Bewerten, empfehlen, vergleichenZur Aufmerksamkeits- und Reputationsökonomie in den sozialen Medien

In den Sozialen Medien geht es darum, zu sehen und gesehen zu werden. Die Selbstdarstellung fordert Aufmerksamkeit ein, die neue Währung im Internetzeitalter. Markus Reinisch betrachtet die neueren Entwicklungen aus soziologischer Perspektive. Er unterrichtet unter anderem katholische Religion in Hof und arbeitet als Autor zu Themen der Digitalisierung für verschiedene Zeitschriften.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialen Medien hat in den letzten Jahren eine beachtliche Anzahl an Publikationen verschiedener Disziplinen hervorgebracht. Vor allem die sozialwissenschaftlichen Beiträge reagierten auf die Tatsache, dass sich das Soziale seit dem Einfluss des Partizipationsnetzes „web 2.0“ immer stärker datengetrieben vollzieht und konstituiert. Eine umfassende Netzwerkforschung beleuchtet die zunehmende „Datafizierung“ zahlreicher Lebensbereiche und die Auswirkungen etwa auf das Politische, Private, die Subjektwerdung, Identitätsbildung oder auf (veränderte) Formen von Sozialität. Inwiefern digitale Technologien (Big Data, Algorithmen) soziotechnische Systeme wie Netzwerk-Plattformen steuern und deren Design mitformen, ist dabei eine der leitenden Forschungsfragen. Die Analyse dieser neuen Kommunikationsplattformen im Gefolge des „Web 2.0“ führte zu Zuschreibungen wie „Daten-Gesellschaft“, „Gesellschaft der Daten“, „Digitale Gesellschaft“, „Generation Facebook“ oder „Facebook-Gesellschaft“.1 Bei all diesen Diagnosen spielen auf Seiten der Nutzer Vernetzung, Kommunikationsmöglichkeiten und Formen der Selbstdarstellung und des Ab- und Vergleichens eine wesentliche Rolle im Zuge des individuellen Reputationsmanagements. Seitens der Betreiber geht es darum, Daten von beobachtbarem Verhalten auf den Plattformen für ökonomische Zwecke auszuwerten und so Aufmerksamkeitsströme in erwünschte (meist ökonomische) Richtungen zu lenken.

Im Beitrag soll ein grober aufmerksamkeits- und reputationssoziologischer Blick auf die sozialen Medien erfolgen, dieser technologiekritisch ausgeleuchtet und sozial- und medienethisch abgerundet werden. In einer netzbasierten Aufmerksamkeits- und Reputationsökonomie, so die Grundannahme, kommen verschiedene Faktoren zusammen, wenn es um Erfolg oder Misserfolg von Postings, Tweets oder anderen kommunikativen Botschaften geht. Aufmerksamkeit ist zu einer bedeutsamen Währung im Geflecht von Bewertungen, Empfehlungen und deren immer wichtiger werdendem Feedback in sozialen Medien geworden. Unter „sozialen Medien“ soll hier in Anlehnung an die Netzwerkforschung fünferlei verstanden werden: „klassische“ soziale Netzwerke (wie Facebook oder Google+), Video- und Fotoplattformen (z.B. Instagram, Flickr), Blogs (Twitter u.a.), mobile Dienste (z.B. WhatsApp) sowie Foren und Bewertungsplattformen aller Art.

Sehen und gesehen werden

Es sind erstens die Produzenten, die mit ihrem wie auch immer gearteten „user generated content“ (Bilder, Videos, Texte, Kommentare, usw.) Aufmerksamkeit suchen. Zweitens reagiert ein komplexes und unüberschaubares Publikum mit seinen Erwartungen auf die Inhalte und ist dabei generell bereit, Aufmerksamkeit einzuräumen. Drittens stellen Provider eine Kommunikationsplattform mit einem bestimmten Design für die Kommunikation, Kooperation und Vernetzung zur Verfügung. Für den Nutzer der sozialen Medien – Produzent und Teil des Publikums zugleich – geht es oft darum, über Formen medialer Selbstpräsentationen und -inszenierungen sichtbar und jederzeit bewertbar zu sein und gleichzeitig selbst aktiv zu beobachten und zu bewerten. Ob Facebook, Twitter, WhatsApp, LinkedIn: Generell setzt die Sehnsucht nach Selbstdarstellung, Gesehenwerden und Vergleichen aktives Handeln voraus. Wer besprochen und attraktiv(er) werden möchte, muss immer neue Formen, Plattformen und Spielräume der Selbstdarstellung entdecken. Mit anderen Worten: Um nicht unbedeutend zu sein (oder zu werden), kann man es sich nicht erlauben, auf den sozialen Kanälen passiv nur Beobachter zu sein.

