Die Problemzonen der Institution KircheAnstehende Entscheidungen

Der Streit über die angemessene Auslegung der Kirchenkonstitution Lumen Gentium greift tief, eine Folge des Textgenus dieser Konstitution. Als Problemfelder erweisen sich heute die Neuordnung der Dienste in der Kirche und die starke Zentralisierung zu Lasten der Ortskirchen.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat ein neues Textgenus in der Konziliengeschichte eingeführt. Die Texte des Ersten Vatikanums oder des Trienter Konzils laufen jeweils in eine Reihe von Canones, von Definitionen zusammen. Eine Definition ist vom Textgenus her eine kategoriale Feststellung, jeweils ein Satz mit Subjekt und Prädikat. Ein solcher Satz fordert Zustimmung von den Glaubenden, andernfalls wird er abgelehnt. Anders ist es mit den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Diese Texte stellen Zusammenhänge dar, primär für alle Gläubigen der katholischen Kirche, ferner für die übrigen Christen und für alle Menschen. Für Johannes XXIII. ist dieses Konzil deswegen als ein pastorales Konzil zu bezeichnen. Paul VI. charakterisierte bei der Eröffnungsrede für die zweite Konzilsperiode die Aufgabe des Konzils so: Es gehe darum, ein „Bild der Kirche“ zu entwerfen, ihre „wesentliche Ordnung“ darzustellen.

Die Überschrift bezeichnet die Kirchenkonstitution Lumen Gentium (LG) als einen „konstitutionellen Text“, das heißt als grundlegenden Verfassungstext kirchlichen Lebens. Die Worte „Konstitution“ und „Verfassung“ sind vor Missverständnissen zu schützen: Man denkt sofort an eine staatliche Verfassung und wehrt ab; staatliche Verfassungen reguliertenden politisch-rechtlichen Bereich. Aber weiten wir unseren Blick: Die Regel des heiligen Benedikt ist seit 1500 Jahren die grundlegende Ordnung benediktinischen Lebens und der jeweiligen Klöster. Sie spricht die unterschiedlichsten Ebenen des Mönchslebens an, handelt ebenso von den Stufen der Demut wie von den Aufgaben des Abtes oder Cellerars. Man wird mit vollem Recht sagen können, die Benediktregel sei der konstitutionelle Text der Klöster Benedikts. Eine solche Regel bedarf selbstverständlich weiterführender Consuetudines, der kontinuierlichen Auslegung und Praxis durch Abt und Kommunitäten. In diesem Sinn ist in Bezug auf das Textkorpus des Zweiten Vatikanums mit Lumen Gentium als einem zentralen Text von einem Verfassungstext zu sprechen. Wie die Benediktregel nicht durch eine Abfolge von zehn oder fünfzehn Definitionen zu ersetzen ist, weil sie Abläufe, Verfahren beschreiben muss, sind auch die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht durch eine Abfolge von Definitionen zu ersetzen. Sie beschreiben Grundzüge christlichen Glaubens und kirchlichen Lebens, nennen Prinzipien der Ordnung, ohne alles im Detail zu regeln. Die Väter des Konzils waren sich bewusst, dass die Konzilsdokumente die Grundlage für eine völlige Neubearbeitung des Codex Iuris Canonici bilden sollten, dass wichtige Verfahren in der Kirche neu zu regeln waren, ja dass die ganze Kirche durch die Orientierung an diesen Dokumenten ein neues Gesicht bekommen sollte. Weil es im Gegensatz zur Konstitution eines Staates um eine so komplexe Realität wie das kirchliche Leben geht, spielen die Texte auf unterschiedlichen Ebenen, der Ebene des Glaubens, der Sakramentalität, der institutionellen Ebene und anderen mehr. Aus diesem Textgenus ergeben sich zugleich Einsichten in Auslegung und Gebrauch dieser Texte: Es wird immer wieder beklagt, dass gewisse Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht miteinander vermittelt seien, etwa die Lehre vom Primat des Papstes und von der Kollegialität der Bischöfe. Auf Grund des charakterisierten Textgenus ist allerdings deutlich: beide Prinzipien sind für die Kirche konstitutiv, müssen aber jeweils durch die kirchliche Praxis, ebenso wie durch die Theologie, je neu miteinander vermittelt werden. Es handelt sich um zwei verfassungsmäßige Prinzipien, die jeweils in eine Balance zu bringen sind. Ähnliches gilt für andere Aussagen. Stellt das gesamte Textkorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils den konstitutionellen Text des Glaubens vor, also einen grundlegenden Verfassungstext kirchlichen Lebens, dann ist klar, dass die Kirche in der Moderne immer wieder an diesen Texten Maß zu nehmen hat. Es ist nicht mit einer einmaligen Rezeption getan. Die Frage nach der Verfassungstreue ist in allen neuen Situationen neu zu beantworten (eine ausführliche Entfaltung dieser These findet sich im Band 5 von Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg 2005).

