Ein Interview mit Joachim Bensel„Wir können hier viel falsch machen“

Nichtstun gilt oft als etwas Negatives, doch für Kinder kann das ein echter Motor für Kreativität sein, sagt Verhaltensforscher Joachim Bensel im Interview. Außerdem verrät er einen Ort, an dem es keine Langeweile gibt.

Ein lachendes Mädchen mit Matsch an Händen, Gesicht und Kleidung streckt die Arme zur Kamera, im Hintergrund ein weiteres Kind, ebenfalls voll mit Matsch.
© vm/ GettyImages

Herr Bensel, Langeweile gilt oft als etwas Negatives  – als Zeichen von Desinteresse oder gar als Problem. Stimmt das?
Ganz und gar nicht. Langeweile ist vielmehr ein sinnvolles Gefühl, das sogar Kreativität wachsen lässt. Wer sich in jungen Jahren häufiger langweilt, hat später mehr davon. Konkret haben wir nach dem Zürcher Modell der sozialen Motivation von Norbert Bischof drei grundlegende Motivationssysteme, darunter das System der Erregung. Da gehört alles dazu, was mit Neugier und Unternehmungslust zu tun hat. Wenn hier ein Mangel auftritt, also wenn ich zu wenig Anreize habe, dann kommt es zum Gefühl der Langeweile, das wir auf unterschiedlichste Weise versuchen aufzulösen. Langeweile ist darum ein Antriebsmotor, um zu lernen, zu wachsen und tatsächlich kreativ zu werden. Das ist das Paradoxe zu dem, was es eigentlich für ein Etikett in der Gesellschaft hat.

Lässt sich das Aushalten und Vertreiben von Langeweile lernen?
Ja, schon Babys trainieren das. Wenn sie zum Beispiel einen Gegenstand ausgiebig mit dem Mund erkundet haben, lassen sie diesen vielleicht auf den Boden poltern, um zu sehen, was sie noch damit tun können. Wenn sie etwas begriffen haben, wollen sie etwas Neues entdecken. Sie tun also aktiv etwas gegen ihr Gefühl der Langeweile.

Wie erkennt man Langeweile bei Kita-Kindern?
Zum Beispiel im scheinbar seltsamen Verhalten von Kindern, was wir als „Quatsch machen“ bezeichnen würden oder wenn sie Dinge zweckentfremden, das kommt genau aus dieser Motivation heraus und ist auch für Fachkräfte sichtbar. Dann ist es wichtig, richtig zu reagieren.

Und wie könnte das aussehen?
Tatsächlich ist es das Schlechteste, Kinder aus dieser Situation der Langeweile herauszuholen, indem wir sie irgendwie sehr schnell mit einem anderen Reiz ablenken. Dieser führt zwar vielleicht kurzfristig dazu, dass die Langeweile abnimmt, doch das kreative Potenzial, das in der Langeweile schlummert, geht verloren. Dann fällt es diesem Kind unter Umständen später auch schwer, aus eigener Kraft aus dem Langeweilegefühl herauszukommen. Es könnte sogar noch schlimmer kommen, indem die Reize, die von außen zugefüttert werden, nicht mehr ausreichen, um die Erregung zu stillen, und immer wieder überboten werden müssen. Dann beginnt nämlich eine Art Abwärtsspirale. Wir können als Erwachsene hier sehr viel falsch machen, das betrifft sowohl die Familie als auch die Fachkräfte in der Kita. Kinder müssen mit ihrer Langeweile auch selbst klarkommen. Jede Langeweile ist eine Chance, etwas Neues zu entdecken.

Unterscheiden sich Kinder in ihrer Fähigkeit, Langeweile aushalten zu können?
Natürlich gibt es Unterschiede beim Temperament zwischen den Kindern. Aber je mehr ich bereits in Babyjahren lerne, gegen die Langeweile selbst aktiv zu werden, desto besser. Es gibt natürlich auch Kinder, die sich nur kurz mit Dingen beschäftigen können. Die erreichen gar nicht die Spiellänge und Spieltiefe, die man erwarten kann. Das kann jedoch auch andere Gründe haben: Vielleicht sind sie neu in der Kita und beobachten noch sehr viel oder sie haben schlicht einen schlechten Tag. Dann ist einfach das motivationale Sicherheitssystem aktiviert und das Explorationssystem nicht auf voller Leistung.