Was der Architekt, Softwareentwickler und Stadtplaner Georg Franck 1998 in seinem Buch „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ beschrieben hat, ist heute durch die Sozialen Medien mehr denn je eingelöst. Die von Franck in puncto Einschaltquoten, Auflagenstärke, SMS und e-mail analysierte „neue Währung Aufmerksamkeit“ radikalisiert sich in der Digitalität und Disruption der Sozialen Medien zu einer algorithmischen Bindung, Lenkung, Konzentration und letztlich Nutzbarmachung von Interessen sowie Aufmerksamkeit. Eine Nachricht, die nicht vernommen werde, so Franck, erzeuge keinen ökonomischen Wert. Waren die „gatekeeper“ früher an journalistischen und redaktionellen Auswahlkriterien orientiert, sind es heute technologische Instrumente wie Big-Data-Techniken und Algorithmen, die als Filterinstanzen für die inhaltliche Auswahl programmiert werden. Sie quantifizieren Interaktions-, z.B. Bewertungsprozesse und machen Rezensionen maschinenlesbar. Doch was führt in den heutigen Zeiten der sozialen Netzwerke zu Aufmerksamkeit? Die Sozialphilosophin Anja Breljak vergleicht bei dieser Frage die sozialen Medien mit der attischen Demokratie, „wo die Performanzen der Schnellen, Lauten und Deutlichen tonangebend waren und in de[r] die Lust am Affektiven, die Empörung, die Neugier, die Verletzung oder die Entlarvung“2 Nachrichtenwert hatte. Angesichts dieser Dominanz von Affekten und Spektakulärem in den sozialen Medien bedeutet Aufmerksamkeitsökonomie auch: Es geht um ein Managen von Stimmungen, um eine Bewirtschaftung von Gefühlen. Sherry Turkles bekannter Ausspruch: „We‘re wanted. Somebody wants us, somebody needs us“ trifft gerade deshalb zu, weil die Formen der Selbstdarstellung affektiv wirksam werden – in der Interaktion und im Vergleichen mit möglichst vielen anderen Nutzern und deren Erwartungen an oft spektakuläre Inhalte und Reizthemen. So kann die jeweilige Plattform innerhalb der sozialen Netzwerke gelesen werden als „digitale Arena […] des affektiven Austauschs […] in Echtzeit“3.

Algorithmen und ausgeklügelte Empfehlungssysteme

2006 etablierte Facebook den „Share“-Button und 2009 den „Like“-Button im Interface. Der US-amerikanische Politik- und Kommunikationswissenschaftler David Lazer sprach angesichts Empfehlungsmarketing und Verwertungslogik durch den viel zitierten „Like“-Button: Die Algorithmen der sozialen Netzwerke „capture a complete record of individual behavior, […] describing their minute-by-minute interactions and locations“4 – sie erstellen ein vollständiges Profil der persönlichen Verhaltensweisen und beschreiben die Aktivitäten und Standorte der Nutzer minutengenau. Gerade auch mit der (nicht unumstrittenen) Abschaffung des „Dislike“-Buttons gab Facebook seiner Plattformpolitik und -ökonomie eine zukunftsweisende Richtung hin zu einem ausgeklügelten Empfehlungssystem, das unter mathematischen Stichworten wie „Kanten“, „Knoten“ und „Graphen“ ebenfalls Gegenstand der Netzwerkforschung geworden ist. Ohne viel Text dennoch wertende Empfehlungen abzugeben und Rückmeldungen dafür zu erhalten – auf dieserart Geben und Nehmen basieren nicht nur die Bewertungs- und Rezensionsportale, sondern auch immer mehr die Logik der sozialen Netzwerke und ihrer Aufmerksamkeitsökonomie.

