Wie werden digitale Bilderbücher sprachunterstützend eingesetzt? Die meisten bisherigen Forschungsergebnisse beruhen auf internationalen Studien. Inwieweit eignen sich nun deutschsprachige digitale Bilderbücher zur Sprachunterstützung von 4- bis 5-jährigen Kindern in Kitas? Das untersucht die Lesedrachen-Studie1 am Staatsinstitut für Frühpädagogik in Zusammenarbeit mit der Katholischen Stiftungshochschule in München. Erste Erkenntnisse für den Einsatz digitaler Bilderbücher werden im Folgenden vorgestellt.
Wie bei klassischen Bilderbüchern2 gibt es digitale Bilderbücher für verschiedene Altersstufen und unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten. Doch wie kommt das digitale Bilderbuch aufs Tablet? Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder steht es in einer eigenständigen Bilderbuch-App zum Download bereit und kann dann auf dem Tablet geöffnet werden. Oder es ist ein E-Book, das in eine Buch-App geladen und von dort aus gestartet wird.
Die Geschichten sind in der Regel von professionellen Sprecher*innen oder Schauspieler*innen eingelesen und können über die sogenannte Vorlesefunktion angehört werden. Alternativ kann die Fachkraft die Geschichte vorlesen oder erzählen. Darüber hinaus beinhalten digitale Bilderbücher Bilder, Animationen und häufig auch Multimedia-Elemente. Dazu gehören Hintergrundgeräusche, Musik, Spiele oder Hotspots, die durch Berührung aktiviert werden können und zusätzliche Inhalte preisgeben oder eine Aktion auslösen.
Meist wird der Text der Geschichte angezeigt. Manche digitalen Bilderbücher verfügen über eine Mitlesefunktion. Das bedeutet, dass sich der Text parallel zur Vorlesefunktion einfärbt oder unterlegt wird. Sie ist vergleichbar mit dem mitlaufenden Finger der Fachkraft beim nicht-digitalen Vorlesen. Wenn digitale Bilderbücher über eine Aufnahmefunktion verfügen, können Kinder, Fachkräfte oder Eltern die Geschichte lesen, aufnehmen und im Anschluss anhören. Zusatzfunktionen wie Wörterbücher helfen Kindern, schwierige Wörter zu verstehen.
Damit ein digitales Bilderbuch zur Sprachbildung genutzt werden kann, muss das Augenmerk zunächst auf die einzelnen technischen Funktionen gerichtet werden. Denn die Forschung zeigt, dass diese einerseits großes Potenzial zur Lernunterstützung bieten. Sie können Kinder andererseits aber auch am Lernen hindern, wenn sie die Aufmerksamkeit von der Geschichte weglenken oder es zeitgleich zu viel aufzunehmen und zu verarbeiten gibt. 3
Neue Wörter besser lernen
Über die Vorlesefunktion können Kinder digitale Bilderbücher selbstständig betrachten und sich die Geschichte anhören. Durch diese Funktion wird die Geschichte stärker standardisiert als beim normalen Vorlesen, weil Stimme, Intonation, Aussprache, Tonlage und Sprechrhythmus immer gleich bleiben. Nutzen Kinder eine Geschichte mit Vorlesefunktion wiederholt, so wird das Einprägen neuer Wörter und sprachlicher Strukturen erleichtert, ähnlich wie es beim häufigen Hören von Hörspielen der Fall ist. Eine Besonderheit stellen die Vorlesefunktionen in anderen Sprachen dar, die es mehrsprachigen Kindern ermöglichen, die Geschichte auch in ihrer Familiensprache anzuhören.
Wie hilfreich sind Animationen?
Hören Kinder eine Geschichte, hilft es ihnen, wenn Wesentliches durch Illustrationen und Animationen hervorgehoben wird. Sie geben Kindern eine wichtige Lernunterstützung, vor allem wenn sie ein Wort oder eine sprachliche Struktur noch nicht kennen. Wenn ein Mädchen im digitalen Bilderbuch parallel zum vorgelesenen „Anna knipste das Licht an“ den Schalter umlegt, können Kinder das vielleicht noch unbekannte Wort „knipsen“ gut mit seiner Bedeutung verknüpfen. Umgekehrt werden sie abgelenkt, wenn Unwichtiges hervorgehoben oder sogar animiert ist, weil sie dann zu viele Informationen aufnehmen und verarbeiten müssen. Es ist also hilfreich, wenn Rotkäppchen im gleichnamigen Märchen durch eine Illustration dargestellt wird, aber es lenkt ab, wenn eine niedliche Eule im Baum winkt.