Reflexion auf die Grundlagen

Zugleich ergibt sich eine kirchen- und geistesgeschichtliche Einordnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Mit der Französischen Revolution, mit dem Zusammenbruch der Reichskirche endet in Europa eine Periode der Kirchengeschichte, die durch die Stichworte Christianitas, Einheit kirchlicher und öffentlicher Ordnung gekennzeichnet ist. Die modernen Staaten geben sich Verfassungen und legitimieren so zugleich die eigenen öffentlichen Autoritäten durch Rückgriff auf die Volkssouveränität. In diesem Umwälzungsprozess ist die Kirche gefordert, sich durch Reflexion auf ihre eigenen Grundlagen neu zu positionieren. Es wird im neunzehnten Jahrhundert in einem mühseligen Prozess die Gründung kirchlicher Autorität in der Offenbarung Gottes selbst und die Differenzierung des Offenbarungsglaubens von der menschlichen Vernunft und ihrem Wahrheitszugang herausgearbeitet. Die Spitzenergebnisse dieses Prozesses formuliert das Erste Vatikanum. Damit ist die Kirche als eine Gemeinschaft charakterisiert, die nicht einfach ein Überbleibsel und Restbestand des Ancien Régime ist. Das Zweite Vatikanische Konzil ist offenbar eine vom Geist Gottes der Kirche geschenkte Gabe, durch die sie sich jetzt in dieser modernen Welt selbst präsentiert. Sie charakterisiert ihre Beziehungen zu den anderen großen Realitäten, den Kulturen, den anderen Religionen, dem Judentum – und zwar in Form einer Konstitution. Diese Konstitution unterscheidet sich selbstverständlich von denen der Nationalstaaten, handelt es sich doch um einen anderen Ordnungstypus. Zugleich unterscheidet sie sich dadurch, dass sie die Autorität nicht erst durch die Konstitution selbst legitimiert. Gleichwohl wird die Ausübung der Autorität, und zwar aller kirchlichen Autoritäten, reguliert, dies geschieht in einer prinzipiellen Weise. Die Texte sind vom Papst zusammen mit den Bischöfen proklamiert, so dass eine Selbstbindung vorliegt. Damit hat die Kirche ein ganz wesentliches Aggiornamento vollzogen. Es liegt an den Gliedern der Kirche, den Gläubigen, es liegt an Papst und Bischöfen, es liegt an den Theologen, Tragweite und Bedeutung dieses Vorgangs zu verstehen, die vorgegebene wesentliche Ordnung zur Geltung zu bringen. Die Kirchenkonstitution erwächst aus einem sehr offenen, aber auch sehr harten Ringen um einen angemessenen Text. Dieser Text wird am Ende von den über 2000 teilnehmenden Bischöfen mit nur zehn Gegenstimmen angenommen. An der wenige Tage darauf stattfindenden feierlichen Schlussvotation sinkt die Zahl der Gegenstimmen auf fünf.

