecht zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch institutionelle Maßnahmen wie Quoten, Frauenförderpläne und Gleichstellungsbeauftragte an dessen Ende bewirkt. Warum nicht?

Süssmuth: Damit sind wir in einem ganz zentralen Bereich, nämlich dem Zugang der Frauen zur Macht...

HK: ... zur Männermacht?

Süssmuth: Generell zur Macht. Dort kommt man aus dem Sowohl-als-auch nicht heraus. Wenn ich dort, wo Männer heute Macht wahrnehmen, was sie ja nach Kräften tun, hineinwill, dann hat das auch ein Stück mit Männermacht in der Verfügungsgewalt von Frauen zu tun. Und bisher ist noch nicht erwiesen, dass Frauen mit Macht anders umgehen, wenn sie in die Top-Positionen aufsteigen. Für mich ist es eine offene Frage, ob Veränderung von Frauen notwendig Anpassung an männlich dominierte Verhaltensweisen und damit auch an männliche Machtstrukturen bedeutet. Oder ob wir, indem wir teilhaben, gleichzeitig dabei sind, auch durch Partizipation schon Veränderungen herbeizuführen. Für mich dominiert zur Zeit stärker der sich verändernde männliche Machttypus, vielleicht mit einer Einschränkung, dass zumindest die großen Firmen allmählich lernen, nicht hierarchische sondern stärker demokratische Ordnung als Erfolgsrezept zu begreifen.

HK: Politikerinnen scheinen dennoch nicht nur zahlenmäßig, sondern auch sprichwörtlich einsame Spitze zu sein: Hat der notwendige Einzug in „männliche“, soll heißen von Männern geprägte politische Strukturen nicht weibliche Formen der Macht geschwächt?

Süssmuth: Das ist eine Realitätsbeschreibung, die zeigt, dass hier mehrere verursachende Momente sich zum Teil vergleichbar, aber auch unterschiedlich auswirken. Eine uns geläufige These lautet: Die Frauen haben nach wie vor nicht jene Mechanismen des Machterwerbs und des Machterhalts gelernt, die in der männlichen Welt zu Hause sind. Dennoch muss man noch ein weiteres wichtiges Element hinzufügen: Das Neue an der Frauenbewegung des neunzehnten Jahrhunderts war ja, dass sich die Frauen zusammengeschlossen haben. Möglicherweise gab es bei den Pionierinnen mehr weiblichen Zusammenhalt unter einer Minderheit, die mit Macht verändern wollte. Das lässt sich jedoch nur schwer rekonstruieren, weil es empirisch nicht genau nachzuvollziehen ist. Auch damals schon gab es viele Einzelkämpferinnen. Meine historische Erkenntnis ist, dass immer dort, wo sich Bewegungen finden, – die dann auch früher oder später in feste Organisationsstrukturen einmünden, – etwas Gestalterisches passiert. Das heißt, es gehört ein Stück Organisation und Solidarität dazu. Gerade letztere hat für mich viel Zukunftsbedeutung, denn das Problem der Entsolidarisierung unter den Frauen ist aus meiner Sicht in letzter Zeit größer geworden.

HK: Damit spielen Sie auf den Generationenkonflikt innerhalb der neueren Frauenbewegung an: Jüngere Frauen erleben sich als gleichberechtigt und distanzieren sich von der „Emanzengeneration“ ihrer Mütter...

Süssmuth: . . . erstens, weil die junge Frauengeneration heute – insbesondere solange das Problem Kind und Beruf noch nicht existiert – den Eindruck hat: Das brauchen wir nicht mehr. Sie haben weit mehr das Gefühl: Wir sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oftmals herrscht auch die Einschätzung: Ich bin tüchtig genug, was ich brauche, bekomme ich auch. Junge Frauen erfahren oft erst sehr viel später, dass an den Erfahrungen der Älteren nicht alles falsch war und dass diese nicht nur larmoyante Frauenpersönlichkeiten waren, die gesellschaftlichen Strukturen verändern wollten. Doch ohne zumindest ein formales Recht, wie es im Grundgesetz Artikel 3 verankert ist – ein Recht, das die jüngere Generation heute übrigens selbstverständlich in Anspruch nimmt – ist der größte Anteil der Welt Gnade und der andere Willkür. Wobei ein formales Recht noch kein inhaltlich wirklich ausgefülltes ist. Auf den Punkt gebracht heißt das: Die Individualisierungsprozesse unserer Gesellschaft verbunden mit Kompetenzzuwachs bei den Frauen gehen eher auf Vereinzelung als auf Gruppenbildungen aus und schwächen somit die Bewegungen.