Zunehmend errechnen Algorithmen statistische Wahrscheinlichkeiten, dass dies oder jenes „zu Ihnen passen“ wird. Auch Facebooks Timeline ist ein typisches Beispiel für das auf Tracking basierende individualisierte, errechnete Zuspielen von Content. Die Forschung rund um Social Media und Algorithmen hat ferner gezeigt, dass letztere dabei nicht etwa eine objektive, „allgemein unbestimmte Mittlerfunktion mehr einnehmen, sondern als hochgradig spezifische und gleichsam spezifizierende Mittler zwischen technischen Diensten und den einzelnen Individuen operieren.“5 Algorithmen werden immer mehr in die Lage versetzt, Userverhalten, Meinungsbilder und Stimmungslagen zu erkennen und Aufmerksamkeit entsprechend zu dirigieren. Das Ziel der Plattformen besteht, aufmerksamkeitsökonomisch besehen, darin, dass der User so lange wie möglich eingeloggt und auf der Seite bleibt oder so oft wie möglich wieder hin wechselt und dabei Daten(spuren) hinterlässt, die in vielfacher Weise verwertbar sind.

Kritik aus der Soziologie

Der Soziologe Steffen Mau analysiert die Folgen einer umfassend quantifizierten, bewertenden „Gesellschaft der Scores, Rankings, Likes, Sternchen und Noten.“6 Er sieht die technologischen Möglichkeiten, insbesondere die sozialen Netzwerke als einen Faktor für die rasante Verbreitung von Bewertungs- und Wettbewerbsstrukturen in vielen Lebensbereichen an. So entstehen einflussreiche sogenannte Reputationsmetriken infolge sozialer Zuschreibungen und deren Kommunikation und Sichtbarmachung z.B. über die Möglichkeiten sozialer Medien. Die Arbeit am Profil würde, so Mau, zu einem in Zahlen und Symbole übersetzten „Reputationsmanagement“, bei dem der Einfluss von Algorithmen nicht unterschätzt werden dürfe. Mau verweist auf den schmalen Grat zwischen Verhaltensbeobachtung über all die Social-Media-Tools und Verhaltenssteuerung und nennt als Beispiel die Auswüchse des chinesischen „Social Credit Score“. Wesentlich für die Aufmerksamkeits- und Reputationsökonomie in einer solchermaßen verdateten Gesellschaft sei die „die Zahl der positiven Resonanzsignale (Likes)“7, die es zu optimieren gelte. Reputation heißt nach Mau, dass nach der Logik des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit weit mehr als punktuelle mediale Selbstdarstellung zähle. Es werde – nicht explizit, sondern eher subtil – verlangt, nicht nur sichtbar zu sein, sondern permanent eigenaktiv in kommunikativer Weise in Erscheinung zu treten, mit anderen Worten: immer neu zu partizipieren, um sich z.B. gut mit Gleichgesinnten in einem Forum vergleichen zu können. Nach den Marketing-Prinzipien werden so nicht nur mehr Daten generiert, sondern diese zugleich auch aktualisiert und in Datenbanken abgespeichert.

Andreas Reckwitz hat mit seinem Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“ eine umfassende Theorie der Moderne vorgelegt, in der er der Kultur der Besonderheiten und des Originellen nachgeht. In der Einleitung weist er auf die Bedeutung der sozialen Medien hin, er konstatiert: „Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht.“8 Dabei gehe es darum, Attraktivitätswerte zu steigern: sich besonders originell, von anderen abhebend, medial zu präsentieren und auf möglichst viele Reaktionen darauf zu setzen. Diese Formen der Interaktion in den sozialen Netzwerken seien, so Reckwitz, zu einem Großteil auf Anerkennung und Wertschätzung hin ausgerichtet. Likes gewichten Nachrichten, d.h. sie laden Themen mit einem Wert auf, bereits die Statusmeldung besitzt einen hohen, weil aussagekräftigen Nachrichtenwert. Reckwitz spricht von „komplexen Valorisierungstechnologien, in denen über Ratings und Rankings die Besonderheiten von Restaurants, Universitäten, Coaches oder potenziellen Ehepartnern miteinander verglichen werden.“9 Mit ihrem Prinzip der großen Reichweite machen die sozialen Medien Vergleichbarkeit jederzeit möglich: Es zeigen sich „auf dem digitalen Sichtbarkeits- und Bewertungsmarkt Valorisierung und Entvalorisierung“10. Nach außen dargestellte Handlungen und Erlebnisse in sozialen Netzwerken würden, so Reckwitz weiter, permanent unter dem Aspekt der Bewertbarkeit gesehen und so „im Modus der Dauerrezension“11 kommuniziert. In dieser „Valorisierungsmaschinerie“ gehe es also darum, mit einem attraktiven Profil positive Eindrücke zu hinterlassen, Sympathien zu gewinnen und durch die Wirkungen der medialen Selbstpräsentation Belohnungen zu erhalten, die oft in Form von „Likes“, „Followern“ oder anderen positiven Rückmeldungen bestehen.

