Janusz Korczak und Risky PlayDas Recht des Kindes auf Risiko

Kinder lernen, indem sie Neues ausprobieren. Sie sind dabei nicht jedes Mal erfolgreich, und ebendies zeichnet das Lernen aus: gehen – fallen – aufstehen. Kann man sich also gut entwickeln, ohne etwas zu riskieren?

Das Recht des Kindes auf Risiko
© Mikael Vaisanen - GettyImages

Kinder lernen Neues, indem sie Widerständen trotzen, das Geheimnisvolle, gerade Verbotene austesten möchten und dabei auch einmal einen Misserfolg erleiden. Jedes Lernen, jedes Wachsen, jede Entwicklung von Kindern besteht darin, dass sie an Grenzen gehen und diese auch überschreiten, um schließlich reicher, belehrter, klüger aus diesen Erfahrungen beziehungsweise Widerfahrnissen und Situationen hervorzugehen. Wenn Kinder die ersten Schritte machen oder anfangen zu sprechen, sind dem unzählige Versuche, Übungen und spielerische Herangehensweisen vorausgegangen, die nicht erfolgreich waren.

Risky Play

Das risikobehaftete Spiel gehört zu jeder gesunden Entwicklung und Lernerfahrung eines Kindes dazu, das bedeutet auch einmal Regeln zu überschreiten und Grenzen auszutesten. Denn was wäre die Alternative? Etwa nur zu gehorchen und niemals etwas selbstbestimmt auszuprobieren? Dieses Risikoverhalten soll hier als ein Herausfinden von Stärken, ein Kennenlernen der eigenen Persönlichkeit und ein Erfahren von Selbstwirksamkeit verstanden werden. 

Das Recht des Kindes auf Spiel

Nach der UN-Kinderrechtskonvention gibt es Schutz-, Bildungs- und Förderrechte sowie Partizipationsrechte für Kinder. Diese ermöglichen ihnen Beteiligung und Teilhabe, beispielsweise durch Berücksichtigung ihres Willens (Artikel 12). Kinder haben bei ihren Spielwünschen also auch ein gehöriges Wörtchen mitzureden, solange sie nicht objektiven Gefahren ausgesetzt sind. Artikel 31 in der UN-Kinderrechtskonvention betont darüber hinaus ausdrücklich das Recht von Kindern auf Ruhe, Freizeit, Erholung und Spiel.1

Janusz Korczak hat in seinen zahlreichen Schriften als einer der Ersten Kinderrechte propagiert und in pädagogischen Einrichtungen auch umgesetzt. Was hätte er zu Risky Play gesagt? Um dies herauszufinden, seien hier einige der von ihm aufgestellten Rechte erwähnt: das Recht des Kindes auf den Tod, auf den heutigen Tag, auf Misserfolge, Tränen und Fehler. Janusz Korczak lebte von 1878/79 bis 1942. Er war Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller. Er leitete unter anderem das Waisenhaus Dom Sierot in Warschau und gilt als Wegbereiter der Kinderrechte. Zudem hielt er Vorträge und veröffentlichte Fachbeiträge, durch die er aktiv an der Erzieherinnenausbildung mitwirkte.2 Sein Gesamtwerk steht heute in 16 Bänden in deutscher Sprache zur Verfügung. 