Ähnlich verhält es sich mit Hintergrundgeräuschen und -musik. Sie ermöglichen eine emotionale Färbung der Geschichte und können die Handlung untermalen. Trotzdem ist es besonders für jüngere sowie mehrsprachige Kinder oder Kinder mit Sprachförderbedarf sehr schwierig, unterschiedliche akustische Informationen gleichzeitig zu verarbeiten. Bei interaktiven Elementen, den sogenannten Hotspots, die durch die Berührung aktiviert werden und meist eine Animation auslösen, verhält es sich ähnlich. Sind Hotspots durch leichte Bewegung (wie Hin- und Herschwanken oder Aufblinken) kenntlich gemacht, so ziehen sie visuelle Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb ist es gut, wenn Multimedia-Funktionen je nach Bedarf und abhängig vom Lernziel an- oder ausgeschaltet werden können.
Zwischen Motivation und Überforderung
Ob die sprachlichen Fähigkeiten durch ein digitales Bilderbuch erweitert und gefördert werden können, hängt viel stärker vom jeweiligen digitalen Bilderbuch und seiner technischen Umsetzung ab als bei Papierbilderbüchern. Selbst weniger gelungene gedruckte Bilderbücher können Fachkräften und Kindern als vielfältiger Gesprächsanlass dienen. Sind digitale Bilderbücher jedoch so umgesetzt, dass sehr viel gleichzeitig passiert, sich bewegt, zu sehen und zu hören ist, wird es selbst erfahrenen Fachkräften nahezu unmöglich gemacht, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Handlung zu lenken. Digitale Bilderbücher sollten daher mit Blick auf die Frage, ob die technischen Funktionen der Sprachunterstützung dienen oder vielmehr davon wegführen, ausgewählt werden. Darüber hinaus ist es für die Sprachunterstützung – genauso wie bei gedruckten Büchern – wichtig, dass die Geschichte wiederkehrende sprachliche Strukturen oder die wiederholte Darbietung von neuen Wörtern enthält. Nur so kann sichergestellt werden, dass neuem sprachlichen Input genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wiederkehrende Elemente wie „Aber satt war sie noch immer nicht“ im Buch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ oder „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ im Märchen „Schneewittchen“ geben dem Kind Übung und animieren es zum Mitmachen und Mitsprechen. Dabei kann das sprachlich Neue variieren. Für Krippenkinder kann dies zum Beispiel das Wort „satt“ und für Kita-Kinder vielleicht der Reim „Wand – Land“ sein.
Wortschatz erweitern und anwenden
Verglichen mit dem „normalen Kita-Alltag“ ergaben sich bei der Lesedrachen-Studie positive Auswirkungen der beiden untersuchten Möglichkeiten der digitalen Bilderbuchbetrachtung auf die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder. Betrachteten Kinder das digitale Bilderbuch „Oskar und der sehr hungrige Drache“ 4 drei Mal selbstständig in der Kleingruppe begleitet durch eine Studierende, so verbesserten sich die Kinder im passiven Wortschatz und in der Bildungssprache. Betrachteten Kinder das digitale Bilderbuch ebenfalls dreimalig dialogisch mit der Studierenden, so ergaben sich noch größere sprachliche Vorteile für sie. Sie verbesserten zusätzlich ihren aktiven Wortschatz und ihre Erzählfähigkeiten.
Einsatz in der Praxis
Erzieherin Elisa merkt, dass sich drei Vorschulkinder in ihrer Gruppe im Deutschen noch nicht so gut ausdrücken können. Oft fehlen ihnen die passenden Worte und auch das Erzählen einer zusammenhängenden Episode fällt ihnen noch schwer. Die Kinder wachsen mehrsprachig auf und Deutsch ist nicht ihre Familiensprache. Elisa möchte die Kinder unterstützen, damit sie beim Schuleintritt über die sprachlichen Kompetenzen verfügen, die sie für ihren weiteren Bildungsweg brauchen. Sie schaut mit den Kindern gerne Bilderbücher an. Seit Kurzem gibt es in der Einrichtung auch ein Tablet für die Arbeit mit Kindern. Sie wählt ein digitales Bilderbuch aus und testet es zunächst selbst. Sie hört sich die Geschichte an und schaut, welche interaktiven Elemente es gibt. Elisa findet Inhalt, Länge und Funktionen passend und betrachtet das Buch mehrfach mit den drei mehrsprachigen Kindern in der Kleingruppe. Sie gibt ihnen auch die Möglichkeit, die Geschichte in ihrer jeweiligen Familiensprache zu hören, und merkt, wie die Kinder Handlung und Sprache besser miteinander verknüpfen können. Elisa wählt die Methode des Dialogischen Lesens, um direkt auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können. Zudem hat sie sich im Vorfeld Fragen und Impulse für die einzelnen Seiten überlegt und die Zusatzfunktionen bewusst ausgewählt. Dies erleichtert ihr die Sprachunterstützung in der noch unbekannten digitalen Lesesituation. Mithilfe der digitalen Bilderbuchbetrachtung können die Kinder ihren Wortschatz und die Erzählfähigkeiten verbessern.