Langweilen sich ältere Kinder vielleicht eher, weil sie in der Kita schon alles durchgespielt haben?
Das kann man schon so sehen. Wenn eine Gruppe älterer Kinder nach vier Jahren Kindergarten alle Spielsachen bespielt hat, die Räume immer gleich aussehen, dann kann es vorkommen, dass sie die Spielsachen auseinanderbauen, um zu sehen: Was steckt denn dahinter? Oder sie überschreiten Grenzen und klettern zum Beispiel auf die Spielhütte – obwohl die (hinterfragbare) Regel existiert, dass sie das nicht sollen. Fachkräfte müssen individuell auf die Kinder und das Thema Langeweile eingehen und immer wieder neue Möglichkeitsräume für eigenaktives und partizipatives Gestalten bis zum Ende der Kindergartenzeit schaffen.

Gibt es Kinder, denen besonders oft langweilig ist?
Immer wieder sticht heraus, dass es ältere Jungs sind, die mit ihrem Klagen über Langeweile die Fachkräfte herausfordern. Da ist dann die Frage, wie viel Abenteuer und Geheimnisse zusätzlich zugelassen werden müssen. Eine Lösung könnten ganz bewusst mehr unbeaufsichtigte Zeit und unbeaufsichtigte Räume sein. Ich kenne auch eine Einrichtung, die ist mit ihren Kindern zu einem „Lost Place“ gegangen, einer zugewucherten Radrennbahn in Saarbrücken. Alles, was mit Abenteuern und Geheimnissen zu tun hat, ist ein gutes und kreatives Mittel gegen Langeweile.

Was können Fachkräfte tun, um passende Impulse beim Thema Langeweile zu setzen?
Wie so häufig muss ein Stück weit Biografiearbeit geleistet werden. Ich muss selbst schauen, wie ich mit dem Gefühl der Langeweile klarkomme und ob ich die Langeweile bei Kindern aushalten kann. Man muss gegenüber dem Kind die Perspektive einnehmen können: Du musst jetzt da selbst rauskommen, aber ich bin da, ich bin präsent. Und dann kann man ein Angebot machen und gemeinsam überlegen, was helfen könnte oder ob es umsetzbare Ideen der Kinder gibt.

Gemeinsam überlegen ist also unbedingt erlaubt?
Natürlich. Wir sind dann schnell im Begleiten einer Situation, aber eben nicht im Abnehmen der Lösung. Es geht um das Wecken von Spaß und Interesse. Das Kind bekommt dadurch Sicherheit, es merkt: „Da ist jemand, der mich wahrnimmt und meine Gefühle ernst nimmt.“ Die Kinder kommen dann ganz schnell selbst auf eigene Ideen. Im Vorteil ist hier, wer viel Gestaltungsfreiheit hat.

Wie sieht die aus?
Wir kommen nun auf Räume zu sprechen, die Entfaltung möglich machen, aber auch auf einen Realitätscheck zwischen dem, was ich als Fachkraft geplant habe, und dem, was sich im Tun mit den Kindern entwickelt. Es geht darum, möglichst viele Handlungsspielräume im Tagesablauf zu eröffnen, nicht möglichst viel Spielzeug anzubieten. Je mehr Kinder mitbestimmen dürfen, wie ihr Tag aussieht, desto weniger Langeweile verspüren sie. Das hat also auch mit Partizipation zu tun. Manchmal kann es sogar hilfreich sein, Langeweile zu provozieren, um dann zu sehen, was bei den Kindern entsteht.

