"Wie ich der wurde, den ich mag"Lerne, du selbst zu sein

Die berührende Autobiografie von Pierre Stutz zu seinem 70. Geburtstag ist auch ein kirchenpolitisches Ereignis.

Er mag sich. Jetzt. Endlich. Aber es hat lange gedauert, Jahrzehnte, bis es so weit war. Bis er den Mut hatte, nicht mehr zu verdrängen, sich nicht länger etwas vorzumachen. Und nun wünscht er den Lesenden seiner Autobiografie, „nicht hinter ihren Wachstumschancen zurückzubleiben und sich nicht durch andere blenden zu lassen. Es ist nie zu spät, so zu werden, wie wir von Anfang an gemeint sind: geborgen und frei.“

Von „Selbstvertrauen“, „Selbstliebe“ und „Selbstfürsorge“ ist hier häufig die Rede – und davon, was es bedeutet, all dies zu vernachlässigen. Pierre Stutz, Schweizer des Jahrgangs 1953, einer der gefragtesten spirituellen Lehrer im deutschen Sprachraum, Autor von mehr als vierzig Büchern, ein gefragter Vortragsredner, hat das mühsam(st) lernen müssen – davon erzählt seine Autobiografie.

Vor seinem Siebziger hätte er es nicht schreiben können. Denn es durfte nicht sein, was er schon als Kind ahnte: Ich bin „anders“. Stutz ist schwul. Über Jahre hinweg entwickelte er eine geradezu „panische Angst“ vor seiner sexuellen Orientierung, die er spät als „sexuelle Begabung“ anzunehmen lernte. Erst mit 49 Jahren kann er sich seine Sehnsucht eingestehen, einen Mann lieben zu dürfen.

Wie tragisch, die Internatszeit so zusammenfassen zu müssen: „Mein grausamer Krieg gegen mich selbst beginnt.“ Vorausgegangen war ein Missbrauch des Sechsjährigen. „Niemandem trauen, Erwachsenen schon gar nicht“, wird deswegen sein Lebensmotto „nach diesem himmelschreienden Übergriff“. Die Folge: „Ich bin oft kränklich und sehr ängstlich dem Leben gegenüber. Mein Körper ist voller Verkrampfungsreflexe, die zu einer großen Unbeholfenheit führen, vor allem beim Sport.“ Pierre ist das vierte Kind, ein „Frühchen“, und wächst in dem Dorf Hägglingen (Kanton Aargau) auf. Das Urvertrauen bleibt durch den Missbrauch ein Fremdwort. Der Tod der Mutter und die Sprachlosigkeit gegenüber dem Vater sind markante Einschnitte in der ersten Lebenshälfte.

Religion hat Stutz immer als „Weg der Befreiung“ erlebt. Als junger Erwachsener wird er zum Filmfreak. Das Kino ist für ihn „ein zutiefst spiritueller Ort“: François Truffaut, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol, Louis Malle bezaubern ihn bis heute. Er verschlingt Camus, Sartre und Simone de Beauvoir. Die Schulbrüder faszinieren ihn: Der Ordenseintritt in Neuchâtel (Schweiz) 1974 ist Ausdruck von Sehnsucht nach Gemeinschaft. Nach vier Jahren verlässt er den Orden, weil er sich nicht für immer an die Gelübde binden will.

Nirgendwo kommt er in diesen Jahren wirklich an: „Ich sehne mich unendlich nach Berührung – aber wehe, wenn mich jemand berührt.“ In Luzern studiert Stutz tagsüber Theologie und Religionspädagogik, abends lässt er sich zum Sozialpädagogen ausbilden. Jahrelang blockiert ihn „diese mühsame Konfrontation mit meiner Homosexualität, die ich nicht will, für die ich mich schäme, die ich verdränge, die es ja gar nicht geben darf und die deshalb immer stärker wird“. Daran ändern auch Wochenendkurse zur Persönlichkeitsentwicklung im Bildungshaus der Jesuiten in Fribourg nichts: „Apprendre à être soi – lernen, Du selbst zu sein“, das braucht seine Zeit.

