Ein Tisch im Angesicht meiner FeindeKirchenasyl als Schutz vor Abschiebung

Das Kirchenasyl ermöglicht manchen Geflüchteten eine zweite Chance. Härtefälle, in denen eigentlich die Abschiebung droht, werden von staatlichen Instanzen noch einmal überprüft, wenn die Kirche sich für sie einsetzt – so das Ziel. Ulrike La Gro beleuchtet die historischen und juristischen Hintergründe. Sie ist Referentin der „Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“.

Auf dem jährlich stattfindenden „Symposium zu Flüchtlingsschutz“ der Evangelischen Akademie in Berlin formulierte der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Hans Eckhard Sommer, im Juni 2019 seine Sicht auf das Kirchenasyl: Es brauche das Kirchenasyl nicht mehr, da seine Behörde inzwischen alle Härtefälle selbst erkenne. Das lautstarke Raunen der anwesenden Vertreterinnen und Vertreter aus Kirche, Politik und Zivilgesellschaft ließ deutlich werden, dass wenige diese Einschätzung teilten. Diese öffentliche Äußerung Sommers steht im starken Kontrast zu der seines Vorgesetzten, des Bundesinnenministers Horst Seehofer in der Zeitschrift „Zeitzeichen“ im Dezember 2018: „Ich respektiere als Christ die Tradition des Kirchenasyls, und ich betrachte das Kirchenasyl als hilfreiche und erhaltenswerte ‚Ultima Ratio‘ in besonders gelagerten Härtefällen.“ In welchem Verhältnis stehen diese zwei Äußerungen und wie steht es aktuell um das Kirchenasyl?

Schon immer fungieren sakrale Orte auch als Schutzorte. In der antiken jüdischen und griechischen Tradition bot das Tempelasyl einen sicheren Ort und Schutz vor den Verfolgern. Im Mittelalter konnten Menschen, denen Bestrafung drohte, sich im Kirchenasyl der weltlichen Gerichtsbarkeit zumindest temporär entziehen. Hierfür galt das Recht der kirchlichen Interzession, des Einschreitens und Um-Aufschub-Bittens, auf das sich auch heute noch einige Gemeinden beziehen, wenn sie Kirchenasyl aussprechen.

Anfänge des Kirchenasyls in Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland kam es im Winter 1983 zum ersten Kirchenasyl in der Heilig-Kreuz-Kirchengemeinde in Berlin. In den dortigen Gemeinderäumen hatte kurz zuvor ein Hungerstreik in Solidarität mit dem kurdischen politischen Flüchtling Cemal Kemal Altun stattgefunden, dessen Schicksal über Berlin hinaus die Menschen bewegte. Die Bundesrepublik leitete Informationen aus seiner Asylanhörung an den türkischen Geheimdienst weiter, vereinbarte seine Auslieferung in die Türkei und legte Revision gegen die positive Entscheidung im Asylverfahren ein. Altun saß 13 Monate lang in Auslieferungshaft. Am 30.08.1983 stürzte er sich aus dem Fenster des Gerichtssaals, in dem seine Auslieferung verhandelt wurde. Einige Wochen nach seinem tragischen Tod bestätigte das Gericht Altuns Recht auf politisches Asyl in Deutschland.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse in Berlin stand einige Wochen später eine palästinensisch-libanesische Familie mit einigen Unterstützerinnen und Unterstützern aus der linksradikalen Szene vor der Tür der Heilig-Kreuz-Gemeinde. Der damalige Pfarrer Jürgen Quandt beschloss in Absprache mit dem Gemeindekirchenrat, sie herein zu lassen und das erste Kirchenasyl in der BRD auszusprechen. Wenig später folgten Kirchenasyle in NRW und Bayern.

Vorbilder für diese ersten Kirchenasyle in der BRD waren Kirchenbesetzungen von kurdischen Flüchtlingen in den Niederlanden und das neu entstandene „Sanctuary Movement“ in den USA. In der Southside Presbyterian Church in Tucson/Arizona fanden in den 80er-Jahren über 13.000 Flüchtlinge aus Zentralamerika temporär eine Herberge. Ein Netzwerk von mehr als 500 Kirchengemeinden organisierte den Transport der Geflüchteten in den Norden der USA und nach Kanada. Der Druck auf die Politik war enorm, sodass 1986 das Asylrecht reformiert wurde und Menschen aus Zentralamerika endlich das Recht erhielten, in den USA einen Asylantrag zu stellen.