Eine Metapher, um diese Räume genauer zu beschreiben, buchstabiert die Journalistin und Soziologin Carolin Wiedemann im Anschluss an Ulrich Bröckling aus: Das „Assessment-Center“ als Ort für die umfassende numerische Vergleichbarkeit mit anderen Usern hinsichtlich der Selbstdarstellung, -optimierung und -disziplinierung. Während Bröckling 2007 das Leben „als permanentes Assessment Center“12 unter den Bedingungen eines neoliberalen Marktes analysiert, geht Wiedemann konkret auf die Sozialen Netzwerke ein. Sie analysiert das Interface, die damit verbundenen Möglichkeiten, sich im Rahmen eines möglichst kreativen „Selfbrandings“ (eine Art Selbstvermarktung) sicht- und bewertbar zu machen und kommt zu dem Schluss: So „führt auch Facebook das Verhalten der User_innen, es strukturiert deren Handeln, indem es sie dazu anleitet, sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu verhalten, bestimmte Aspekte des Selbst und […] bestimmte Dinge zu äußern.“13

Voraussetzung dafür ist zum einen das Ansammeln von Daten der Nutzer und zum anderen ein algorithmisches Lenken von Aufmerksamkeit auf bestimmte Inhalte und Quellen. Letzteres bedeutet, dass Informationen auf eine bestimmte, dem bisherigen Profil einer Person angepassten Art und Weise registriert, weiterverarbeitet und entsprechend adressiert wird. So entstehe das Assessment-Center als Trainings- oder Testraum, in dem es jedoch „nicht reicht, Kompetenzen vorzuweisen, sondern vor allem darauf ankommt, diese zugleich als authentischen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit erscheinen zu lassen.“14 Wie steht es um die Fortschritte in puncto Selbstoptimierung? Welche Erfolge sind im Vergleich zu anderen nachzuweisen? Welcher Art sind die Ermutigungen und Ermunterungen zu bestimmten Handlungen? Wie lässt sich die Vergleichbarkeit verbessern und übersichtlich visualisieren? Solche Fragen sind Gegenstand der Assessment-Interaktionen in den Sozialen Medien, die gelesen werden können als freiwillige Unterwerfung unter das „Diktat des Komparativs“, wie Bröckling an anderer Stelle schreibt.

Technologiekritik

Der niederländische Designer und Technologiekritiker Tijmen Schep stellt auf der Internetseite ‹www.socialcooling.com› die Effekte des Big-Data-Boom als „soziale Abkühlung“ vor. Alles beginne damit, dass unsere Nutzerdaten in einer „Reputation Economy“ meist unbemerkt „in tausend verschiedene Bewertungen umgewandelt“ und somit maschinenlesbar werden, argumentiert Schep. Wir orientierten uns ständig an dem dadurch entstehenden „digitalen Ruf“, der, so Schep weiter, zugleich auch blockierend wirke: Verhalten, das Risiko vermeide und daraufhin ausgerichtet ist, seine Bewertungen zu verbessern, dominiere auf den Netzwerkseiten.

Das „Behavioral Targeting“, i.e. die individualisierte, genau auf das Nutzerverhalten hin ausgerichtete Informations- und Werbeplatzierung kommt mit bestimmten Erwartungen daher: Es führt dazu, dass wir uns – einer uns zugeschriebenen Rolle entsprechend – angepasst verhalten, zuletzt auch, weil wir um unsere Reputation fürchten. Ein Beispiel: Wenn jemand meint, er werde in einem Diskussionsforum beobachtet und sozial unter Druck gesetzt, hält er sich mit seiner Meinung, die dort nicht opportun scheint, zurück und passt sich eher der Mainstream-Meinung an. Breljak nimmt Bezug auf Scheps Konzeption und ergänzt es um den gegenteiligen Effekt: Indem sich Reizthemen via social media rasch und ungefiltert verbreiten können, entstünden oft auch hitzige Auseinandersetzungen und Stimmungsmache (z.B. „Hate Speech“ oder „Shitstorms“), die über das Digitale (z.B. ins Politische) hinausgehen können und wiederum weitere Debatten und Datenströme hervorrufen.15 Um bei dem genannten Beispiel zu bleiben: Um einer Beobachtung zu entgehen, posten viele anonym und verwenden Beleidigungen. Beide Phänomene, soziale Abkühlung wie Erhitzung, sind nach Breljaks Vorstellung in einer auf Aufmerksamkeits- und Reputationsdynamiken basierenden „Digitalen Gesellschaft“ konstitutiv. Sie lassen sich in der täglichen Praxis der netz- oder plattformbasierten Kommunikation gut beobachten.

