Was ist gerecht?Erinnern und Vergessen

Das Vergangene bestimmt Gegenwart und Zukunft. Wahrscheinlich aber viel weniger als gedacht.

Die Zeit der Jahresrückblicke ist auch die des großen „Ach, das war ja auch noch“. Wir hatten es schon vergessen. An den Rückblick von 2020 erinnert sich keiner mehr. Dank unseres Gehirns, das viele Gedächtnisinhalte, die einmal gespeichert waren, überschreibt und löscht, leben wir mehr in der Gegenwart als in der Vergangenheit. Gerade weil nicht alles unser Jetzt überfrachtet und belastet, können wir gut leben. Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung, heißt es. Aber wohl noch mehr ist das Geheimnis der Erlösung das Vergessen. Denn ständiges Graben im Gestern führt meistens nur dazu, altes Unrecht mit neuem Unrecht zu vergelten. Wir sehen es an entflammenden Kriegen, die – wie auf dem Balkan, in der Ostukraine, in den Stammeskonflikten Afrikas, im Nahen, Mittleren und Fernen Osten – plötzlich historische Ungerechtigkeiten hochkochen lassen, um daraus ein aktuelles Gewaltrecht abzuleiten.

Meine Mörder-Ahnen

Dagegen lässt der pure Generationenwandel oft das unmittelbare Unrechtsfühlen und somit das, was einst übel war, schwinden. Aus Erbfeindschaft kann Erbfreundschaft wachsen. Das gelang zwischen Deutschen und Franzosen, zwischen Deutschen und Polen. Wird demnächst ein solcher Prozess unter jungen Leuten auch zwischen Deutschen und Russen gelingen, Verständigung und Verstehen statt Aufrechnen von Schuld? Plakative Erinnerungsrituale nutzen sich ab. Sie produzieren oft nur neu-alte Ressentiments, statt die sündenbewusste Einsicht zu erzeugen, dass die schuldfreie, reine Welt nirgendwo existiert. Wie viele Mörder gibt es allein in meiner Ahnengalerie – und wie viele Opfer? Die Erinnerung verblasst rasch. Noch weiter zurück verliert sich im Nebel der Ur- und Frühgeschichte der Menschheit das Wissen in purer Spekulation.

Hölle oder Himmel?

Was bedeutet das religiös? Vergisst auch Gott das Unrecht, das Menschen einander und ihm angetan haben? Menschliche Vorstellungen wollen sich damit nicht abfinden. So haben sie Gott als Gedächtnisstütze ein Buch des Lebens angedichtet, in das er das Gute und Böse der Weltgeschichte wie der Abermilliarden Einzelgeschichten aufzeichne und entsprechend belohne oder bestrafe. Dazu brauchte es eine Hölle und ein Jüngstes Gericht. Doch längst ist die Hölle religionspädagogisch verdammt und der endzeitliche Richter ebenfalls. Gott, der Gute, Liebe, Barmherzige, soll und darf nur noch gut, lieb, barmherzig sein. Am Ende kommen alle, alle in den Himmel!? Dabei geraten die anthropomorphen Vermutungen über Gott in unlösbare Widersprüche. Ist der Allversöhner ein Alles-Zudecker, um seine Schöpfung, selbst die übelsten Verbrecher gegen die Menschlichkeit, zu retten? Am Ende bleibt die Einsicht, dass unser Gehirn mit seinen Gefühlen nicht dafür geschaffen ist, eine endgültige Gerechtigkeit zu denken. Also: Vergesst das Spekulieren. Erinnert euch einfach nur – an Gott!

Anzeige: Meine Hoffnung übersteigt alle Grenzen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Philippa Rath und Burkhard Hose

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