Auch in Deutschland hatten die ersten Kirchenasyle Wirkung über den konkreten Einzelfall hinaus. Mit dem Ende des ersten Kirchenasyls wurde in Berlin ein Abschiebestopp in das Bürgerkriegsland Libanon erreicht. Die Forderung nach einem Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden in die Türkei, die auch die Kirchenasylbewegung in den 1980er- und 1990er-Jahren immer wieder forderte, wurde allerdings nie erfüllt. Allerdings wurden auf Druck der Kirchenasylbewegung und zivilgesellschaftlicher Gruppen 2005 in allen Bundesländern die Härtefallkommissionen eingeführt. Durch die Härtefallkommissionen haben Geflüchtete, deren Verfahren rechtlich aussichtslos sind, die Möglichkeit, als Härtefall anerkannt zu werden und somit einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu bekommen. Der Einrichtung der Kommissionen ging die Einsicht voraus, dass Behörden und Gerichte immer auch einige Fehlentscheidungen treffen werden und dass niemals alle individuell gelagerten Notlagen von Gesetzen abgedeckt sein würden.

Das Feld der flüchtlingspolitischen Akteure erweiterte sich seit den 80er-Jahren kontinuierlich. Organisationen wie Pro Asyl, Amnesty International und der Jesuiten Flüchtlingsdienst (JRS), aber auch selbstorganisierte Flüchtlingsorganisationen wie The Voice, die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen oder Women in Exile machen sich auf politischer Ebene für die Rechte von Flüchtlingen stark. Seit dem „Sommer der Migration“ 2015 sind noch einmal viele Akteure dazugekommen. Es wird sich zeigen, wie viele davon langfristig Bestand haben.

Für die Kirchenasylbewegung ist mit zunehmender Popularität flüchtlingspolitischen Engagements vieles einfacher geworden. Auch innerhalb der großen verfassten Kirchen gibt es inzwischen einen Konsens, das Kirchenasyl grundsätzlich zu unterstützen. Der institutionelle Rückhalt erleichtert es Gemeinden und Ordensgemeinschaften, gegenüber den Behörden und gegebenenfalls der Öffentlichkeit für die Menschen im Kirchenasyl einzutreten. Da sie keinen Konflikt mit Kirchenleitungen oder Vorgesetzten fürchten müssen, fällt es vielen Gemeinden und Ordensgemeinschaften leichter, sich für die Gewährung von Kirchenasyl zu entscheiden. Während zu Beginn der Kirchenasylbewegung in Deutschland vollkommen unabsehbar war, ob und wie es zu einer guten Lösung für die Bewohnerinnen und Bewohner des Kirchenasyls kommen würde, gibt es inzwischen regionale Ansprechpersonen, Beratungsstellen und solidarische Anwältinnen und Anwälte, die dabei unterstützen und die Kirchenasyle begleiten. Die Entscheidung, wer ins Kirchenasyl aufgenommen wird, bleibt jedoch immer bei der jeweiligen Gemeinde oder Ordensgemeinschaft.

Dublin-Kirchenasyle

Mit Diskussion und Einführung der Dublin-Verordnung sollte schon in den 90er-Jahren auf europäischer Ebene geregelt werden, welcher EU-Mitgliedsstaat für ein Asylverfahren zuständig ist. Es sollte vermieden werden, dass Flüchtlinge mehrfach in der EU Asyl beantragen oder in bestimmte Länder aufgrund ihrer Attraktivität vermehrt einreisen würden als in andere. Anstelle einer Quotenregelung setzten Deutschland und andere EU-Binnenländer durch, dass das Ersteinreiseland für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sein sollte. Mit der Dublin-III-Verordnung von 2013 wurde diese Politik noch einmal verschärft. Dass dies eine Entscheidung zu Lasten der südlichen und östlichen EU-Mitgliedsstaaten bedeutete und dass sich die Standards bezüglich Asylverfahren, Unterbringung und Perspektive nach Erteilung eines Aufenthaltsstatus extrem unterschieden, war allen Beteiligten klar. Nach Berichten über die verheerende Situation in Bulgarien und Rumänien entschlossen sich immer mehr Kirchengemeinden dazu, Kirchenasyl auszusprechen, obwohl es sich nicht um eine drohende Abschiebung ins (vermeintliche) Herkunftsland handelte. Von 2013 auf 2015 stieg die Zahl der Kirchenasyle vom zweistelligen Bereich auf über 600. Auch in den nachfolgenden Jahren nahm die Anzahl der Kirchenasyle kontinuierlich zu, was auch an der steigenden Zahl der Asylanträge insgesamt lag. Die Kirchenasylbewegung wurde so zu einer Stimme unter vielen, die die Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems in dieser Form scharf kritisierten. Nicht unbedingt aufgrund seiner zahlenmäßigen, wohl aber aufgrund seiner symbolischen Bedeutung rückte das Kirchenasyl in den letzten Jahren wieder in die Öffentlichkeit.

