Kindern mit Fluchterfahrung Halt, Sicherheit und Orientierung bietenInterview mit Dr. Peter Neher

Das Leitungsheft: Herr Dr. Neher, wie sind derzeit die Zugangschancen geflüchteter Kinder zu Kindertageseinrichtungen? Wo liegen die Defizite?

Dr. Peter Neher: Die Ausgangslage scheint eindeutig: Laut UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht auf Bildung. Kindertageseinrichtungen sind die erste Station unseres Bildungssystems und legen die Basis für eine gute Bildung der Kinder. Geflüchtete Kinder haben Anspruch auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und damit ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung. Solange die Eltern nicht selbst berufstätig sind und Geld verdienen, bekommen diese Kinder zumindest eine Halbtagesbetreuung. Im Moment besuchen jedoch nur vergleichsweise wenige betroffene Kinder eine Kindertageseinrichtung. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nicht selten fehlt es an Plätzen, die die Kinder in Anspruch nehmen könnten. Vor allem für die Betreuung von Kindern zwischen 3 und 6 Jahren sind nicht genug Plätze vorhanden. Einige Kitas arbeiten daher bereits mit Überbelegung. Hinzu kommt, dass insgesamt Personal fehlt, so auch Mitarbeiter/innen, die in besonderer Weise für die Bedürfnisse dieser Kinder, die zum Teil traumatisiert sind, geschult sind. Gerade Kindertageseinrichtungen benötigen Unterstützung, wenn sie sich auf die Situation der Kinder einstellen sollen. Teilweise erhalten die Mitarbeiter/innen jedoch weder Informationen zu den betroffenen Kindern, die in der Einrichtung aufgenommen werden sollen, noch darüber, was ein Asylverfahren bedeutet und wie es abläuft. Fehlende Sprachkenntnisse der Eltern erschweren zudem die für Kitas wichtige Zusammenarbeit mit diesen. Hierfür wären Dolmetscher notwendig, die aber oft nicht zur Verfügung stehen. Auch die Übernahme der Kosten ist häufig ungeklärt. Diese unbefriedigenden Bedingungen können dazu führen, dass Kindertageseinrichtungen die Aufnahme von Flüchtlingskindern scheuen und Vorbehalte habe. Viele geflüchtete Familien wissen nicht, dass ihr Kind einen Anspruch auf einen Kita-Platz hat, weil es keine entsprechende Information dazu gibt. Hinzu kommt mitunter, dass Flüchtlingen das deutsche System der Kindertagesbetreuung beziehungsweise außerfamiliäre institutionelle Kindertagesbetreuung insgesamt nicht vertraut ist und sie gegenüber diesen Angeboten eine gewisse Skepsis haben. Aber auch Traumatisierungen und Verlustängste sowohl der Eltern als auch der Kinder können den Besuch des Kindes in einer Kindertageseinrichtung behindern. Häufig leiden die Kinder auch unter der Verunsicherung, die sie bei ihren Eltern angesichts der unklaren Lebenssituation erleben. Interview Prälat Dr. Peter Neher ist seit 2003 Präsident des Deutschen Caritasverbandes Oft ist die Kindertageseinrichtung weit von der Flüchtlingsunterkunft oder der Unterbringung der Familie entfernt. Da die Familien keine zusätzliche Unterstützung für Fahrkarten oder Kindergartenausstattung wie Rucksäcke, Brotdosen oder Matschhosen bekommen, stellt ein Kindergartenbesuch auch eine finanzielle und organisatorische Herausforderung dar.

Welche Veränderungen fordern Sie?

