Theologie der Befreiung

Befreiungstheologie ist eine theologische Richtung , die sich vor allem dem Einsatz für die Armen verpflichtet sieht.

Befreiungstheologie bezeichnet der Sache nach eine neue Einstellung der mit Theologie Beschäftigten, nämlich aus dem Glauben, das heißt aus der Identifizierung mit dem biblischen Befreiungspotential (vor allem Exodus-Geschehen, Befreiungsbotschaft Jesu Lk 4, 18 f., Zuwendung zu den "Geringsten" Mt 25, 31–45; Freiheit der Kinder Gottes Gal 4, 4 ff.; 5, 1) sich konkret auf die Seite der Unfreien, Unterdrückten, Benachteiligten und Armen zu stellen, aktiv für ihre Befreiung tätig zu sein und diesen Prozess mit theologischen Reflexion zu begleiten. Dieser Reflexion geht also das konkrete und entschiedene Engagement für die Befreiung voraus. Die dabei gewonnenen Glaubenserfahrungen verändern die theologische Fragestellung wie die Erkenntnisse ("epistemologischer Bruch") gegenüber den Perspektiven der Theologie der "atlantischen Gesellschaften" (vgl. auch Kontextuelle Theologie).

Die theologische Reflexion ist gekennzeichnet a) durch eine Situationsanalyse, die sich unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Methoden bedient, b) durch die Konfrontation der Glaubenstradition mit der Situation der Unterdrückten. Hier wird nach der Bedeutung der biblischen Botschaft vom rettenden und befreienden Gott und seiner Option für die "Kleinen", nach dem Befreiungspotential der Reich-Gottes-Botschaft Jesu, nach dem Befreiungsauftrag der Kirche mit ihrer Sozialethik, nach dem Zusammenhang zwischen individueller Bekehrung und gesellschaftlichen Veränderungen gefragt, c) durch die Analyse der Möglichkeiten konkreten Handelns in entschiedener Parteilichkeit.

Die Befreiungstheologie entstand in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika auf katholischer wie auf evangelischer Seite. Ähnliche, wenn auch nicht in allem identische theologische Initiativen entwickelten sich von den späten 60er Jahren an in USA (gegen die Unterdrückung durch Rassismus) und Afrika ("Schwarze Theologie"), auf den Philippinen, in Sri Lanka und Indien ("Theologie der Dritten Welt"). Die offensiv ausgesprochene Erkenntnis der Befreiungstheologie, dass die westlichen Gesellschaften die Religion zur Stützung von Macht und Interessen und zur Beschwichtigung der verelendeten Massen missbrauchen, führte zu heftigen Reaktionen sowohl von politischer wie von kirchlicher Seite.

Schon Ende der 60er Jahre wurden politische Strategien zum Kampf gegen die Befreiungstheologie entwickelt (Morde, Pogrome, Verschleppungen usw.). In kirchlichen Dokumenten werden die "Option für die Armen" und die analytische Erkenntnis der "strukturellen Sünde" zwar von Ende der 60er Jahre bis zur Gegenwart positiv aufgenommen, doch wurden gerade von Seiten der römischen Kirchenleitung administrative Anstrengungen unternommen, um die Befreiungstheologie zu unterdrücken. Wesentliche Punkte der amtlichen Kritik waren die Anwendung "marxistischer" Kategorien bei der Situationsanalyse ("Dependenztheorie"), der Ersatz der Erlösungstheologie durch die Befreiungstheorie, der Anspruch, durch universale Befreiung das Reich Gottes auf Erden verwirklichen zu wollen, die Option für Gewaltanwendung im Fall extremer Unterdrückung. Diese Kritik war durch gewollte Missverständnisse, Unverständnis für das Pathos der befreienden Sprache, Furcht vor marxistischer Unterwanderung der Kirche gekennzeichnet und bekämpfte nur eine Karikatur der Befreitungstheologie.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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