Während Länder wie der Libanon und Jordanien an ihre Kapazitätsgrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen stießen, mussten sich auch Menschen, die seit Jahren in der Türkei oder in Libyen lebten, erneut auf die Flucht machen. Das führte dazu, dass an den südlichen Grenzen der EU immer mehr Flüchtlinge ankamen. Diese Fluchtbewegungen waren langfristig vorhersehbar gewesen, dennoch hatte sich die EU nicht entsprechend vorbereitet, und Griechenland und Italien baten um Unterstützung der anderen EU-Länder. Viele erklärten die Dublin-Verordnung für gescheitert. Trotzdem verteidigten deutsche Politikerinnen und Politiker vehement das Dublin-System. 2015 kam es zu Gesprächen zwischen dem Innenministerium und dem BAMF auf der einen und Vertreterinnen und Vertretern der großen Kirchen auf der anderen Seite. Die staatliche Seite drohte, die 6-Monats-Frist im Dublin-Verfahren auf 18 Monate zu erhöhen, was bedeutet hätte, dass Menschen über ein Jahr im Kirchenasyl hätten aushalten müssen, bevor ihnen die Möglichkeit eines Asylverfahrens in Deutschland offengestanden hätte.

Vor diesem Hintergrund einigten sich Kirchen und BAMF auf eine sogenannte Vereinbarung bei Kirchenasyl in Dublin-Fällen. Die Kirchen benannten Ansprechpersonen als klare Kommunikationspartner für das BAMF und durch Schilderung der Härten sollte mehr Transparenz für die Motivation von Kirchenasylen geschaffen werden. Das BAMF sicherte im Gegenzug zu, auf eine Verlängerung der Überstellungsfrist (vorerst) zu verzichten. Entgegen der Erwartungen, Kirchenasyl damit einzudämmen, bedeutete die Vereinbarung für viele kirchlich Aktive sogar eher eine Ermutigung: Hatten Kritikerinnen und Kritiker immer wieder darauf bestanden, dass es in einem demokratischen Rechtsstaat kein Sonderrecht für die Kirchen geben dürfe und Kirchenasyl keine legitime Form des Protests gegen Abschiebung darstelle, gab es nun eine Vereinbarung mit dem Staat und Regeln, an denen sich Gemeinden und Ordensgemeinschaften orientieren konnten. Obwohl die Vereinbarung keinerlei rechtlich bindenden Charakter hatte, werteten viele sie doch als Akzeptanz von Kirchenasyl. Schon 2015 wurden allerdings auch kritische Stimmen laut, die die Gefahr sahen, dass mit einer zunehmenden Verregelung des Kirchenasyls zwar kurzfristig etwas gewonnen sei, dies langfristig allerdings problematisch sein könnte. Aus der Frage „Müssen wir diese Abschiebung verhindern, weil sie eine Verletzung der Menschenwürde und des Wohlergehens unseres Mit-Geschöpfes bedeutet und im Extremfall tödlich enden kann?“ wird „Schaffen wir es innerhalb von vier Wochen, ein fachärztliches Gutachten zu besorgen, das den Standards des BAMF genügt, damit diese Person im Dossierverfahren mit dem BAMF eine Chance hat?“