HK: Dennoch schließen sich doch gerade in der Politik bisweilen die Frauen in Bündnissen zusammen und haben damit schon mehrfach Wirkungen erzielt, wenn man beispielsweise den fraktionsübergreifenden Schulterschluss weiblicher Abgeordneter betrachtet. Wann kommen solche Initiativen zustande?

Süssmuth: Wenn man sich anschaut, wo wir diese Bündnisse als Frauen praktiziert haben, dann sind sie stark auf frauenspezifische Themen ausgerichtet. Der höchste Anteil liegt bei den Themen: Gewalt, Pornographie, Prostitution und Paragraph 218. Und dabei fällt dann auf, dass eine im Parlament vertretene Minderheit nur dann stark genug ist, um Themen, die nur schwer zu vermitteln sind, voranzubringen, wenn sie sich über Parteigrenzen hinweg zusammenschließt. Ein klassisches Beispiel ist die gleichsam endlose Geschichte der Vergewaltigung in der Ehe, die ohne die fraktionsübergreifende Initiative noch ein weiteres Mal gescheitert wäre. Der geringere Frauenanteil im Parlament zwingt einfach dazu, etwas gemeinsam zu machen. Jüngstes Gegenbeispiel ist der Rentenanspruch: Monatelang haben wir fraktionsübergreifend sehr produktive Gespräche geführt. Dann kamen der Gesetzentwurf und die parlamentarische Beratung. Da war Schluss mit der frauenübergreifenden Initiative, weil die Fraktionen von ihren Frauen erwarteten, auch bei der Kontroverse in ihren eigenen Reihen, dass sie fest in ihrer Fraktion verblieben.

HK: Und die Frauen haben dann auch gespurt...?

Süssmuth: Diesen Begriff möchte ich nicht verwenden, dazu kenne ich die Schwierigkeiten beim Abspringen und Durchhalten aus eigener Erfahrung gut genug. Eine solche Entscheidung ist niemandem übel zu nehmen. Sie zeigt vielmehr, wo fraktionsübergreifende Initiativen ihre Grenzen haben: Wenn die Fraktionen sagen, es geht nicht, kommt kein weiblicher Schulterschluss zustande. Solche Aktionen sind auch in Zukunft unverzichtbar. Wenn das Ergebnis in der Rentenregelung so bleibt, wie es jetzt ist, heißt das für alle Frauen: Erwerbstätig bleiben! Sonst seid ihr als Witwe in Rente oder erziehende Mutter selbst vieler Kinder arm dran.

„Wir fangen immer wieder von vorne an“

HK: Bei der letzten Bundestagswahl scheint das fraktionsübergreifende Frauenbündnis allerdings etwas zu spät gekommen zu sein. Nach der Wahl haben die Männer die Ministersessel wieder unter sich verteilt.

Süssmuth: Da waren vor allem die SPD- und Grünen-Frauen viel zu spät. Ein Zeichen dafür, dass wir strategisch noch viel zu lernen haben.

HK: Die CDU-Spitze ist mittlerweile weiblich, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg hat eine Sozialdemokratin den amtierenden Ministerpräsidenten ins Schwitzen gebracht, eine grüne Ministerin verschafft sich derzeit im Kampf gegen Tierseuchen Respekt... Brauchen wir angesichts dieser Erfolgsfrauen heute überhaupt noch so etwas wie „Frauenpolitik“?

Süssmuth: Es scheint tatsächlich so zu sein, dass man mit dem Thema keinen Blumentopf gewinnen kann. Ehemalige Frauenbeauftragte können ein Lied davon singen, wie karriereschädigend es ist, sich mit Frauenfragen zu befassen. Dennoch bleibt festzuhalten: Ohne Frauenförderung, ohne Frauenbeauftragte, ohne massive Versuche, im Recht Verbesserungen herbeizuführen, hätte sich an der Situation wenig geändert. Der Anteil der Frauen in der CDU-Fraktion im Landtag Baden-Württemberg beispielsweise liegt heute bei 14 Prozent, und im Bundestag sind wir auch nicht weiter. Die „sanfte Quote“ von einem Drittel ist also nur ein Erhalt der Frauenbeteiligung auf unterem Level, von einer Selbstverständlichkeit sind wir weit entfernt!

