Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37)Der Nächste, bitte!

Die Geschichten der Heiligen sind nie auserzählt.

An einem Winterabend im Jahr 334 bettelt ein frierender, halbnackter Mann am Stadttor von Amiens. Römische Legionäre reiten vorüber – einer nach dem andern. Auf einmal hält einer an, steigt vom Pferd herab und teilt seinen Mantel mit dem Armen. Der Soldat heißt Martin. An einem Sommertag im Jahr 1208 geht ein Mann namens Franziskus auf einen Aussätzigen zu, umarmt ihn und küsst ihn. Viele Male hatte er zuvor einen großen Bogen um die Leprosen-Siedlung bei Assisi gemacht. Am 29. Juli 1941 tritt Maximilian Kolbe aus der Menge der Häftlinge des KZ Auschwitz heraus, um anstelle eines Familienvaters im gefürchteten Hungerbunker zu sterben.

Solche und ähnliche heilige Augenblicke in der Geschichte der Barmherzigkeit dürfen nicht vergessen werden. Hat man einmal von ihnen gehört, kann man sie auch nicht mehr vergessen. Sie stoßen zutiefst menschliche Fragen in uns an: Wie springen wir über den Schatten der Angst um das eigene Leben und die eigene Sicherheit? Wie gelangen wir aus einer Haltung der Gleichgültigkeit zum Tun der Barmherzigkeit? Wie treten wir aus der Ordnung des Erwartbaren, aus der Normalität des Gewohnten, aus der Reihe der Anderen heraus? Ruft diese Geschichte der heiligen Augenblicke nicht nach einer Fortsetzung? Und du – sei du der Nächste, bitte! Die großen Taten der Heiligen inspirieren zu kleinen Schritten über uns hinaus, zu meist unscheinbaren Gesten schlichter Sorge um den Mitmenschen in seiner Not. Nicht vorübergehen, nicht übersehen, nicht in der Menge versteckt bleiben, sondern dem Bedrängten zum Nächsten werden.

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist das Grundmuster, das Modell für alle großen und kleinen Augenblicke der Barmherzigkeit. Jeder kennt sie. Aktuell könnte sie so erzählt werden: Eine 80-jährige Frau aus der Ukraine hat in den ersten Tagen der überstürzten Flucht auf einem Bahnhof in Deutschland ihre Angehörigen verloren. Sie irrt sichtlich verwirrt und übermüdet mit einem Pappschild „Help Ukraina“ auf dem Bahnhofsvorplatz umher. Eine junge Frau, die mit ihrem Smartphone beschäftigt ist, streift sie mit einem kurzen Blick und geht weiter. Ein Professor für Humanwissenschaften sieht die Hilfesuchende, überlegt einen Augenblick, ob man nicht die Polizei oder die Caritas einschalten müsste; dann denkt er an den Vorlesungsbeginn und geht weiter. Schließlich kommt die Ehefrau eines russischen Geschäftsmannes vorbei, die gerade beim Shoppen ist. Nach einem kurzen Zögern geht sie auf die betagte Frau zu, fasst sie unter, bietet ihr an, sie mit ins Hotel zu nehmen und alles in die Wege zu leiten, damit sie ihre Angehörigen wiederfinden kann.

Jesus „sticht“ in seiner Erzählung mit feiner Ironie die Priester und Leviten und auch das Volk Israel, wenn er das Verhalten eines ungeliebten Ausländers als nachahmenswert vorstellt. Er sticht nicht aus Freude am Stechen, sondern er will aufwecken. Er selbst ist der, der „wie Gott war“, aber durch seine Menschwerdung allen Menschen, besonders und zuerst den Notleidenden aller Art, ein Nächster wurde. Sein Leben auf Erden ist ein einziger langer Augenblick der Barmherzigkeit Gottes.

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