Anstatt ausschließlich auf den einzelnen Menschen zu schauen, wird auch abgewogen, ob die Geschichte mit den Härtefallkriterien des BAMF vereinbar ist und im Dossierverfahren eine Chance hat. Ob Obdachlosigkeit, drohende Zwangsprostitution, Misshandlung oder willkürliche Inhaftierung in den jeweiligen Dublin-Vertragsstaaten als Kriterien für eine Aussetzung der Abschiebung erfolgreich geltend gemacht werden können, hängt oftmals mehr von der politischen Wetterlage in Deutschland und Europa ab als von den konkreten Erlebnissen der Menschen im Kirchenasyl. Die Anerkennungs- und Schutzquoten für Menschen aus denselben Herkunftsländern variieren stark: Laut europäischem Flüchtlingsrat betrug die Schutzquote für afghanische Staatsangehörige in der ersten Jahreshälfte 2019 beispielsweise in Bulgarien 8%, in Deutschland 69% und in der Schweiz 97 %, für türkische Staatsangehörige in Bulgarien 0%, in Deutschland 50% und in Norwegen 93%. Sollte also eine Person aus der Türkei aufgrund der Dublin-Verordnung nach Bulgarien zurückgeschoben werden, droht ihr dort mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Abschiebung ins Herkunftsland. Die Gefahr einer sogenannten „Kettenabschiebung“ wird allerdings in Deutschland selten als Abschiebehindernis anerkannt, da die grundlegende Fehlannahme im Dublin-System ist, dass es relativ vergleichbare Asylverfahren und Entscheidungspraxen in allen EU-Mitgliedsstaaten gäbe. Die Dublin III-Verordnung legt den Familienbegriff außerdem sehr eng aus. Laut EU-Verordnung gelten nur Ehepartner und minderjährige Kinder als Familie. Dies führte beispielsweise zur Androhung der Abschiebung einer dementen Rentnerin aus dem Iran nach Italien, deren erwachsene Töchter inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben. Wenn es nach dem Entscheider im BAMF ginge, könnten die Töchter, auf deren Pflege die Mutter täglich angewiesen ist, ihre Mutter ja in den Ferien in Italien besuchen. Selbst in der Logik der Dublin-Verordnung könnte an solchen Stellen humanitär entschieden werden – die Übernahme einzelner Asylbegehren ist ausdrücklich vorgesehen.

Seit der Vereinbarung zwischen BAMF und Kirchen 2015 verschiebt sich die Diskussion um Kirchenasyl auf die juristische Ebene. Es gibt weniger direkte Kommunikation mit Politik und Behörden über Einzelschicksale, dafür erhöhte Anstrengungen, gerichtlich gegen Sanktionierung und Kriminalisierung von Kirchenasyl vorzugehen.

Aktuelle juristische Situation

Kirchenasyl war, zumindest im modernen Staat, nie ein Rechtsinstrument. Es gibt kein „Recht auf Kirchenasyl“, sondern Kirchenasyl wird von den Behörden in der Regel lediglich toleriert. Die wenigen Räumungen und Räumungsversuche, die es gab, mündeten in lauten Protest von Kirchen und Zivilgesellschaft und endeten meist mit schlechter Presse für die staatliche Seite. So konnte eine drohende Abschiebung in den allermeisten Fällen noch verhindert werden.

Aktuell erleben wir eine paradoxe Situation: Die Gerichte entscheiden mehrheitlich, dass die Heraufsetzung der 6-Monatsfrist auf 18 Monate nach einem abgelehnten Dossier bei Kirchenasylen mit Dublin-Bezug rechtswidrig ist und zahlreiche Politikerinnen und Politiker äußern sich positiv zum Kirchenasyl. Parallel zu Lob und Anerkennung für das kirchliche Engagement für Flüchtlinge kommt es allerdings immer wieder zu gerichtlichen Verfahren gegen (ehemalige) Kirchenasyl-Bewohnerinnen und Bewohner sowie kirchliches Personal.

Hat ein Verwaltungsgericht gerade festgestellt, dass ein Flüchtling im Kirchenasyl nicht als untergetaucht gilt, stellt die Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen illegalen Aufenthalts gegen den Flüchtling und wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt gegen die jeweilige Pastorin, Pfarrer, Ordensschwester oder -bruder. Bisher wurden die meisten dieser Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt. Auch im Falle des Allgäuer Pfarrers Ulrich Gampert im Herbst 2019 kam es letztlich nicht zu einer gerichtlichen Bewertung der Strafbarkeit von Kirchenasyl und das Verfahren wurde eingestellt. Ein Tiefpunkt der Kriminalisierung in den letzten Jahren waren die Hausdurchsuchungen bei zwei Pfarrerinnen und drei Pfarrern im Hunsrück, die neun Sudanesen Kirchenasyl gewährt hatten. Hier konnten die beschlagnahmten Daten letztlich aufgrund des Seelsorgegeheimnisses nicht ausgewertet werden. Das Risiko, dass Gemeinden und Ordensgemeinschaften eingehen, wenn sie Kirchenasyl aussprechen, ist gering. Trotzdem sorgen Strafverfahren bei vielen für Verunsicherung und sind für alle Beteiligten so zeit- und nervenaufreibend, dass sie gegebenenfalls nicht mehr die Kraft haben, weiterhin Kirchenasyl zu organisieren.

