Erzieherinnen zwischen Anspruch und WirklichkeitEin Beruf im Wandel

Die gesellschaftlichen Anforderungen an pädagogische Fachkräfte verändern sich – deren berufliche Rahmenbedingungen eher nicht. Wie bewältigen Krippenfachkräfte den Spagat zwischen steigendem Anspruch, mangelnder Anerkennung und eigenen pädagogischen Standpunkten?

Ein Beruf im Wandel
© Harald Neumann

Die Motive für den Ausbau der Krippenbetreuung sind vielfältig: Es geht um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Qualität der Begleitung kindlicher Bildungsprozesse, um den Ausgleich von Bildungsbenachteiligung und auch um einen gesellschaftlichen Nutzen der frühen Kindertagesbetreuung (Viernickel 2012). Vor diesem komplexen Hintergrund steigen auch die Anforderungen, die Politiker und Experten an das professionelle Handeln pädagogischer Fachkräfte stellen. In der Fachwissenschaft zählen biografische Kompetenz und Selbstreflexivität, eine ressourcenorientierte und forschende Haltung sowie die Fähigkeit zu einem feinfühligen Umgang mit Kindern zu den Kernkompetenzen von Krippenfachkräften (Nentwig-Gesemann et al. 2011). Doch zwischen dem, was Erzieherinnen leisten sollen (und meist auch wollen), und dem, was sie leisten können, herrscht aus Sicht vieler Fachkräfte ein eklatantes Missverhältnis. Die Gründe hierfür werden im Folgenden betrachtet.
Die Ansprüche an ihre Arbeit steigen, damit aber nicht automatisch die gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung, so das Gefühl vieler pädagogischer Fachkräfte. Befragungen im Rahmen der Studie „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung“ zeigen, dass sich pädagogische Fachkräfte in Deutschland weder angemessen bezahlt, noch gesellschaftlich in ihrem Expertentum wertgeschätzt und in ihrer professionellen Handlungsautonomie und Eigenverantwortung unterstützt fühlen (Viernickel et al. 2013). Gerade Fachkräfte in Krippen kämpfen um Anerkennung (Berlips 2015), sehen sie sich hierzulande doch immer noch mit der tradierten gesellschaftlichen Vorstellung konfrontiert, dass Erziehung in der Krippe im Vergleich zur familiären Erziehung minderwertig sei (Viernickel 2016). Oftmals sprechen nicht einmal Politiker Krippenerzieherinnen den Status von Fachkräften zu (Röhrig 2015). Die professionelle Umsetzung anspruchsvoller, externer Forderungen in der frühpädagogischen Praxis wird oftmals schlicht nicht erkannt.

Auftrag trifft auf Realität

Gleichzeitig ist eine systematische Entwicklung institutioneller Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Deutschland bislang ausgeblieben. Der hohe Professionalisierungsbedarf wird mit einem zwar umfangreichen, aber wenig transparenten Fort- und Weiterbildungsangebot beantwortet. Es fehlen nicht nur länder- und trägerübergreifende einheitliche Qualitätsstandards zum inhaltlichen, didaktischen und strukturellen Aufbau von Weiterbildungen, sondern auch wissenschaftliche Studien, die das Handlungsfeld der Krippenerziehung systematisch aufarbeiten.

Bis zur Verausgabung

Vor allem aber wird die Arbeit der Erzieherinnen durch ungenügende Rahmenbedingungen in der Praxis erschwert. In den Augen der Fachkräfte fehlt es an Zeit für die pädagogische Arbeit, die Vor- und Nachbereitung, die fachliche Auseinandersetzung im Team sowie die Zusammenarbeit mit Eltern. Es mangelt an der Ausstattung in den Einrichtungen und es herrscht gleichzeitig eine hohe Personalfluktuation in den Teams. Viele der in der „Schlüssel“-Studie befragten Fachkräfte haben das Gefühl, oftmals im Modus des Krisenmanagements zu handeln und dabei die Grenzen der eigenen zeitlichen, psychischen und körperlichen Belastbarkeit zu überschreiten. Aus einem hohen Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Kindern und deren Wohlbefinden heraus neigen die Fachkräfte dazu, sich zu verausgaben, so eines der Untersuchungsergebnisse (Viernickel et al. 2013).