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski spricht mit Blick auf die „Digitale Gesellschaft“ gar von einer „Reputationsdiktatur“ und konstatiert: „Es wird in Zukunft nicht genügen, dass nichts gegen dich vorliegt. Du brauchst positive Feedbacks – und die gibt es fortan nur noch im Aktionsradius der jeweiligen Plattform.“16 Der in der Kybernetik zentrale Begriff des Feedback (Rückkopplung; Rückmeldung) wird heute in zweierlei Hinsicht kritisch gesehen: Zum einen, weil er mit gezielten, steuernden und meist unmerklichen Eingriffen von außen in ein System verbunden ist. Die Eckpfeiler und Stellgrößen (Design, Interface, Software, Algorithmen) werden so programmiert, dass ein System selbst in der Lage ist, Abweichungen (Devianzen) zwischen Ist- und Soll-Wert zu erkennen und zu regulieren.17 Zudem werden die Soll-Werte einfach vorgegeben, ohne dass der Nutzer darauf Einfluss hätte. Wie der Programmiercode dabei genau aussieht, bleibt ebenso im Verborgenen. Zum anderen soll über die verschiedenen Rückmeldungskanäle der Kommunikationsfluss aufrechterhalten werden. Dem User wird suggeriert, seine Rückmeldung sei wichtig und verbessere den Service für den Kunden, was zum Teil auch zutreffen mag. Dennoch bedeutet eine solcherart sozialtechnologisch intendierte Rückmeldung in erster Linie: Die Reaktionen auf Inhalte und Botschaften (in Form von Retweets, Following, Sharing oder auch ausführlichem Rezensieren und Bewerten) dienen in erster Linie einer „Optimierung der Kommunikationsströme, an die jeder sich nicht nur anschließen kann, sondern muss, ja geradezu nicht anders kann, als sich anzuschließen und sich in ihre Netze zu verspinnen.“18 Der beobachtende und gleichermaßen beobachtete, auf die Technik vertrauende Nutzer sozialer Medien mit seinen Rückmeldungen als Teil des kybernetischen Regelkreises und deren externer Steuerung – diese Kritik verweist auch auf den Aspekt der Anpassung: Der Nutzer kommt in einer vorgegebenen, von außen strukturierten Umgebung nicht umhin, sich an die designten Vorgaben anzupassen und mit seiner immer neuen Anschlusskommunikation den kybernetischen Kreislauf am Laufen zu halten.

Medien- und sozialethische Bezüge

2006 legte der Theologe und Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn mit einer umfassenden theologischen Zeitdiagnose eine sozialethische Analyse19 vor. Sie ist für die Betrachtung der Logik der sozialen Medien unter drei Aspekten von Bedeutung. Erstens rekurriert Höhn mit seiner „Dialektik der Beschleunigung“ auf Aspekte der Aufmeksamkeitsökonomie in den sozialen Medien. Er erwähnt diese zwar nicht explizit, schreibt seine Studien jedoch zu einer Zeit nieder, in der das „web 2.0“ in voller Blüte war. Es ist beispielsweise die Rede von „Ökonomisierung der Zeit“, „Vergangenheitsverlust“ durch die Möglichkeiten der Echtzeitkommunikation, von „Instant-Effekt“ und einer „Sofort-Kultur“20 des permanenten Reagierens in technischen Anwendungen.