Ausblick

Trotz erstarkendem Gegenwind gibt es viele Gemeinden und Ordensgemeinschaften, die Kirchenasyl aussprechen. Aktuell weiß die „Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ von 425 Kirchenasylen für mindestens 678 Personen. Von Abschiebung bedrohte Menschen, die Zuflucht in Gemeinden und Ordensgemeinschaften suchen, kommen zunächst als Individuen mit ihrer ganz eigenen Geschichte im Kirchenasyl an. In den Wochen, Monaten oder Jahren im Kirchenasyl entstehen Beziehungen, die oft über das Kirchenasyl hinaus weiterbestehen. Viele empfinden das Abwarten und die Ungewissheit über die eigene Zukunft als große Belastung. Die Dankbarkeit gegenüber und die Abhängigkeit von der Gemeinde oder Ordensgemeinschaft drängt die Bewohnerinnen und Bewohner des Kirchenasyls in eine Position, aus der heraus es schwerfallen mag, die eigene Autonomie zu bewahren und Kritik an Bevormundung zu äußern.

Neue Herausforderungen kommen hinzu: Der zunehmende Abschiebedruck und die Errichtung von Anker-Zentren führen dazu, dass oftmals vor dem Kirchenasyl keine persönliche Beziehung zwischen der Gemeinde oder Gemeinschaft und den Kirchenasyl-Bewohnerinnen und Bewohnern besteht. In kurzen Abständen werden auf Bundesebene neue Gesetzesverschärfungen durchgedrückt, die den Maßstäben des Grundgesetzes nicht standhalten werden. Bis es jedoch zu Entscheidungen vor dem Bundesverfassungsgericht kommen wird, befinden sich Geflüchtete und Unterstützende in einer verwirrenden Situation. Selbst auf Migrationsrecht spezialisierte Anwältinnen und Anwälte können oft nicht einschätzen, wie die neuen Gesetze umgesetzt werden und ineinandergreifen. Auch die Zukunft des Kirchenasyls ist ungewiss. In zwei Fällen von Dublin-Kirchenasyl wendet das BAMF eine neue, absurde Auslegung der Dublin-III-Verordnung an: Die Frist für die Rückführung in den nach der Dublin-Verordnung zuständigen EU-Mitgliedsstaat wird für die Dauer des Kirchenasyls ausgesetzt. Expertinnen und Experten sind sich einig, dass dies vor Gerichten kaum Bestand haben dürfte. Dennoch zeigt sich, wie ungewiss die nähere Zukunft von Kirchenasyl in Deutschland ist.

Religiöses und humanitäres Engagement für Menschen auf der Flucht existieren überall auf der Welt und sind weder eine christliche noch eine europäische Besonderheit. Gleiches gilt für sakrale Orte, an denen Menschen Zuflucht suchen und finden. Vergleichbare Ansätze zum Kirchenasyl, wie es derzeit in Deutschland praktiziert wird, finden sich in den letzten Jahren in Europa vor allem in Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Dort sind Gemeinden allerdings einem wesentlich höheren Druck ausgesetzt und die Zahl der Kirchenasyle ist bei weitem niedriger als in Deutschland. Über Österreich hinaus machten im letzten Jahr zwei Fälle von Kirchenasyl Schlagzeilen: Der Lehrling Ali Wajid aus Afghanistan, der in einem Kloster in Salzburg im Kirchenasyl war, reiste nach Kenia aus, um nach einigen Monaten in einem dortigen Kloster endlich wieder legal einreisen zu können. Er setzt nun seine Lehre in Salzburg fort. Im Dezember 2019 drang die Polizei in den Klausurbereich der Lehrschwestern in Langenlois ein und nahm den afghanischen Flüchtling „Zia“, der sich dort im Kirchenasyl befand, in Abschiebehaft. Nach massivem Protest der Schwestern, Mitschülerinnen und Mitschüler sowie des Bürgermeisters schaltete sich Bundespräsident van der Bellen ein und Zia konnte einen Tag später ins Kloster zurückkehren.

