Der Aufbruch im UrchristentumBildungschancen in der Kirche

Das Urchristentum ist eine Religion im Aufbruch. Diejenigen, die zum Glauben an Jesus Christus gelangt sind, sehen sich als Avantgarde. Sie bilden in neutestamentlichen Zeiten noch eine verschwindend kleine Minderheit; aber sie haben viel vor und werden groß herauskommen.

Von der Peripherie aus wollen sie die Gesellschaft verandern, indem sie sich selbst verandern und Gemeinschaften bilden, Kirche genannt, die sich nicht in eine Nische der Welt zuruckziehen, sondern sich auf den Foren der Politik und der Wirtschaft, der Religion und der Philosophie der Kritik stellen, dem Dialog, der Auseinandersetzung uber Werte und Normen, Gottesdienst und Gerechtigkeit. Sie sind uberzeugt, eine Kirche fur alle werden zu sollen, weil es einen Gott fur alle gibt, der aus ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft, aber auch mit vollem Verstand geliebt werden soll, so dass Gottes- und Nachstenliebe eine Einheit bilden konnen (Mk 12,28–34 par.).
Der Aufbruch des Urchristentums ist nicht schmerzfrei verlaufen: Das Judentum wird immer wieder als Konkurrentin attackiert, nicht aber als Schwesterreligion respektiert; die Werte der griechischen und romischen Welt werden oft diffamiert, nicht aber als Medien einer Verstandigung geschatzt; der gro.e Missionseifer lasst kaum einen Gedanken aufkommen, dass es gute Grunde fur Skepsis und fur die Treue zum Hergebrachten geben konnte. Das Neue Testament ist hoch engagiert, um das Zeugnis fur Jesus zu motivieren; aber es ist offen genug, um auch die Bruche und Spannungen, die ungenutzten Moglichkeiten und ungelosten Konflikte kenntlich zu machen, von denen die Geschichte der vor- wie der nachosterlichen Jesusbewegung gezeichnet ist. Nur deshalb wird es heute noch gelesen; nur deshalb kann es auch einen Impuls geben, dass Kirche in der Gegenwart zu ihrer Mission findet.
Damals wie heute ist der Bildungsauftrag zentral. Bildung ist ein genuin christliches Wort; es meint nicht nur Wissenserwerb und Kompetenzsteigerung – das allerdings auch. Die Pointe ist Personlichkeitsbildung, biblisch gesagt: Herzensbildung. Von Bildung wird dann gesprochen, wenn der reflektierte Bezug auf Andere und Anderes in ein Verhaltnis zum Selbstbezug gesetzt wird. Bildung will und braucht Freiheit. Bildung setzt darauf, dass sich der Horizont eines Menschen weitet, so dass die Interessen, die Ausdrucksmoglichkeiten und Handlungsfelder wachsen. Durch Bildung uberwinden Menschen Grenzen, die ihnen gesetzt scheinen; sie machen sich auf den Weg, sie selbst zu werden.