Aus Sicht der christlichen Sozialethik gelte es, so Höhn in einem späteren Text, sowohl Formen der Subjektwerdung, der Meinungsbildung sowie des politischen Extremismus in sozialen Netzwerken im Auge zu behalten. Und dabei auch vor allem die digitalen Profile sowie Techniken der Selbstinszenierung, die oft darin bestünden, „mit einem ästhetischen Rempler auf sich aufmerksam [zu] machen, sich in den Vordergrund [zu] schieben“.21 Er konstatiert zweitens dezidiert kulturkritisch: „Was läuft und weiterläuft, ist der sozioökonomische Apparat der Massenkultur. Die bewegenden Kräfte seien technisch-wirtschaftlicher Art, die kulturell-geistigen nur noch Staffage.“22 Drittens bringt Höhn anthropologische Aspekte ins Spiel und verknüpft sie mit medienethischen Überlegungen.23 Der Mensch ist durch all die Beschleunigungen, das Getriebensein und die Erwartungen der Sofortbelohnung in den Sozialen Medien unruhig und zerrissen. Er mache, so Höhn weiter, das medial vorgegebene Tempo bereitwillig mit, um der Vergänglichkeit zu entkommen. Zudem gelte für den Prozess der Ich- und Identitätssuche: „Manche Reisende in das eigene Innere entdecken wie einst Augustinus ein unruhiges Herz, aber ziehen daraus einen anderen Schluss: «Vielleicht ist mein Herz deshalb so unruhig – weil es nicht ruht in mir!?»“24

„Vertrauen in das Design“

Sich von all den Aufmerksamkeitsmärkten anziehen zu lassen, setzt in der Tat großes Vertrauen in die Technik voraus. Der Soziologe Dirk Baecker konstatiert ein wachsendes „Vertrauen in das Design“, das aber „kein blindes, sondern ein laufend überprüftes Vertrauen“25 ist. Doch es wird meist vonseiten der Netzwerkbetreiber überprüft, dafür sorgen die oben genannten Mechanismen des Feedbacks, denn sie erhalten nicht nur die Kommunikation, sondern auch das Vertrauen der User in die Netzwerke aufrecht, ohne dabei jedoch zu einem reflexiven Umgang mit ihnen anzuregen. In der Tat ist Skepsis bisweilen vorhanden, doch sind die Zweifel darüber, ob mein Interaktionspartner nicht etwa eine Maschine (Bot) ist oder ob die vielen Social-Media-Follower echt sind oder gekauft wurden, letztlich schwer ausräumen.

Durch all das Vertrauen ist aus der „Like-Economy“ längst eine umfassende Aufmerksamkeitsökonomie geworden, die nicht nur für das Geschäftsmodell von Facebook, sondern auch für die kommerziellen Strategien und das Design anderer Social-Network-Plattformen charakteristisch geworden ist. Höhn stellt den Zusammenhang von Dasein und Design deutlich heraus und weist dabei auf den mit der Reputationsansammlung einhergehenden Konkurrenz- und Optimierungscharakter hin: „Lassen sich keine Steigerungen mehr erzielen, muss nicht nur ein neues Profilbild her, sondern am besten ein neues Profil. Im Extremfall muss ich mich neu erfinden.“26 Das Design der Netzwerke macht es ja möglich. Zugleich verhindert dies jedoch zumeist ein Überprüfen des Vertrauens seitens der User: nämlich ein distanziertes und distanzierendes, kritisches Positionieren gegenüber den Mechanismen der sozialen Netzwerke. Ihre Produktion von Aufmerksamkeit ist stattdessen auf das affektive Erleben des Augenblicks, auf Stimmungen sowie auf Reputationsmanagement gerichtet und geht oft einher mit einem folgenreichen „Verlust reflexiver Welt- und Selbstwahrnehmung“27. Gerade diese Fähigkeit, sich all der Fremdbestimmung und festgelegten wie einflussreichen Algorithmen- und Interface-Strukturen gewahr zu werden, wäre in der „Disruption“ der Digitalisierung nicht nur aus Sicht der Medienerziehung immens wichtig.

Die Empfehlungs-, Bewertungs- und Feedbackkulturen rund um die Aufmerksamkeitsdynamik der sozialen Netzwerke zu durchschauen, hieße letztlich zu verstehen, dass ein Großteil des aufgebauten Vertrauens vorwiegend algorithmisch zustande kam und kommt – und dennoch äußerst wirkungsmächtig ist. Und es hieße auch, sich von der Illusion einer Selbstbestimmung im Netz zu verabschieden, denn das Subjekt, „dessen Stimme gerade nicht zählt, dessen Kontur verschwindet“28, scheint seinen freien Willen an einen binären Code abzugeben. Mit eklatanten Folgen für die (religiöse) Sozialisation.

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