Aus der Schweiz wurden im November 2019 eine Mutter und ihre 11-jährige Tochter aus dem Kirchenasyl nach Belgien abgeschoben. Medial entbrannte daraufhin eine landesweite Debatte um Kirchenasyl. Zu internationaler Aufmerksamkeit über Europa hinaus brachte es ein Kirchenasyl im niederländischen Den Haag. Von Oktober 2018 bis Januar 2019 hielt die Protestantische Gemeinde einen Dauergottesdienst für die armenische Familie Tamrazyan. Hintergrund ist das niederländische Polizeigesetz, das es Beamtinnen und Beamten verbietet, während eines laufenden Gottesdienstes in einen religiösen Raum einzudringen. Gleiches gilt, das sei an dieser Stelle bemerkt, für laufende Gerichtsverhandlungen und Sitzungen des Parlaments. An der Durchführung des 24-Stunden-Dauergottesdienstes beteiligten sich über 1000 Geistliche verschiedener Konfessionen und Religionen. Nicht nur die Familie Tamrazyan erhielt letztlich einen Aufenthalt in den Niederlanden, sondern hunderte von in den Niederlanden geborenen Minderjährigen bekamen die Möglichkeit, im Rahmen des sogenannten „Kinderpardons“ für sich und ihre Familien einen Antrag auf Aufenthalt zu stellen. In den USA haben sich unter der Trump-Regierung hunderte von Gemeinden zu einem neuen „Sanctuary Movement“ zusammengeschlossen. Zahlen darüber, wie viele Kirchenasyle tatsächlich zustande gekommen sind, gibt es allerdings nicht. Die rigide Abschiebepolitik und große Razzien fordern neue Formen des Engagements gegen Abschiebung. Im Gegensatz zum Kirchenasyl, in dem einzelne Personen über einen längeren Zeitraum beherbergt werden, fasst die Bewegung in den USA den Begriff „Sanctuary“ weiter. So gibt es beispielsweise zahlreiche religiöse Institutionen, die ihre Kirchen, Synagogen und Moscheen während der Tage und Nächte, für die Razzien angekündigt sind, zum „Sanctuary“ erklären.

Die Kirchenasylbewegung steht nicht isoliert für sich, sondern ist in den jeweiligen Kontext eingebunden: Das Verhältnis von Staat und Kirche und die Privilegien, die den Kirchen zugestanden werden, bestimmen mit, wie sicher oder risikoreich, wie öffentlich oder wie geheim Kirchenasyl ist. Die zunehmende Kriminalisierung von Flucht und Migration in Europa und die Externalisierung der Grenzen bewirken nicht, dass sich weniger Menschen auf die Suche nach einem sicheren Ort machen. Sie machen es nur für Flüchtende schwerer, ihre Würde und ihr Leben zu bewahren. Auch Menschen, die Geflüchtete unterstützen, geraten unter Druck. Die Strafverfahren gegen Rettungsschwimmerinnen wie die selbst aus Syrien geflohene Sara Mardini, Kapitäninnen ziviler Seenotrettungsorganisationen und die Blockade von Rettungsschiffen sind nur drei Beispiele der Kriminalisierung humanitärer Hilfe. Die Bedrohung in ihren Herkunftsländern und die extrem prekären Situationen für Flüchtlinge in etlichen EU-Mitgliedsstaaten bewegen viele Menschen, auch mit der Gewährung von Kirchenasyl gegen Abschiebung zu protestieren.

Aber selbst in einem Europa mit einer Flüchtlingspolitik, die sich an Humanität statt Abschottung ausrichtet und in einem Deutschland mit fairen Asylverfahren für alle Antragstellenden gäbe es

Kirchenasyl: Es wird immer Menschen geben, auf die staatlich definierte Kriterien eines Härtefalls nicht zutreffen, die durchs Raster fallen und deren Situation dennoch einen zweiten Blick verlangt. Auch wird es immer Fehlentscheidungen in Behörden geben, die im Sinne der Menschenrechte und Humanität revidiert werden müssen. Das Eintreten für Mitgeschöpfe in Not und der Einsatz für Menschenrechte und Menschenwürde sind gelebtes Christentum.

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