Das Kind im Mittelpunkt

Sehr deutlich wird an dieser Stelle, dass Krippenfachkräfte trotz der unzureichenden Rahmenbedingungen alles dafür tun, um dem pädagogischen Auftrag, den sie für sich proklamieren, gerecht zu werden. Im Zentrum dieses Auftrags steht nicht etwa der von außen geforderte volkswirtschaftliche Nutzen der frühen Kindertagesbetreuung, sondern vielmehr das Wohl der sehr jungen und verletzlichen Kinder (Viernickel 2012) und damit eine an deren Bedürfnissen und Interessen orientierte Ausrichtung des pädagogischen Handelns (Berlips 2015). Dabei geht es den Fachkräften vor allem um die aktive Herstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungen durch Kommunikation (Remsperger-Kehm 2016) – eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe: Krippenfachkräfte berichten von der alltäglichen Herausforderung, sich mit einem hohen Maß an Geduld auf das Tempo und die Signale der Kinder einzulassen (Jooß-Weinbach 2014). Zur Begleitung der Bildungsprozesse von Kindern unter drei Jahren sei es notwendig, vor allem auf die nonverbale Kommunikation zu achten, Feingefühl zu zeigen, sich in die Mädchen und Jungen hineinzuversetzen und eine besondere Nähe zu ihnen herzustellen. Die von Nadine Berlips im Rahmen ihrer Dissertation (2015) befragten niedersächsischen Krippenerzieherinnen konstatieren deutlich, dass sich die Praxis des Kindergartens nicht einfach auf die Krippen übertragen lässt. Ihrer Meinung nach stehen der Prozesscharakter aller Tätigkeiten und Aktivitäten und damit das Erleben von Partizipation, Selbstbestimmtheit, Selbstständigkeit, Zeiten und Ritualen im Vordergrund. Die Krippenfachkräfte positionieren sich damit explizit gegen „eine Orientierung an bestmöglich anseh- und messbaren Produkten“ wie Bastelarbeiten o. Ä. (Berlips 2015, S. 223).

Im Austausch positionieren

Was erachten Erzieherinnen selbst als zentral, um frühkindliche Entwicklung mit hoher Qualität begleiten zu können? Neben professionellem Wissen und der Fähigkeit, Alltagsprozesse spontan zu planen, nennen die von Berlips (2015) befragten Fachkräfte vor allem Reflexions- und Kommunikationsprozesse mit Kindern, Kolleginnen und Eltern. Gerade in der Zusammenarbeit mit Müttern und Vätern verspüren einige Fachkräfte den Druck, das eigene pädagogische Handeln rechtfertigen zu müssen, da manche Eltern die Krippenarbeit mitbestimmen wollen. Die Professionalität der Krippenfachkräfte zeigt sich in den Augen der Befragten deshalb auch darin, kritikfähig zu sein, Äußerungen der Eltern aufzunehmen und abzuwägen, grundsätzlich Veränderungsbereitschaft zu zeigen und zwischen verschiedenen Ansprüchen zu vermitteln. Ebenso wichtig finden sie es nicht zuletzt, sich zu positionieren, das eigene Verständnis einer angemessenen Bildung und Erziehung zu erklären und damit das eigene Handeln transparent zu machen.

Kritische Prüfung

Die dargestellten Forschungsergebnisse zeigen eindrücklich, dass Krippenfachkräfte externe Forderungen an ihre Berufsgruppe nicht einfach fraglos annehmen, sondern sich zu diesen in Beziehung setzen. Sie wollen nicht nur „,Umsetzer‘ von Vorgaben und Methoden“ sein (Nentwig-Gesemann 2014). Auch eine Studie im Rahmen des Projekts EDUCARE kam zu dem Ergebnis, dass pädagogische Fachkräfte die Vorstellungen von Eltern und Politikern nicht uneingeschränkt teilen. Sie fühlen sich weder der Wirtschaft verpflichtet, noch wollen sie in erster Linie als Dienstleister für Mütter und Väter fungieren. Die Untersuchung zeigt ein differenziertes Bild pädagogischer Fachkräfte, das sie – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – als kompetente Kräfte ausweist: Selbstbewusst gehen die interviewten Erzieherinnen davon aus, dass sie professionell mit Eltern zusammenarbeiten und sie die Kompetenz haben, kindliche Bildungschancen zu beeinflussen bzw. zu verbessern (Betz 2015).