Die Kirchenkonstitution beginnt mit dem Kapitel: „Das Mysterium der Kirche“. Kardinal Joseph Frings hatte in der Stellungnahme zum vorbereiteten Schema kritisch angemerkt, dass die gesamte patristische Sicht der Kirche ausfalle, weil man völlig von der gegenreformatorischen Konzeption ausgehe. Die Väter des Ostens und Westens haben Kirche als Mysterium oder Sacramentum bezeichnet, um so aufzudecken, wie in der Kirche der Heilsratschluss Gottes Gestalt annimmt. In der Kirche ist der Sinn der gesamten Schöpfung und der Geschichte aufgedeckt: das Heil, zu dem Menschen in der Gemeinschaft mit Gott berufen sind. Kirche ist nicht zu konzipieren als „Konfessionskirche“. Kirche ist, wie Augustinus sagt, die „ecclesia ab Abel“, sie ist die „civitas Dei“, die Bürgerschaft Gottes, jene fundamentalste, von Gott selbst her eröffnete Gemeinschaft, in welche die Menschen insgesamt hineingehören. So wie Kirche hier als Werk Gottes selbst charakterisiert wird, wird im Grunde die Rechtfertigungslehre Martin Luthers zu ihrer Vollendung geführt. Hier steht nicht der einzelne Gläubige im Blick, der durch Gottes Gnade und sonst nichts seine Gottesgemeinschaft hat und gerechtfertigt ist. Hier stehen mit dem Einzelnen zugleich die Menschen im Ganzen im Blick. Ihr Heil ist das Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Kirche ist jene Gemeinschaft, die aus dieser voraussetzungslosen Gnade Gotteslebt. Daraus ergeben sich grundlegende Konsequenzen hinsichtlich der Zugehörigkeit der Kirche. Kirche ist nicht denkbar ohne das alttestamentliche Bundesvolk. Kirche ist aber auch nicht denkbar ohne die Beziehung zu den mannigfachen Religionen, in denen die Menschheit das Geheimnis Gottes gesucht und angerührt hat.

Das zweite Kapitel trägt die Überschrift: „Das Volk Gottes“. Hier findet ein Wechsel der Perspektive statt. Wurde im ersten Kapitel Kirche als Resultat göttlichen Heilshandelns charakterisiert, waren die Subjekte der Sätze also Gott-Vater, Gott-Sohn, der Heilige Geist, so schlägt hier die Perspektive um: das glaubende Volk Gottes, das durch Gottes Heilshandeln konstituiert ist, ist jeweils als aktives Subjekt zu verstehen. Infolgedessen sind die Subjekte der hier vorkommenden Sätze jeweils Termini, die die Gemeinschaft der Glaubenden bezeichnen. Dabei gilt dieselbe Universalität wie im ersten Kapitel über das Mysterium der Kirche. Gleich der erste Satz betont, dass Gott jeder willkommen ist, der „ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt“ (LG 9). Es wird die alttestamentliche Heilsökonomie angesprochen, die ja in der Genesis mit Adam und Eva, Kain und Abel, mit Noah und Abraham ihren Vorhof hat. Vollendet wird diese Aufdeckung des Volkes Gottes durch Jesus Christus, den durch ihn gestifteten Neuen Bund. Die Kirche des Neuen Bundes wird in erster Linie als messianisches Volk bezeichnet (LG 9,2). Damit ist klar: Kirche ist nicht die triumphierende Kirche, sondern hat in der Nachfolge Christi auf dem Weg durch die Geschichte ihre Wahrheit in messianischen Zeichen und Taten zu bezeugen und zu leben. Die folgenden Ausführungen charakterisieren die Sendung dieses Volkes Gottes mitten unter den Völkern: an erster Stelle wird – zum ersten Mal seit Trient – vom gemeinsamen Priestertum aller Glaubenden gesprochen. Davon wird das ministerielle Priestertum unterschieden. Letzteres wird wesentlich als Dienst innerhalb des Volkes Gottes und zugunsten des Volkes Gottes charakterisiert. Ebenso wie am Sacerdotium Christi nehmen alle Glaubenden an seiner Sendung zur Bezeugung des Evangeliums und zum königlichen Dienst im Sinne der Herrschaft Gottes teil. Im Blick auf Kirche als Mysterium – und als Volk Gottes – wird in LG 8 betont, dass eine Identität zwischen Kirche als Geheimnis, als Mysterium, und Kirche als Institution besteht, wenngleich hier keine Deckungsgleichheit gegeben ist. Deswegen wird gesagt, dass Kirche als Mysterium in der römisch-katholischen Kirche, das heißt in der Institution der Kirche „subsistiert“.