Wie meinen Sie das?
Ich denke da ganz konkret an spielzeugfreie Zeiten. Also einen komplett leeren Gruppenraum, außer vielleicht irgendeinem zweckfreien Material. Dann wird es erst mal laut und die Kinder füllen den Raum mit ihren Geräuschen. Sie laufen umher und schreien und irgendwann kommen dann die Ideen. Das heißt, sie versuchen, diese Langeweile, die sich da einstellt, zu bekämpfen. Sie holen Kartons, bauen Häuser, legen Landschaften. Draußen ist das noch einfacher. Mir ist noch nie erzählt worden, dass Kinder sich an einem Waldtag oder im Waldkindergarten langweilen würden. Sie sind es gewohnt, dass die Tage sich unterscheiden, und entwickeln Kreatives aus allen erdenklichen Situationen und Umgebungen. In den Kitas erreicht man das durch flexible Tagesabläufe und permanente Zugänglichkeit aller Bildungswerkstätten inklusive des Bewegungsbereichs und des Außengeländes.

Was zeichnet die ideale Kita gegen Langeweile aus?
Ein offenes Konzept. So können sich alle 70 oder mehr Kinder der Einrichtung kennenlernen, gegenseitig besuchen und auf neue Spielideen kommen. Bei einer geschlossenen Gruppe geht das nicht, wenn ich immer die gleichen zehn oder 20 Kinder sehe und nur zu bestimmten Zeiten draußen sein darf. Offene Konzepte sorgen für mehr kreatives Spiel. Bei den Fachkräften steigt die Offenheit für Risky Play, also das bewusste wilde und gewagte Spiel mit zum Beispiel Zugang zu echtem Werkzeug. So können die Kinder ein Fantasiespielzeug konstruieren und damit einen Ausweg aus der Langeweile schaffen.

Es geht darum, die Langeweile zu besiegen?
Genau. Das stärkt die Selbstwirksamkeitserwartung, was oberste Priorität bei Kindern in der Kita und der Schule haben sollte. Aber das geht auch nur, wenn ich ein „Back-up“ habe, etwa in Form einer Fachkraft, die mich wahrnimmt und mir vielleicht Dinge anbietet. Im besten Fall werden die Angebote jedoch gar nicht gebraucht, sondern das Kind kommt auf etwas ganz Eigenes.

Beispiel Konstruktionsbereich: Wie könnte hier ein zusätzliches Angebot aussehen, um Kindern Langeweile zu nehmen?
Wenn ich ein Kind habe, dem langweilig ist und das sehr gerne baut, dann ist es der falsche Impuls, das Kind zum Malen zu schicken. Dann muss ich die Bauecke revolutionieren. Man könnte zum Beispiel einen alten Architektenzeichentisch organisieren, an dem dann die Konstruktionen geplant oder gezeichnet werden können. Damit biete ich dem Kind eine Chance, einen neuen Zugang zu finden, in einem Bereich, in dem seine Interessen liegen. Ich habe noch eine Idee gegen Langeweile, darf ich?

Gerne!
Pippi Langstrumpf zieht mit ihren Freund:innen los, um einfach Sachen zu sammeln. Sie zieht los, eben nicht für eine organisierte Schatzsuche, sondern um einfach Sachen zu suchen.
In der Kita wären das etwa herrlich geformte Steine, abgebrochene Äste oder Muscheln. Das ist eine wunderbare Idee, um etwas ganz Normales mit Kindern in eine Aktivität umzuwandeln, bei der die Fachkraft zwar dabei, aber eben auch nur begleitend, unterstützend wäre. Nur würde man dann wahrscheinlich andere Sachen finden als Pippi Langstrumpf. Bei ihr waren es nämlich eine Halskette, ein Buch, ein rostiger Metalleimer und eine alte Nähgarnspule.

War Ihnen als Kind einmal so richtig langweilig?
Da gibt es in der Tat eine witzige Anekdote. Ich habe mich furchtbar gelangweilt und meine Mutter genervt. Sie hat mir dann auch ein paar Sachen vorgeschlagen, doch die fand ich so gar nicht ansprechend. Ich habe mir dann aus Fernsehzeitschriften meine Lieblingssendungen ausgeschnitten und in meinem Zimmer mit Hammer und Nägeln eine ganze Wand damit vollgenagelt. Da war wirklich kein Fitzelchen, keine weiße Tapete mehr zu sehen, da waren sicher 50 Fotos an der Wand. Ich fand das großartig, meine Langeweile war verflogen und ich hatte ein kreatives Highlight. Meine Mutter fand das natürlich nicht so prickelnd, es waren die 60er- und 70er-Jahre.

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