HK: Und die jüngste Diskussion um mangelnden Nachwuchs und Familienpolitik zeigt, dass die alte Diskussion unter neuem Etikett weitergeht. In Ihrem neusten Buch bemerken Sie, dass es kein erneutes familienpolitisches Leitpapier der CDU gebraucht hätte,...

Süssmuth:... wenn die Beschlüsse des Essener „Frauenparteitags“ nur konsequent umgesetzt worden wären. Genau das ist es! Wir fangen immer wieder von vorne an, das lässt sich an den einzelnen Etappen zeigen. Ich bin seit 1985 dabei und hatte mit Heiner Geißler einen wirklich hervorragenden Streiter vor mir, so dass ich zumindest ein geöffnetes Feld betreten konnte. Den Essener Parteitag hielt ich wirklich für die große Öffnung der Partei – dabei war das ein programmatischer Akt, der letztlich nicht dazu geführt hat, wirklich konsequent frauenorientierte Gesellschaftspolitik und Familienpolitik zu machen. Vielmehr wurde die Öffnung immer wieder als „frauenschädigend“ problematisiert und jahrelang kontrovers um das Erziehungsgeld mit Rückkehrrecht debattiert. Eine Diskussion, die im Ausland nicht verständlich ist.

„Ich hoffe auf einen wechselseitigen Lernprozess“

HK: Auch die heutigen Regierungsparteien haben in ihren Koalitionsvereinbarungen vereinbart, ein „effektives Gleichstellungsgesetz“ verabschieden zu wollen. Mit ihrem ersten Entwurf ist die Bundesfrauenministerin aber sowohl beim Kanzler als auch bei Wirtschaftsvertretern angeeckt. Warum dieser hartnäckige Widerstand gegen vergleichsweise harmlose Regelungen?

Süssmuth: Wir hatten bislang ja noch nie die Situation, dass die Wirtschaft die Frauenerwerbsquote zum Thema macht und sagt: Wir brauchen mehr Frauen. Erstmals sind es nicht nur die Frauen, die etwas wollen, auch die Betriebe sehen Notwendigkeiten, und diese haben meistens auch verändernde Wirkung. Was im Augenblick läuft, ist sehr stark ökonomisch bedingt. Demographie und Ökonomie überlappen sich, die Finanzierbarkeit unserer Sozialsysteme steht auf dem Spiel. Die Vorbehalte und Argumente seitens der Wirtschaftsvertreter kenne ich auch schon. Die pochen auf Freiwilligkeit statt verbindlicher Vorgaben. Einen solchen Gesetzentwurf kann die Frauenministerin nicht allein durchsetzen; sie braucht entweder eine breite Frauenfront oder die Gewerkschaften. Bislang ist es in Deutschland nicht wirklich Image schädigend, wenn ich als Betrieb keine Frauen beschäftige. Aber jetzt sind wir erstmalig in einer Situation, wo wir von den Voraussetzungen her viel stärker mitgestalten könnten als es bislang der Fall war. Deshalb ist es wichtig, dass Frau Bergmann thematisch „dranbleibt“.

HK: Der kürzlich vom Statistischen Bundesamt vorgelegte „Mikrozensus 2000“ zeigt, dass die Arbeitswelt von Gleichberechtigung noch weit entfernt ist: Mehr als zwei Drittel aller Führungspositionen in Industrie, Dienstleistung und öffentlicher Verwaltung werden von Männern besetzt. Darüber hinaus stellen Frauen 85 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten.

Süssmuth: Das Verhältnis von Frauen zu Männern in Führungspositionen verbessert sich in der Tat nur sehr langsam. Ich gehe davon aus, dass wir möglicherweise noch einmal einen Push zugunsten der Frauen erleben, weil diese einfach im Wirtschaftsleben gebraucht werden. Wenn ich das Niveau der Frauenerwerbsbeteiligung zu meinen Anfangszeiten mit dem heutigen vergleiche, so hat es sich zwar nicht verdoppelt, aber es sind sicherlich 40 Prozent hinzugekommen. Mitte der achtziger Jahre lag die Frauenerwerbsquote noch bei 42 Prozent, heute sind es 64 Prozent. Auch das Ausbildungsniveau hat sich maßgeblich verbessert. Es gibt viele Bereiche, wo Frauen inzwischen besser sind als Männer. Neu ist meines Erachtens, dass sowohl in der Wirtschaft als auch in anderen Berufssparten mehr und mehr gesehen wird: Frauen haben Fähigkeiten, die wir lange Zeit falsch und zu gering eingeschätzt haben, ob das die kommunikativen, kooperativen Fähigkeiten von Frauen sind oder ihre Belastbarkeit.