Die folgenden Kapitel 3–6 handeln von der Kirche als Institution, und zwar ihrer Außen- und Innenseite. Am Anfang des dritten Kapitels über die hierarchische Konstitution der Kirche steht eine grundsätzliche theologische Charakteristik des ordinierten Dienstes in der Kirche: es ist eine Bestimmung dessen, was der Sinn des Ministeriums ist. „Christus, der Herr, hat, um das Volk Gottes zu weiden und ständig zu mehren, in seiner Kirche verschiedene Dienste lebt. Daraus ergeben sich grundle-wird in erster Linie als messianisches eingesetzt, die sich auf das Wohl des gende Konsequenzen hinsichtlich der Volk bezeichnet“ ganzen Leibes richten. Denn die Diener, die über heilige Vollmacht verfügen, dienen ihren Brüdern, damit alle, die zum Volk Gottes gehören und sich daher der wahren christlichen Würde erfreuen, zum Heil gelangen, indem sie frei und geordnet auf dasselbe Ziel hin zusammenwirken (konspirieren)“ (LG 18). Die Grundlage der Dienste in der Kirche ist von Christus her gegeben. Auch wird sofort von verschiedenen Diensten und nicht nur von einem Dienst gesprochen. Die Pluralität ergibt sich daraus, dass es sich um Dienste für das Volk Gottes handelt, das frei und geordnet wirkend zum Heil gelangen soll. Da bedarf es selbstverständlich unterschiedlicher Dienste. Die Zielbestimmung lautet: um das Volk Gottes „zu weiden und ständig zu mehren“. Es geht nicht darum, dass das Ministerium das Volk Gottes allererst konstituiert. Es ist von Gott selbst zusammengerufen. Christus hat es zum Neuen Bund gesammelt. Der Auftrag, das Volk Gottes zu weiden und zu mehren bedeutet: das Ministerium in der Kirche steht nicht zwischen Gott und dem Volke Gottes, so als käme jegliche Gnade dem Volk Gottes lediglich durch die Ministri zu.

In diesem Kontext ist Artikel 21 hochbedeutsam, der die sakramentale Realität des Bischofsamtes erläutert. Damit wird eine grundlegende Fortschreibung und Erweiterung der mittelalterlichen und tridentinischen Amtstheologie vorgenommen. Mittelalterliche Theologen hatten das Bischofsamt als eine dignitas (Würde) bezeichnet, Trient konnte sich über die Sakramentalität des Bischofsamtes nicht einigen. Man unterschied im ganzen zweiten Millennium im Amt die potestas iurisdictionis und potestas ordinis, letztere bezog sich auf die Kompetenz des Bischofs, beziehungsweise der Presbyter, sakramentale Handlungen vorzunehmen. Diese Engführung und Aufspaltung wird jetzt aufgegeben. Die drei großen Aufgaben bischöflichen Amtes werden in LG 21 alle zusammen genannt und auf sakramentale Weise verstanden: Es ist Christus, der durch seine Diener das Wort Gottes verkündet, die Sakramente spendet, die Kirche leitet und ordnet. Analoges wird später von den Presbytern gesagt, die an diesem Amt des Bischofs Anteil haben. Hier liegt ein neuer, erweiterter Begriff des Dienstes, beziehungsweise Ministeriums, als Sakrament vor. Deswegen wird im Folgenden ausdrücklich davon gesprochen, dass mit dem „Amt der Heiligung auch die Ämter des Lehrens und Leitens“ durch die Bischofsweihe übertragen werden. Diese Umschreibung des Ministeriums als Sakrament ist von außerordentlicher Bedeutung und in der zeitgenössischen Theologie noch keineswegs entsprechend ausgelotet.