Korczaks Einfluss

Mit dem „Recht des Kindes auf den Tod“ ist insbesondere eine überspitzt formulierte Mahnung an die erwachsenen Bezugspersonen verbunden, Kinder nicht überzubehüten und aus ihren Kinderzimmern keine Ausstellungsräume zu machen, wie es Korczak am eigenen Leib erleben musste. Vielmehr ist es für ihn wichtig, dass sie auch selbstständige Erfahrungen in der Natur, im Sozialraum, etwa auf der Straße, in ihrem Dorf oder Stadtviertel, machen können, selbst wenn sie sich dabei blaue Flecken holen oder sich schmutzig machen. Janusz Korczak äußert das Recht auf den Tod übrigens in einer Zeit, als es noch keine Antibiotika gab und Kinder demnach vor vielen Infektionskrankheiten nicht geschützt werden konnten: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entreißen wir das Kind dem Leben; wir wollen nicht, dass es stirbt, und erlauben ihm deshalb nicht zu leben.“3 Kinder „einzusperren“ und wohlbehütete „Salonkinder“ aus ihnen zu machen, die nicht mit anderen auf der Straße spielen dürfen, wie es Korczak nach eigenem Bekunden ergangen war, sei der falsche Weg, unter anderem wegen des Rechts auf „Misserfolge und Tränen“. So beschreibt er in seiner bekannten Schrift „Das Recht des Kindes auf Achtung“: „Nicht nur ein zerrissener Strumpf, sondern ein aufgeschürftes Knie; nicht nur ein zerbrochenes Glas, sondern ein verletzter Finger, ein blauer Fleck, eine Beule, also ein Schmerz.“4 Korczak ruft die Erwachsenen dazu auf, all dies zu achten – aber auch all dies zuzulassen, denn es gehört zu einer vollwertigen Kindheit dazu. Dieses Recht auf Risiko bedeutet für ihn, Kinder zwar auf das Leben vorzubereiten, aber nicht, indem man sie in sterilen Räumen, die Operationssälen gleichen, aufwachsen lässt.  5

Mit Risiken umgehen lernen

Niemand – auch Kinder nicht – könne vor allen Risiken des Lebens geschützt werden. Leben enthält per se ein Risiko, mit dem wir umgehen lernen müssen. Hier schließt das „Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ an. Korczak schreibt: „Wie soll es morgen leben können, wenn wir ihm heute kein bewusstes, verantwortungsvolles Leben ermöglichen?“6 Er fordert also dazu auf, jede Sekunde, jede Stunde bewusst zu leben, nicht zu trödeln, aber auch nicht zu hetzen, und in erster Linie Kindern eine freudvolle Kindheit zu ermöglichen. Kinder lachen und sind vor allem fröhlich, wenn sie Grenzen austesten können, auch einmal auf eigene Faust und unkontrolliert spielen dürfen. Dabei lernen sie ungemein viel, was ihnen kein Lehrbuch beibringen kann. Sie dürfen beispielsweise moralische Grenzen ausloten. Korczak schreibt: „Wenn es als Kind nicht die Möglichkeit hatte, einmal die Rosinen aus dem Kuchen zu pulen und heimlich zu essen – ist es nicht ehrlich und wird es auch als Erwachsener nicht sein.“7 Auch dies kann als Risky Play betrachtet werden: ein auf den ersten Blick unangemessenes Verhalten, das jedoch – nach Korczak – legitim ist, weil es die moralische Entwicklung voranbringt, wenn ein Kind „mit seinem Gewissen“ kämpft und seine „moralische Widerstandskraft erprobt und stärkt“ . Kinder müssen also die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, denn sie wollen sich erfahren, sei es durch Lachen, Rennen oder auch Übermut. Korczak lädt dazu ein, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Platz ist für Scherze, Streiche, Bosheiten, Tricks, Lügen – für „naive Sünden“, wie er diese nennt. 9

Fazit

Für die Entwicklung und Bildung eines Kindes ist es wichtig, Grenzen zu überschreiten, etwa indem es einmal heimlich die Rosinen aus dem Kuchen stiehlt, sich beim Fangenspielen überschätzt und so schnell rennt, dass es hinfällt, oder dass es eine Fantasiesprache entwickelt, die niemand versteht, Scherze macht und Streiche spielt – moralisch, motorisch und sprachlich. Diese Beispiele für Wagnisse und Versuche sind nicht kontraproduktiv, sondern sollten pädagogische Fachkräfte im Gegenteil – im geschützten Rahmen – ermöglichen, weil sie entwicklungsförderlich wirken und Kindern Freude bereiten. Lassen wir uns hier von Janusz Korczak inspirieren.

Dr. Irit Wyrobnik ist Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit im Fachbereich Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz und Leiterin der Weiterbildung Korczak-Pädagogik.

Der Newsletter für Erzieher:innen und Leitungskräfte

Ja, ich möchte den kostenlosen Newsletter zum kindergarten heute Fachmagazin und/oder Leitungsheft abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.