HK: Im Modell der so genannten „Elternzeit“ sollen Frauen und Männer auch gemeinsam erziehen und dabei stundenweise in ihrem Betrieb weiter arbeiten können. Wie beim Anspruch auf Teilzeitarbeit werden hier große Erwartungen bezüglich eines vermehrten Engagements der Väter geschürt, deren Anteil derzeit maximal 1,5 Prozent ausmacht – zu Recht?

Süssmuth: Wir stehen vor der Aufgabe eines neuen Gesellschaftsvertrages. Nach einer Frauenförderungspolitik, deren Aufgabe es zunächst einmal war, Frauen an die Möglichkeiten der Männer heranzubringen, müssen wir jetzt fragen: Wie sieht das tatsächliche Miteinander von Frauen und Männern gesellschaftlich und strukturell aus? Von dort lässt sich dann ein Zukunftsbild entwerfen. Wir müssen einerseits ein Stück Kontinuität in den Zielen wahren, die wir noch längst nicht erreicht haben, weder national, noch europäisch, noch weltweit. Andererseits besteht die Aufgabe darin, unterschiedliche Lebensstile auch im Alltag praktizieren zu können. Meiner Partei habe ich oft gesagt: Hört auf mit dem Begriff „Wahlfreiheit“, wenn es sie realiter nicht gibt! Ich wünsche mir für die Menschen, dass sie zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wählen können. Wir brauchen mehr Optionen, nicht weniger. Und zwar Optionen, die nicht von Ausschluss, sondern von Teilhabe bestimmt sind. Wie das Beispiel der Tagesthemen-Moderatorin Gabi Bauer gezeigt hat, stellt sich derzeit ja immer noch die Frage: Wenn ich aussteige, kann ich dann auch wieder zurückkehren? Meiner Ansicht nach geht es gar nicht darum, dass wir nun alle einem Typus der Vollzeit oder der Teilzeit oder welcher Form der Erwerbstätigkeit auch immer folgen, sondern dass es darin unterschiedliche Schwerpunkte gibt, verteilt aufs Leben – das wünsche ich mir übrigens für Frauen und Männer.

HK: Wie könnte dabei die Politik tätig werden und mitgestalten?

Süssmuth: Politik hat in erster Linie Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine der wichtigsten ist, dass der Zusammenhang zwischen Familie und Familienumwelt neu zum Schwerpunktthema gemacht wird. Dem 21. Jahrhundert muss es gelingen, nicht nur nach Mobilität zu schauen, nach Unabhängigkeit von Bindungen, sondern auch zu fragen, wie Bindung und Mobilität miteinander verknüpft werden können. Wie organisiere ich Familien-, Kinderbetreuungs- und Arbeitswelt so, dass sie aufeinander abgestimmt sind? Das Zweite, was die Politik beeinflussen kann, sind die Geschlechtsrollen, hier kann sie Bewusstsein schaffen. Denn ungeachtet aller individueller Entwicklungen haben viele Frauen das Problem, dass sie immer noch nicht wissen: Was ist eigentlich meine weibliche Identität?

HK: Gilt das nicht gleichermaßen für die Männer?

Süssmuth: Deren Rolle wurde bislang aber viel weniger in Frage gestellt, sonst hätte es diesen Prozess der reinen Anpassung von Frauen an Männerrollen nicht gegeben. Das reicht für das 21. Jahrhundert nicht mehr aus: Beide Rollen haben sich zu verändern, und daran hat auch die Politik mitzuwirken. Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen sich fragen, was es für ihren Betrieb bedeutet, wenn Männer in Teilzeit arbeiten oder eine Auszeit für die Familie nehmen wollen. Meine Zukunftshoffnung ist, dass nicht nur die Frauen zum Männermodell aufsteigen, sondern dass es einen wechselseitigen Lernprozess gibt. Dass ein eigenes, weibliches Rollenmodell in die Wahrnehmungswelt der Männer eingeht, und dass sie davon auch lernen. Heute stehen wir vor der Aufgabe, das schon vor 15 Jahren proklamierte Programm „Partnerschaft zwischen Mann und Frau“ auch auszufüllen.