Ganz wichtig wäre es, die geflüchteten Familien, aber auch die Sozialarbeiter/ innen, die sie betreuen, und die Kita-Leitungen über die Möglichkeiten der Kinderbetreuung und über die rechtlichen Hilfemöglichkeiten, wie sie in den Sozialgesetzbüchern des SGB VII und SGB XII formuliert sind, zu informieren. Sehr wünschenswert wäre es, wo immer es möglich ist, in den Erstaufnahmestellen oder Flüchtlingsunterkünften kindgerecht ausgestattete und eingerichtete Räumlichkeiten zu haben, in denen Kinder spielen können. Die beste Möglichkeit wäre natürlich, wenn die Familien ein so normales Leben wie möglich führen könnten, in einer eigenen Wohnung und mit entsprechender Betreuung. So könnten die Familie und damit auch die Kinder zur Ruhe kommen. Geflüchtete Kinder schnell zu integrieren, ist auf jeden Fall Vorrang zu geben vor speziellen Einrichtungen für sie. Der Besuch einer Kindertageseinrichtung hilft dabei sehr. Hier kommen die Kinder mit anderen Kindern in Kontakt, lernen die deutsche Sprache und werden mit Kultur und Bräuchen vertraut. Ganz wichtig scheint mir auch, dass sie hier einfach Kind sein und spielen können so wie ihre deutschen Altersgefährt- (inn)en auch. Die Integration der Kinder ist ein wichtiger Schritt zur Integration der ganzen Familie. Zudem bietet eine Kita einen geschützten Raum, in dem die Kinder die Routine des Alltags wieder neu erfahren können. Sie finden Halt, Sicherheit und Orientierung und gewinnen neues Zutrauen. Zusätzlich unterstützt werden könnten diese Prozesse, wenn Kitas mit anderen Angeboten der Flüchtlingshilfe vernetzt wären. Dann bekämen die Einrichtungen nicht nur wichtige Informationen, sondern würden auch die anderen Ansprechpartner kennenlernen. Auch das Asylverfahren selbst hat Einfluss auf die Situation der Kinder. Die lange Dauer belastet nicht nur die Erwachsenen, sondern in besonderem Maße die Kinder. Die Angst vor Abschiebung ist für viele Flüchtlingsfamilien ein ständiger Begleiter im Alltag, der eine Art Dauerstress auslöst. So fällt es betroffenen Familien schwer, ein normales Leben bei uns zu führen. Gerade mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention sollte die Dauer der Asylverfahren deutlich verkürzt werden. Dies bedeutet aber auch, dass die Kinder in Asylverfahren angehört werden sollten und widersprüchliche Aussagen von Kindern und Eltern nicht automatisch zu einem negativen Bescheid führen dürfen. Hierfür werden Mitarbeiter/innen gebraucht, die im Umgang mit Kindern ausgebildet und erfahren sind.

Was muss konkret passieren?

Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten bunter geworden, die zugewanderten Menschen haben unser Land bereichert. Die Menschen, die aktuell bei uns Zuflucht suchen, werden unsere Gesellschaft weiter verändern. Damit umzugehen, wird sicher keine einfache Aufgabe. Wir erleben in diesen Tagen eine beeindruckende Hilfsbereitschaft und ein außerordentliches Engagement vieler Bürger/innen. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass die Integration der Frauen und Männer, Kinder und Jugendlichen in unsere Gesellschaft auch entsprechender Voraussetzungen bedarf. Mit Blick auf den Alltag in den Kindertageseinrichtungen heißt das, die pädagogischen Fachkräfte müssen für die spezifischen Bedürfnisse geflüchteter Kinder sensibilisiert werden. Sie müssen Grundkenntnisse über Traumata und zum Umgang mit fremden Kulturen und Religionen, d.h. interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen, erwerben. Dabei geht es nicht um eine Sonderbehandlung der betroffenen Kinder. Was sie brauchen, ist ein sensibler Umgang und viel Einfühlungsvermögen, vor allem in der Anfangszeit. Auch pädagogische Fachkräfte brauchen Zeit und die Möglichkeit, sich entsprechend fort- und weiterzubilden. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, was es für die anderen Kinder bedeutet, dass ihre neuen Spielkamerad(inn)en auch schnell wieder weg sein können. Dies erfordert auch eine „Kultur des Abschieds“. Eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema Abschied kann den verbleibenden Kindern verstehen helfen, dass die Kinder aus Flüchtlingsfamilien keine Wahl hatten, sondern gehen mussten, weil sie mit ihrer Familie jetzt an einem anderen Ort wohnen können. Das kann es den Kindern, aber auch ihren Eltern erleichtern, sich immer neu auf betroffene Kinder einzulassen. Denn es ist die Begegnung mit anderen, die das Leben reicher macht und so auch dem Wohl der Kinder dient.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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