Orientierungen in Freiheit und Verantwortung

Das Urchristentum startet als Bildungsreligion. Das ist judisches Erbe: neu erworben, um es zu besitzen. In der Nachfolge Jesu und der Apostel entwickelt sich eine hohe Sensibilitat fur die Moglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung, die dadurch entstehen, dass die Gottesbeziehung geklart ist: Weil es nicht viele Gotter gibt, die einander eifersuchtig Konkurrenz machen, sondern nur einen Gott, der alle Menschen liebt, entsteht Freiheit – durch Wahrheit. Das Christentum ist eine Religion des Glaubens. Glaube ist nicht nur Meinung, sondern Erkenntnis, nicht nur Gefuhl, sondern Vertrauen, nicht nur Uberzeugung, sondern Bekenntnis. Dieser Glaube hat die Kraft, die Grenzen zwischen Juden und Christen, Sklaven und Freien, Mannern und Frauen zu uberwinden (Galaterbrief 3,28). Er birgt auch die Gefahr in sich, aus Ubereifer Anders- oder Nichtglaubige zu verachten. Er hat aber die gro.e Chance, durch vernunftige Religionskritik gelautert zu werden. Das ist der genuine Ort christlicher Bildungsarbeit. Sie hat in der Antike den Verdacht zu entkraften, die Gotter seien nicht an den Menschen, ihrer Freiheit und Wahrheit interessiert, jedenfalls nicht dauerhaft und verlasslich; sie hat in der Moderne den Verdacht zu entkraften, der kirchlich vermittelte Glaube an Gott behindere gerade die Entfaltung einer freien Personlichkeit, und zwar prinzipiell. Sie konnte und kann diesen Verdacht theoretisch zu entkraften versuchen, indem sie die befreiende Kraft der Wahrheit Gottes erweist; entscheidend ist aber nur ein praktischer Nachweis, der Menschen auch tatsachlich uberzeugt.
Engagierte und ambitionierte, nachhaltige und weitreichende Bildungsarbeit ist nicht der schlechteste Ansatz. Sie hat immer eine starke soziale Ader, weil sie Menschen qualifiziert, Chancen zu erkennen und Verantwortung zu tragen; sie hat einen genuin religiosen Bezug, weil sie das Gottesverhaltnis klart und die Fahigkeit fordert, in der Gemeinschaft der Kirche einen eigenen Glaubensweg zu suchen; sie hat eine demokratische Kraft, weil Kinder und Erwachsene, Junge und Alte, Manner und Frauen im Fokus stehen, unabhangig von Intelligenzquotient und Schulabschluss, Beruf und Einkommen. Das Kriterium ist, ob Bildung der Freiheit dient. Religiose Bildung ist nur ein Teil, wenngleich ein wichtiger: Bildung ohne Religion ist Halbbildung. Aber der biblisch orientierte Glaube offnet die Augen fur die ganze Welt, in der die Menschen leben: fur den gestirnten Himmel uber ihnen und das moralische Gesetz in ihnen; das Neue Testament setzt mit dem missionarischen Impetus auf die Vielfalt der Sprachen und die Moglichkeiten der Verstandigung; der Schopfungsglaube sieht in der Natur die Spuren Gottes, die es zu lesen gilt.
Das Neue Testament liefert keine Blaupausen fur katechetische und padagogische Bildungsarbeit in der Gegenwart. Es nennt aber Felder didaktischen Engagements, die signifikant waren und bleiben, wenn sie auch unter vollig gewandelten Rahmenbedingungen in einer Fulle neuer Formen umgesetzt werden mussen.

Kompetenzen in Katechese und Didaktik

In einer knappen Dienstanweisung fur einen jungen Bischof hei.t es, Paulus zugeschrieben, im Ersten Timotheusbrief: „Niemand verachte deine Jugend, sondern werde ein Vorbild im Wort, im Wandel, in Liebe, im Glauben, in Reinheit. Bis ich komme, halte dich ans Lesen, ans Trosten, ans Lehren. Vernachlassige nicht die Gnade, die dir durch Prophetie mit der Handauflegung der Presbyter verliehen worden ist“ (1 Tim 4,12–13). In diesen wenigen Satzen wird eine damals progressive Ekklesiologie zum Ausdruck gebracht, die zwar Frauen ausschlie.t, aber ein Modell kirchlicher Fuhrung etabliert, das – nach einer langen Inkubationszeit – uber Jahrhunderte pragend gewirkt hat und fur die katholische wie die orthodoxe Kirche nach wie vor normativ ist.
Im Kirchenbild gewinnt Bildung einen sehr hohen Stellenwert: Leiten durch Lehren ist das Motto. Wer lehren will, muss zuerst gelernt haben und zu einem lebenslangen Lernen bereit sein. Lehren und Lernen sind nicht nur eine Sache des Intellekts, sondern auch der Spiritualitat und des Ethos. Nichts ist so motivierend, sich weiterzubilden, wie ein gutes Vorbild. Junge Menschen konnen Altere belehren, nicht nur umgekehrt –, wenn sie genugend Feuer und Verstand haben. Bischof wird nicht, wer aus der Schule die besten Noten mitbringt, sondern wem unter Gebeten die Hande zur Ordination aufgelegt worden sind, weil die Bitte um das Charisma erhort wird: Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch Verstand. Aber wer als Bischof einer Ortskirche vorsteht, soll auch bei Verstand sein und ihn auf kluge Weise gebrauchen, so dass einerseits die Gemeinden profitieren konnen und andererseits die Stadtgesellschaft die Chance hat, die Seriositat, ja die Attraktivitat der christlichen Bewegung zu erkennen.
Was in der neutestamentlichen Zeit die Aufgabe und Kompetenz einiger weniger Manner mit Bildung an der Spitze der Kirche sein sollte, hat sich im Bildungsnotstand traditioneller Gesellschaften klerikal verengt, kann in der Gegenwart aber durch die Demokratisierung des Bildungssystems – eine sozialpolitische Konsequenz des Christentums – breiter ausgefachert werden. Neben diejenigen, die als Diakone, Priester und Bischofe qua Amt lehren sollen und es hoffentlich auch tun, treten viele Lehrerinnen und Lehrer, aber gleichfalls freiwillige Katechetinnen und Katecheten, die eigene Verantwortung ubernehmen – sei es in der Schule, sei es in der Gemeinde. Die unterschiedlichen Lehr- und Lernorte beeinflussen das Lehren und Lernen selbst – in einer Weise, die das Neue Testament nicht kennt, aber in einer Ambition, die auf die urchristliche Fahigkeit sich berufen kann, den genius loci anzusprechen, die Lebenskontexte mit dem Evangelien zu vernetzen und die Lernenden als Subjekte ernst zu nehmen, die ihr eigenes Leben fuhren und ihren eigenen Glaubensweg finden sollen, den sie durch ihr selbsterworbenes Wissen und Konnen zu bahnen und zu gestalten vermogen.
An einer guten Kooperation in der Lehre und im Lernen mangelt es in der Kirche; es ist viel Luft nach oben, die es besser zu nutzen gilt.

