Herausfordernde Situationen verstehenKein Kind passt in einen Rahmen

Fordern Kinder mit ihrem Verhalten heraus oder ist es die Fachkraft, die sich von dem Verhalten der Kinder herausgefordert fühlt? Diese Differenzierung macht deutlich: Es ist eine Frage des Blickwinkels.

Kein Kind passt in einen Rahmen
© Jasmin Merdan/GettyImages

In den letzten Jahren haben viele Begrifflichkeiten Einzug in die pädagogische Praxis gehalten. Es wird von „grenzwertigem Verhalten“, „Verhaltensauffälligkeiten“, „herausforderndem Verhalten“, „Verhaltensoriginalität“, „Verhaltenskreativität“, „Problemverhalten“, „Schwierigkeiten“ oder auch von „Störungen“ gesprochen. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass – egal, welcher Begriff benutzt wird – das Verhalten eines Kindes immer dann als auffällig beziehungsweise „nicht normal“ bezeichnet wird, wenn es außerhalb des Erwartungsrahmens der pädagogischen Fachkräfte liegt. Immer dann, wenn ein Kind zu laut, zu wild, zu zurückhaltend, zu frech ist oder sich nicht alters-„typisch“ oder situationsangemessen verhält, fällt es aus dem Rahmen. Doch wer setzt diesen Rahmen und von welchen Kriterien wird dieser Rahmen schließlich mitbestimmt? Empfinden zwei Fachkräfte häufig das Verhalten ein und desselben Kindes nicht auch ganz unterschiedlich? Die eine beschwert sich über das anstrengende, laute und impulsgesteuerte Kind. Der andere erfreut sich an dem lebhaften, neugierigen Kind. Relativiert sich das Verhalten eines Kindes, das sich gerne viel bewegt, möglicherweise je nachdem, in welcher Situation es sich gerade befindet? So ist das Ausleben der Bewegungsfreude im engen Gruppenraum vielleicht weniger möglich und das Kind stößt hier schneller an Grenzen als draußen oder im Bewegungsraum, wo es seinen Aktivitäten freier nachkommen kann. 

Herausfordernd oder herausgefordert

Eine neue Definition könnte also sein: Kinder mit Verhaltensweisen, die die Fachkräfte in bestimmten Situationen herausfordern. Denn damit wird der Fokus nicht mehr auf das Kind und sein vermeintliches Fehlverhalten gelegt, sondern es wird deutlich, dass sein Verhalten im Kontext einer bestimmten Situation und mit Blick auf die Beziehung zu einer anderen Person, die sich durch das Verhalten herausgefordert fühlt, näher zu betrachten ist. Das beinhaltet auch, dass die pädagogische Fachkraft die Aufgabe hat, genauer hinzuschauen, was und womit das Kind sie gerade besonders herausfordert. Es gilt zu ergründen, was das Kind ihr mit diesem Verhalten zeigen möchte und was sie als Fachkraft dazu beitragen kann, dass das Kind die Möglichkeit bekommt, sein Verhalten zu verändern. Jedes Verhalten, auch das, durch das sich eine Fachkraft herausgefordert fühlt, hat aus Sicht des Kindes immer einen guten Grund. 

Ein Kind möchte nicht verletzen

Mit seinem Verhalten teilt es etwas über sich, seine Bedürfnisse und seine Geschichte mit. Für die pädagogische Fachkraft besteht die Aufgabe darin, die positive Absicht dahinter zu erkennen und zu verstehen. Die Kernfrage besteht demzufolge aus dem „Wozu?“ und nicht dem „Warum?“. Was möchte das Kind durch sein Verhalten mitteilen? Was passt gerade für das Kind im Außen nicht, wodurch seine Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden? Mit diesem Ansatz ist das Verhalten eines Kindes immer als ein Verhalten für sich und seine Bedürfnisse zu verstehen und nicht als Verhalten gegen jemand anderes. Ein Kind, das ein anderes Kind schubst, möchte sicher nicht verletzen. Es möchte lediglich zum Ausdruck bringen, dass ihm das andere Kind gerade zu nahe gekommen ist, und mit dem Schubsen sein Bedürfnis nach Abstand verteidigen. Es bedarf aufmerksamer und einfühlsamer Fachkräfte, die bereit sind, diese guten Gründe des Kindes zu entdecken, um so das Verhalten des Kindes besser einordnen und darauf eingehen zu können. Mit diesem verstehenden Zugang können Beschämung und Bloßstellung des Kindes vermieden werden.

Die Schätze der Kinder entdecken

Die verborgenen Schätze im Verhalten der Kinder zu finden, anstatt nach den Fehlern zu suchen, dafür braucht es seitens der Fachkraft Zeit, Geduld, Zuversicht, Vertrauen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Zeit bedeutet, sich nicht ständig von der Hektik des Alltags mitreißen zu lassen und das Verhalten des Kindes und die eigenen Reaktionen näher zu betrachten und zu analysieren.
Geduld mit sich selbst und mit dem Kind ist unabdingbar, denn Entwicklung verläuft nie linear. Frei nach dem Motto „Drei Schritte vor und zwei Schritte zurück“ wird sich das Verhalten des Kindes mal mehr und mal weniger schnell verändern. Auch als Fachkraft ist es nicht immer einfach, verändertes Denken und Handeln in der Praxis anzuwenden. Wichtig ist dann, nicht aufzugeben und einfach weiterzumachen.
Zuversicht schließt die Auffassung ein, dass sich auf lange Sicht auf jeden Fall etwas verändern wird. Nicht jeder Weg und jede Lösung zeigen sofort Wirkung, manchmal kann es auch vorübergehend schlimmer und anstrengender werden, bevor es besser wird.
Vertrauen in das Kind, das uns mit seinem Verhalten auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen will, ist die Basis. Das Kind tritt für sich ein und ist nicht gegen uns. Es gibt keine Notwendigkeit, sein Verhalten persönlich zu nehmen.
Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für die eigenen Gefühle und Reaktionen, die das Verhalten eines Kindes in uns auslöst, gehört ebenfalls dazu. Nicht das Kind ist dafür verantwortlich, sondern ganz allein wir selbst als Fachkräfte. Im Kontakt mit den Kindern werden wir uns immer auch selbst begegnen. Als Fachkraft bringe ich ebenso eine Menge an Ressourcen mit, die mit meiner eigenen Biografie verknüpft sind.

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