HK: Und nach beruflichen Ämtern und Posten auch Kinder und Haushalt zu quotieren?

Süssmuth: Die Gestaltung der Arbeitszeit hat eine Menge mit Flexibilität zu tun. Dazu gehört für mich auch, dass die Debatte um Vereinbarkeit von Familie und Beruf beendet wird, wenn das kein wirkliches Ziel ist. Dieses Thema ist ein Dauerbrenner seit den sechziger Jahren, und wir sind noch heute weit entfernt davon, dieses Ziel erreicht zu haben. Trotzdem sind die Fortschritte in Deutschland erheblich. Auch meine Partei und die CSU merken: Das Alte gilt nicht mehr. Diese Bewegung gilt es in Gang zu halten, damit nicht immer wieder die Erwerbswelt die Familienwelt erschlägt, nach dem Motto: Wer erwerbstätig ist, hat sich nach den Regeln und Strukturen des Erwerbssystems zu richten. Und die Familie bleibt draußen. Das war der alte Typus: eine Separierung von Lebenswelten.

HK: Wie könnte der neue Typus aussehen?

Süssmuth: Der Gegenbegriff zur erwerbsorientierten Ausrichtung ist die familienfreundliche Arbeitswelt. Aber diese ist bisher für viele eine Chiffre und weit entfernt von der Realität. Für Französinnen, Belgierinnen und Skandinavierinnen ist das nicht so ein Problem, wie es für uns Deutsche ist. Diese Frauen sind ganz negativ überrascht, wenn sie nach Deutschland kommen und sehen: Hier gibt es weder einen Krippenplatz, noch einen Ganztagsplatz im Kindergarten. Das können sie nicht verstehen, denn zu Hause haben sie einen Rechtsanspruch darauf. Bei uns dagegen war es eines der schwierigsten Unterfangen überhaupt, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchzusetzen. Heute ist der Kindergarten unsere teuerste Bildungseinrichtung. Wie der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen im vorigen Jahr in einer Gesamtkostenrechnung dargestellt hat, kostet ein Kind bis zum 18. Lebensjahr je nach Investition 716 000 bis 835 000 Mark, nur ein Drittel davon wird über Kindergeld oder steuerliche und sonstige Entlastungen finanziert. Kinderbetreuungsbeträge lassen sich nicht von der Steuer absetzen, eine Haushaltshilfe dagegen sehr wohl. Es ist kein Zustand, dass ein Kind zu haben mich möglicherweise in die Sozialhilfe führt. Zum Glück gibt es das Bundesverfassungsgericht! Aber ist das nicht auch ein Armutszeugnis für die Politik?

HK: Stellt sich die Frage, ob Kinder in der Gesellschaft tatsächlich so erwünscht sind, wie immer wieder verlautbart wird...

Süssmuth: Zumindest die konkreten Erfahrungen lehren, dass man mit einem schreienden Baby nicht erwünscht ist, weder beim Vermieter noch beim Arbeitgeber, der ja in diesem Fall Bedenken wegen der Arbeitszeit haben muss, die möglicherweise „familienfreundlich“ sein sollte. Menschen mit Kindern merken, dass man hierzulande ein Kunststück zu bewerkstelligen hat, um die Kinderbetreuung zu organisieren, von den Kosten ganz zu schweigen. Und was stellen wir bei unseren europäischen Nachbarn fest: Länder mit hoher Frauenerwerbsquote und guter Vereinbarkeitsregel haben mehr Kinder. In Deutschland sind die Kinderwünsche doppelt so hoch wie ihre Realisierung.

„Die Beteiligung von Frauen an Mandaten ist Verfassungsauftrag“

HK: Wenn dieses Problem bei den Nachbarinnen in Europa so viel besser gelöst ist: Können die deutschen Frauen hier auf Verbesserungen durch die Europäischen Union erhoffen?

