Wie Kinder die eigenen Grenzen auslotenLasst sie einfach machen!

Wer sein Kind keinem Risiko aussetzen will, tut ihm keinen Gefallen. Kinder müssen eigene Erfahrungen machen, um sich entwickeln zu können

Lasst sie einfach machen
„Dein Kind sei so frei es immer kann. Lass es gehen und hören, finden und fallen, aufstehen und irren." © plainpicture

Früher wurden die Kleinen mit einem „Raus mit Euch“ vor die Tür geschickt, heute sitzt Mama mit dem Sohn in der Buddelkiste und Papa beobachtet am Esstisch, ob seine Töchter beim Puzzeln auch alles richtig machen. Wie ein Hubschrauber kreisen Erzeuger um ihren Nachwuchs, bereit, sich jeden Moment einzuschalten, nicht nur wenn Gefahr droht. Helikopter-Eltern lautet die Bezeichnung für dieses Phänomen.

Es gibt mehrere Theorien, warum Eltern heute besorgter, ja ängstlicher sind als früher. Ein Grund könnte der seit Jahren andauernde Trend sein, spät Kinder zu bekommen. Aufgrund ihrer Lebenserfahrung sind ältere Menschen vorsichtiger als jüngere. Hinzu kommt, dass wir heutzutage mögliche Gefahren immer besser messen und dadurch auch verhindern können. Das führt dazu, dass wir Handlungen und Unternehmungen zunehmend aus der Risikoperspektive betrachten. Nur: Wer immer nur die Bedrohung sieht, verliert die Chancen aus den Augen. Wie soll ein Kind Risiken einschätzen lernen, wenn es keine eingehen darf? „Kinder müssen eigene Erfahrungen machen können“, sagt Hanna Zielke*, Leiterin einer Kindertagesstätte in Berlin-Friedrichshain. Nur dann können sie wichtige Fähigkeiten selbst entwickeln: Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen, den Umgang mit Konflikten und Ängsten. Alles Kompetenzen, die auch im Erwachsenenleben wichtig sind. Hanna Zielke erzählt Begebenheiten, die skurril anmuten, aber alltäglich sind: von Eltern, die Heftklammern aus Pixi-Büchern entfernen, damit die Kinder sich nicht piksen. Die ihre Tochter täglich die Treppe hoch- und heruntertragen, aus Angst, sie könnte stolpern. Prompt fiel die Kleine hin, als sie das erste Mal allein die Stufen nahm. Kein Wunder, meint Zielke, „sie hatte nie Gelegenheit, sich die entsprechenden Fertigkeiten anzueignen.“ Wer ständig versucht, das Risiko für seinen Nachwuchs zu minimieren, gefährdet ihn eher. Verkehrsforscher haben nachgewiesen, dass drei Viertel aller Fahrradunfälle bei Kindern auf motorische und sensorische Defizite zurückgehen. Gerade daher ist es wichtig, dass Kinder sich viel bewegen und lernen, ihren Körper zu beherrschen.

Ausloten der Grenzen

Natürlich ist es nicht einfach, die richtige Balance zwischen Fürsorge und Loslassen zu finden. Eltern kennen die Schrecksekunde, wenn sie entdecken, dass ihr Sohn plötzlich kopfüber an der Kletterstange hängt. Vielleicht beruhigt es sie zu wissen, dass Kinder ihre Grenzen Schritt für Schritt ausloten. Dabei machen ihnen die Spiele am meisten Spaß, die gerade unterhalb ihrer Angstschwelle liegen. Sie nehmen aber erst dann die nächste Höhe in Angriff, wenn das niedrigere Mäuerchen bezwungen ist. „Dieses eskalierende Spielverhalten ist gleichzeitig ihr größter Schutz“, sagt der Kinderarzt und Buchautor Herbert Renz-Polster. Viele Eltern richteten ihre Erziehung nach den in der Arbeitswelt angeforderten Kompetenzen aus, aus Angst, das Kind könne später vielleicht nicht mithalten. „Aber um im Leben – und auch am späteren Arbeitsplatz – bestehen zu können, müssen Kinder vor allem ihre Kreativität ausbilden.“

Kinder einfach spielen lassen

Selbst bei der kindlichsten aller Tätigkeiten beobachten Experten eine Tendenz zur mehr Reglement. „Viele Eltern glauben, dass Spielen nur dann sinnvoll und pädagogisch ist, wenn man Ergebnisse sieht“, sagt Pädagogin Zielke. Wenn die Erzieherin ihre Schützlinge anleitet, eine Vorlage auszumalen, kann zwar jedes Kind zu Hause etwas vorzeigen. Mit schöpferischen Fähigkeiten hat das wenig zu tun. In Zielkes Einrichtung matschen die Kleinen deshalb mit Lehm herum, kneten und verzieren ihn so, wie sie wollen. „Dabei lernen sie ganz nebenbei auch etwas über naturwissenschaftliche Phänomene“, sagt Zielke: Wie verändert sich ein Material, wenn es wärmer wird? Wie tief muss das Loch sein, damit der Ast stecken bleibt?

Wer seinen Kindern Freiräume lässt, gibt ihnen die Chance, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Das gilt übrigens auch für Streit unter Kindern. Manche Eltern verspüren den Impuls, sofort einzuschreiten, wenn die Stimmung kippt. Aber wer sich jetzt zurückhält, ermöglicht Kindern, von sich aus eine Lösung zu finden. Das verlangt den Erwachsenen zwar Geduld ab, schult aber die Konfliktkompetenz der Kleinen. „Wir sollten unseren Kindern mehr vertrauen“, appelliert Miriam Cote von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung. „Sie schaffen es ganz gut, Dinge selbstständig zu meistern – und sie wachsen mit ihren Aufgaben“.

kizz sprach mit Miriam Cote, Bildungsreferentin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. Der Verein setzt sich dafür ein, die Lebenswelt von Kindern und Erwachsenen bewegungsfreundlicher zu gestalten

„Eine Beule ist kein Drama“

Was raten Sie Eltern, die das Gefühl haben, sie müssten ständig auf Ihr Kind aufpassen?

Dass Eltern Angst um ihre Kinder haben, ist wichtig und ganz natürlich. Aber das sollte nicht dazu führen, dass man den Nachwuchs in Watte packt und seine Entwicklung ausbremst. Vielleicht hilft es, sich bewusst machen, dass kleine Blessuren, Beulen oder Schrammen kein Drama sind. Wer sich viel bewegt und neugierig ist, muss eben manchmal Hindernisse überwinden.

Wenn Kinder ihre eigenen Grenzen ausloten, sieht das oft gefährlich aus.

Eltern müssen zwischen Gefahr und kalkulierbarem Risiko unterscheiden. Eine Situation, die ein Kind noch nicht einschätzen kann, ist gefährlich, etwa ein defektes Klettergerüst. Hier müssen Eltern ihre Kinder begleiten und beschützen.

Wie bringt man mehr Bewegung in einen durchgeplanten Alltag?

Man muss gar nichts Spektakuläres planen. Einfach möglichst oft rausgehen, bei gutem und bei schlechtem Wetter. Die Natur bietet genug Spielmöglichkeiten. Kinder sind erkundungsfreudig, sie balancieren auf der Bordsteinkante, springen in Pfützen, hangeln an Ästen entlang. Man muss sie einfach machen lassen.

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