Das „Grundgefühl der Heimatlosigkeit“ bleibt, auch nach der Priesterweihe 1985. Stutz wird Jugendseelsorger: äußerlich hyperaktiv, ein Überflieger und Sunnyboy. Und ein „Süchtiger“, der „immer mehr zum Workaholic“ wird: „bewundert von vielen, Raubbau treibend mit meinem Körper“. Innerlich brodelt es in ihm: „Ich bringe mich in hohem Maße persönlich ein und verbiete mir zugleich unerbittlich, von meiner wachsenden Not als schwuler Mann zu erzählen, der ich nicht sein will und darf. Was für verpasste Chancen!“ Stutz wird Bundesjugendleiter, von 1988 bis 1998 lehrt er am Katechetischen Institut der Theologischen Fakultät in Luzern. 1990 erscheint sein erstes Buch: Meditationstexte, die um Psalmen kreisen.

Schlafstörungen und andere psychosomatische Signale ignoriert er weiter – bis er mit 38, das war 1991, einen Burn-out erleidet. Stutz ist „lebensmüde“, unterzieht sich einer intensiven Psychotherapie, die einen mehrjährigen Heilungs- und Versöhnungsprozess einleitet. Der Burn-out hilft ihm, „endgültig zu meiner Himmelsgabe zu stehen: zum großen Geschenk meines Lebens, zum Schreiben geboren zu sein!“.

1992 kehrt er nach Neuchâtel zurück, in die Abbaye de Fontaine-André, und gründet dort mit den Frères des Écoles Chrétiennes, den Schulbrüdern, denen er einst angehört hatte, ein „offenes Kloster“ – eine Gemeinschaft von (teils verheirateten) Frauen und Männern, die eine Spiritualität im Alltag suchen.

Stutz lernt die Schule für Initiatische Therapie von Karlfried Graf Dürckheim und Maria Hippius kennen. Er beginnt, „nicht mehr auf der Flucht vor meiner Geschichte zu sein“. In die dunklen „Kammern der Kindheit“ zu schauen, sich einzugestehen, dass er das innere Kind „32 Jahre lang im Stich gelassen“ hat, „aus Angst vor dem Schmerz, der mir durch den kleinen Peter entgegenkommt“: Das ist anstrengend. Aber die bisherige Strategie hatte sich als (fast) tödlich erwiesen: „Ich kann nur weiterleben, indem ich diese Brutalität aus dem Gedächtnis verdränge“.

In diese Zeit fällt auch die Post aus dem Vatikan. Über den Nuntius in Bern erfährt Stutz im April 1992, dass die Glaubenskongregation Vorbehalte gegen seine Ansichten über Liturgie und Sexualethik hat. Sie stößt sich auch daran, dass er für das Frauenpriestertum eintritt, was er Bischof Otto Wüst bereits bei seiner Weihe mitgeteilt hatte. Zwar meint Stutz ironisch: „Meine ersten Bücher kommen schon in Rom an!“ Aber er ist zutiefst gekränkt: „Das anonyme Schreiben ist Ausdruck eines Systems, das Menschen kleinhalten will.“

Eine zweite Auszeit von Dezember 1992 bis März 1993 („Winterschlaf in Jerusalem“) verstärkt die Einsicht, sein Leben schreibend zu vertiefen. Im Herbst 1993 veröffentlicht er seine Briefe an Mystiker wie Hildegard von Bingen, Johannes Tauler, Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz: „Vom Unbegreiflichen ergriffen“. In seinem Buch „Verwundet bin ich und aufgehoben“ (2017) wirbt er für eine „Spiritualität der Unvollkommenheit“. Beide Bücher sind Bestseller.

Anfang Januar 2001 begeht er sein „100.000-Bücher-Fest“. Doch die körperlichen Beschwerden, die Schreie der Seele, verschwinden nicht. Elf Monate später, an seinem 48. Geburtstag, sucht ihn ein Tinnitus heim, der zu wochenlanger Schlaflosigkeit führt. Es folgt eine Achterbahn der Gefühle. Sie endet am 5. Juli 2002 mit seinem öffentlichen Coming-out. In dem Brief schreibt er: „Endlich werde ich zu mir selbst entlassen, zu meiner ureigenen Aufgabe, Homosexualität und Spiritualität miteinander zu versöhnen.“

Stutz zieht daraus die Konsequenz, die Abtei zu verlassen und sein Priesteramt aufzugeben: „Ich gehe den aufrechten Weg, bevor ich von der Kirche entlassen werde“. Seine Kurs- und Vortragstätigkeit kann er ungehindert fortsetzen. Lediglich der Kölner Kardinal Joachim Meisner erteilt ihm ein „Auftrittsverbot“.