Süssmuth: Erst einmal müssen die Frauen etwas von sich selbst erhoffen und erwarten. Es hat sich immer nur etwas verändert, wenn Menschen selbst aktiv geworden sind – ob das die sozialen Bewegungen, die Umweltbewegungen, die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung waren. Natürlich muss ich auch Erwartungen an die politischen Institutionen beziehungsweise die dort handelnden Menschen richten. Aber das ist keine Einbahnstraße, sondern ein zweiseitiger Prozess. Um ein Beispiel zu nennen: Den Artikel 3 hätte es nie in unserer Verfassung gegeben, wenn nicht Millionen von Frauen aktiv geworden wären. Das war auch bei der Erweiterung dieses Artikels 1994 wieder so: Da haben wir solche Bündnisse im Sinne von Maßnahmen zur Gleichberechtigung hinbekommen. Ich selbst hätte nie Erziehungszeiten für ältere Frauen durchsetzen können, wenn es nicht gelungen wäre, die Frauen zu mobilisieren. Auch beim § 218 war es so. Da haben sich Frauen selbst aufgemacht und gesagt: So wollen wir es nicht mehr. Diese Art von Frauenbewegung erlebe ich momentan viel stärker in den ärmeren Staaten der Welt – mit großer Würde übrigens: Da bewirken die Frauen am meisten für die Veränderung der Lebensverhältnisse. Abgesehen davon ist die Zivilgesellschaft ihrer demokratischen Grundstruktur verpflichtet. Ich finde es absurd, immer noch erklären zu sollen, warum die Frauen in den Parlamenten denn an Mandaten beteiligt werden sollen. Das ist der Verfassungsauftrag!

HK: Immerhin hat der Europäische Gerichtshof 1997 die deutsche Quotenregelung gegen Angriffe aus dem eigenen Land verteidigt und eine so gestaltete „Bevorzugung“ von Frauen für nach geltendem EU-Recht verfassungsgemäß erklärt.

Süssmuth: Sicherlich war die Europäische Union in den letzten Jahren in vieler Hinsicht auch Promotor in der Frauenfrage. Doch ähnlich wie bei der Partizipation, die wir für den ausländischen Bürger fordern, müssen wir in diesem Fall danach fragen: Was ist denn eigentlich Integration, was bedeutet gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale, politische Teilhabe? Es kommt ja nicht von ungefähr, dass der weibliche Bevölkerungsanteil von 51 Prozent als „Randgruppe“ bezeichnet wird. Auf der anderen Seite erleben wir einen gesellschaftlichen Entpolitisierungsprozess. Die jungen Frauen haben kein Interesse an Politik, heißt es oft. Wenngleich sich dieser schon wieder etwas abbaut: Eine klare neue Ausdrucksstruktur gibt es noch keinesfalls. Aber selbst politisch aktive Frauen beispielsweise in der Jungen Union sagen zur Frauenförderung: Das brauchen wir nicht mehr, und eine Quotenfrau möchte ich auch nicht sein. Da schließen sie sich den jungen Männern an.

HK: Brauchen wir also eine neue Frauenbewegung – für einen neuen Gesellschaftsvertrag?

Süssmuth: Wir haben in den letzten Jahren bereits einige neue Elemente in unsere Überlegungen aufgenommen, zum Beispiel das amerikanische Konzept des „Gendermainstream“: Die Geschlechterfrage soll nicht isoliert, sondern in allen Bereichen gestellt und berücksichtigt werden. Neu ist nicht, dass Frauen in allen Bereichen tätig sind, das ist inzwischen fast Realität. Das Problem der Frauen ist nicht mehr, dass sie angeblich die Dinge nicht beherrschen; es ist eher die Frage, ob sie die Posten bekommen. Heute geht es um Frauen in Führungspositionen, um Frauen in der Rentenfrage. Insofern ist das 21. Jahrhundert an einer anderen Stelle gefordert, als wir begonnen haben.

HK: Die „Frauenfrage“ bleibt also auch zu Beginn des dritten Jahrtausends auf der Tagesordnung?

Süssmuth: Man muss sehr deutlich die Punkte markieren, wo wir jetzt weitermachen müssen. Das Gefährlichste ist, zu sagen: Formalrechtlich ist jetzt fast alles erreicht. Worum sich Männer jahrelang nicht gekümmert haben, das kann man heute in einem anderen Geist mit ihnen verhandeln. Aber tradierte Strukturen haben sehr lange Nachwirkungen, und wenn man nicht rechtzeitig gestaltet, werden die Friktionen immer größer. Auch der Geburtenrückgang in Deutschland hat etwas mit diesen mangelnden Gestaltungswillen zu tun, das kann man an den skandinavischen und französischen Gegenbeispielen ablesen.

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