Kenntnisse in Wort und Schrift

Eine Schlusselqualifikation ist das Lesen. „Wer liest, soll verstehen“, hei.t es im altesten Evangelium (Mk 13,14). Ein Text, der nicht gelesen wurde, bliebe toter Buchstabe; ein Text, der nicht verstanden wurde, bliebe eine Bleiwuste. Das Lesen dient der Vergegenwartigung einer anderen, einer fernen, einer fremden Welt; es ist ein kreativer Prozess: Wer liest, ob leise ob – wie meist in der Antike – laut, bildet die eigene Stimme aus. Wer im Lesen die Sinnwelten der Texte wahrnimmt, ist selbst kreativ, weil neue Sinnwelten entstehen, die sich von den alten unterscheiden mussen, aber auch in Kontakt mit ihnen stehen konnen.
Lesen bildet. Die Bibel denkt in erster Linie an das Lesen der Heiligen Schrift. Die Heilige Schrift ist die Urkunde des Glaubens. Ohne das Studium der Heiligen Schrift gehen die Grundlagen des Glaubens verloren. Die biblischen Texte bezeugen eine Vergangenheit, die nicht vergeht, sondern Zukunft schenkt, weil sie von grundlegenden Gotteserfahrungen Israels und der fruhen Kirche gepragt ist. Wer in der Kirche lehren will, muss lebenslang lesen und lernen.
Wie im Alten Testament und im Judentum vorgegeben (Dtn 6), setzt die junge Kirche eine stark entwickelte Kultur des Lesens und Vorlesens, des Wiederholens und Lernens. Im Rahmen ihrer Krafte haben sich das Judentum und das Christentum um eine moglichst breite Alphabetisierung bemuht – unter den Bedingungen der Zeit mit einer strukturellen Benachteiligung der Madchen und Frauen, besonders der Sklavinnen, aber doch auch mit Initiativen, diese Blockaden zu losen.
Deshalb ist das Lesen der Heiligen Schrift nicht nur eine Einfuhrung in die eigene Kultur und in den sprudelnden Quellgrund von Malerei und Literatur, Theater, Oper und Film; die Bibellekture hat auch fur die Ausbildung der Fahigkeit, sich in Wort und Schrift zu au.ern, eine paradigmatische Bedeutung. Denn Lesen und Schreiben, Horen und Sprechen sind in den biblischen Schriften selbst erstrangige Themen: von Gott, der die Zehn Gebote geschrieben, dann aber Mose mit einer Kopie beauftragt habe, uber Jesus, der in den Sand geschrieben hat, um einer Ehebrecherin das Leben zu retten, bis zur alt- und neutestamentlichen Prophetie, die spricht und schreibt, weil ihr Horen und Sehen vergeht.
„Was kein Augen gesehen und kein Ohr gehort hat und in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9) – wer mit einer solchen Einstellung ins Leben geht, um zu lernen und lehren, hat die besten Bildungschancen vor sich und wird doch nie den Wert eines Menschen an seinem Bildungsgrad festmachen, sondern immer umkehrt aus dem Menschenrecht ein Recht auf Bildung ableiten.
Wer die Bibel lesen kann, kann und soll auch andere Bucher lesen. Die Bibel verbietet das nicht; sie ist ja selbst eine Bibliothek. Sie integriert Schriften der Umwelt; sie offnet Augen und Ohren fur Fremdprophetie. Fur die heutige Padagogik und Katechetik ist die Entwicklung einer hohen Lese- und Sprachkompetenz ein Pfund, mit dem sich wuchern lasst.
In neutestamentlicher Zeit war die Kirche eine wachsende Kraft, die Bildungschancen ermoglicht hat. Uber lange Jahrhunderte war sie die einzige Gro.e, die kontinuierliche Bildungsarbeit garantierte, wenn auch im engen Rahmen. Gegenwartig steht sie in der Konkurrenz verschiedener Bildungstrager; ihre Aufgabe ist es, in dieser Vielfalt Profil zu zeigen: im Kern durch den Aufweis, dass durch den Glauben an Jesus Christus Bildungschancen entstehen und konsequent genutzt werden.    

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