Wir sind Expertinnen!

Dennoch: Um in der Öffentlichkeit künftig ein breiteres Verständnis für ihre Professionalität schaffen zu können, sollten sich Krippenfachkräfte ihrer eigenen Professionalität selbst noch stärker bewusst werden. Es braucht ein deutlicheres Bewusstsein darüber, dass sie es mit der Gestaltung feinfühliger Interaktionen ermöglichen, Beziehungen mit jungen Kindern einzugehen, die deren weitere Entwicklung maßgeblich prägen. Neben den Eltern sind gerade sie Experten für die Entwicklung der Kinder – und dies auf einer wissensbasierten, reflektierenden und damit professionellen Ebene. Eltern, die sich in einem komplexen Spannungsfeld von Familie und Beruf, schlechtem Gewissen, Konkurrenzgefühlen und der Unsicherheit hinsichtlich der Betreuungsqualität bewegen, sind auf die fachlich begründete Rückmeldung der Erzieherinnen angewiesen, die ihnen z. B. signalisieren, welches individuelle Maß an außerfamiliärer Betreuung aus pädagogischer Sicht vertretbar ist.

Bedeutsamer Beitrag

Gleichzeitig sollten Krippenfachkräfte sehr deutlich und auch öffentlich artikulieren, dass strukturelle Rahmenbedingungen es verhindern, die eigene professionelle Arbeit in der angestrebten Qualität umzusetzen. Unzureichende Rahmenbedingungen und damit verbunden eine unzureichende Qualität in frühpädagogischen Einrichtungen sind aus professioneller Perspektive nicht zu vertreten, weder für die dort tätigen Fachkräfte, noch für die jungen Kinder, deren Entwicklung es mit höchstem Einsatz zu begleiten gilt.
Die Gesellschaft im Ganzen, im Speziellen aber Eltern, Träger, Politiker und Menschen in angrenzenden Berufen müssen wiederum erkennen, dass eine beziehungsvolle Pflege der Jüngsten, eine bindungsorientierte Begleitung ihrer Entwicklung sowie die Gestaltung sensitiv-responsiver Interaktionen nicht nur einen hohen Eigenwert, sondern nicht zuletzt einen gesellschaftlichen Stellenwert haben, auch wenn die „Ergebnisse“ dieser Arbeit, zumindest für Laien, nicht unmittelbar sicht- und messbar sind. Gerade hier gilt es für Krippenfachkräfte, ihr Expertentum nach außen zu tragen, sich zu positionieren und für die eigenen pädagogischen Sichtweisen einzustehen. Für die Entwicklung eines gemeinsamen, professionellen Selbstverständnisses ist das ein entscheidender Schritt – vor allem aber auch für die qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung junger Kinder.

Krippenerzieherinnen – von Forschung und Lehre vergessen?

In den Lehrplänen von Fachschulen werden Kinder unter drei Jahren selten ausdrücklich berücksichtigt und auch in den meisten Hochschulstudiengängen fehlt die systematische Verankerung von Theorien und Konzepten für die pädagogische Arbeit mit Nullbis Dreijährigen (Berlips 2015). Zudem lassen sich nur in einem Viertel der deutschen Bildungspläne wissenschaftlich fundierte und konkrete Anregungen für die Bildungsarbeit mit Kindern unter drei Jahren finden (Röhrig 2015). Den pädagogischen Fachkräften fehlt es somit an grundlegenden Konzeptionen, an denen sie ihr pädagogisches Handeln ausrichten können (Jooß-Weinbach 2012). Erzieherinnen, die mit Kleinkindern arbeiten, greifen daher oft auf ihr pädagogisches Wissen aus der Arbeit mit drei- bis sechsjährigen Kindern zurück, vergleichen es mit dem Handlungsfeld der Krippe und ziehen daraus Schlüsse für ihr Handeln (Berlips 2015). Bei dieser Strategie besteht jedoch die Gefahr, dass Erfahrungen mit älteren Kindern wie auch aus privaten Lebenszusammenhängen unreflektiert auf das neue Handlungsfeld übertragen werden. Es braucht daher dringend eine stärkere Etablierung krippenspezifischen Wissens und Reflexionswissens in Ausbildung und Studium sowie eine Ausweitung der Forschungsaktivitäten im Feld der Krippenpädagogik.

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