Pierre Stutz wird zum freischaffenden Künstler. Nach einer weiteren Sabbatzeit kommt es zu einer Lebenswende. Bei einer spirituellen Wanderwoche fällt ihm ein Teilnehmer auf: „49 Jahre lang auf einen Mann warten, und dann kommt ein Norddeutscher, der zudem 14 Jahre jünger ist als ich.“ Er freundet sich mit Harald an. Zunächst pendeln die beiden zwischen der Schweiz und Deutschland hin und her. Dann ziehen sie zusammen, 2018 heiraten sie.

Im März 2021 wird Stutz „Teil des Widerstandes #OutInChurch“: einer Kampagne, die auf das vatikanische Segnungsverbot für gleichgeschlechtliche Liebende reagiert. Die Dokumentation Wie Gott uns schuf schlug ein wie eine Bombe: LGBTIQ+ wurde zum Begriff. Der Jesuit Ralf Klein resümierte in den Stimmen der Zeit: „125 katholische Menschen haben sich als queer geoutet. Für manchen in der Kirche ist das ein Grund zur Sorge und zur Betrübnis. 125 queere Menschen haben sich als katholisch geoutet.“ Die Doku erhielt den Katholischen Filmpreis. „Das steht doch“, so Klein, „in einem merkwürdigen Kontrast zu den vielen kirchlichen Äußerungen, die das Gefühl verbreiten, Mutter Kirche schäme sich ihrer queeren Kinder.“

An diesem Punkt wird Stutz’ Autobiografie auch zu einem kirchenpolitischen Ereignis: Sie beschämt. Warum produziert eine homophobe Kirche so viel Leid, wie es hier an einem prominenten Autor bestürzend sichtbar wird? Albert Görres deckte in seinem Beitrag Pathologie des Christentums (1966) bekanntlich „ekklesiogene Neurosen“ auf: Schafft die Kirche sie bewusst? Manche haben ihren inneren Kampf nicht überlebt. Wer ist so mutig wie Burkhard Hose, Bernd Mönkebuscher oder Wolfgang F. Rothe? Priester, die sich ebenso wenig wie Stutz auf ihre sexuelle Orientierung reduzieren lassen. Welches Drama erlebte ein Bestsellerautor wie John Henri Nouwen, dessen homosexuelle Neigung in den ersten Biografien verschwiegen wurde!

Pierre Stutz halfen Therapeuten. Unerwartet fand er spät sein Lebensglück. Bodenständig ist er geblieben. Seine Fachkompetenz bewahrt ihn davor, in eine Falle zu tappen: „Unsere tiefen Kindheitsverwundungen können wir nicht einfach wegmeditieren, sondern wir können dank der Meditation nochmals durch den Schmerz hindurchwandern.“ Früh war ihm nämlich auch „eine berechnende Seite“ bewusst geworden, die er „den katholischen Schatten“ nennt: „Ich meine damit die Fehlhaltung, sich anzumaßen, mit Ritualen Gott bestechen zu können.“

Als er Jugendseelsorger war, hörte er auf seiner Geburtstagsparty in einem Lied die, wie er sich erinnert, „vielsagende Bitte“, nicht zum „Känguru“ zu werden. Auf Schweizerisch klang das so: „Kän Guru bitte“ (Kein Guru bitte!). Als priesterlicher Mensch, der er geblieben ist, macht er denen Mut, die noch auf dem Weg sind zu sich selbst. „Ich bleibe ein Übender, ein Leben lang“: Wer sagt das schon mit 70? Pierre Stutz geniert sich nicht dafür. Warum auch?


PIERRE STUTZ: WIE ICH DER WURDE, DEN ICH MAG
bene! Verlag, Altenberg 2023, 192 Seiten, 22 €
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