Das vierte Kapitel handelt über die Laien und damit nicht von den Gläubigen, insofern sie Mitglieder des Volkes Gottes sind: „Laien“ ist ein Terminus, der nur auf der Ebene der institutionellen Kirche greift. Er bezeichnet jene Gläubigen, die nicht zu einem amtlichen Dienst geweiht und beauftragt sind. Der kirchliche Sprachgebrauch ist in dieser Hinsicht oftmals noch verwirrend und geprägt von der mittelalterlichen Differenzierung von Klerikern, die für die Spiritualia, und Laien, die für die Temporalia zuständig sind.

Es fällt in diesem Kapitel auf, dass sich die Bischöfe mit den entsprechenden Zuordnungsbestimmungen schwer tun. So werden im abschließenden Artikel LG 37 die Laien, die ja grundsätzlich aktive Subjekte in der Kirche sind, an ihre Verpflichtung erinnert, die Leitung der Hirten anzunehmen. Nicht thematisiert hingegen ist die Frage, wie ihre Pflicht und damit auch ihr Recht auf Initiativen im Sinn des Evangeliums geschützt werden. Wenn der Klerus gemahnt wird, die Würde und Verantwortung der Laien anzuerkennen, ihren Rat einzuholen, mutet dies ein wenig wie ein mittelalterlicher Fürstenspiegel an.

Komplexität und Klarheit

Die Kapitel 5 und 6 über die allgemeine Berufung zur Heiligkeit der Kirche und das Kapitel über die Ordensleute gehören eng zusammen. Die frühere strikte Trennung zwischen dem „Weg der Gebote“ und dem „Weg der Evangelischen Räte“ und die entsprechende Differenzierung zwischen Laien und Ordensleuten wird hier unter Rückgriff auf die Schrift und die Tradition in der frühen Kirche aufgehoben. Alle sind zur Heiligkeit berufen. Die Lebensordnungen der einzelnen Gläubigen und der Gruppen sollen auf die Vollkommenheit der Liebe hingeordnet sein, sie sollen zur Auferbauung der Anderen wirken. Kapitel 5 und 6 beleuchten gleichsam die Innenseite der institutionellen Kirche. Sie machen deutlich, wozu die Kirche in ihrer geschichtlichen Verfasstheit überhaupt da ist, was sie ihren Mitgliedern vermitteln und ermöglichen soll. Man hätte sich jedoch gewünscht, dass im Kontext der Kapitel 5 und 6 nicht nur die besonderen Charismen, die den Ordensleuten geschenkt sind, thematisiert worden wären, sondern auch die anderen Charismen. Sie stellen ja die wesentlichen Formen dar, in denen Christen ihrer Sendung entsprechen und ihren Weg zur Heiligkeit gehen. Eine solche Übersetzung der Charismenlehre in die moderne gesellschaftliche Situation war jedoch offensichtlich theologisch nicht genügend vorbereitet. Kapitel 7 über den endzeitlichen Charakter der pilgernden Kirche bringt nochmals eine neue Perspektive ins Spiel, welche das erste und zweite Kapitel über das Mysterium der Kirche und das Volk Gottes ergänzt. Vor Augen steht die Kirche im Hier und Jetzt, in ihrem Wandel in der Geschichte. In ihrem Glauben, in ihrer Liturgie, ist sie jene Gemeinschaft, die mit jenen Menschen, die bereits zur Vollendung gelangt sind, das eine Volk Gottes, den einen mystischen Leib Christi bildet.

Mit dem achten Kapitel über Maria ist den Konzilsvätern zweifellos ein Wurf gelungen. Die drohende Verselbständigung der Mariologie, ihre Herauslösung aus dem Kontext der Ekklesiologie und der übrigen theologischen Sachgebiete wurde aufgefangen. Die Darstellung führt zu einem vertieften Verständnis von Maria, der Mutter Jesu Christi, der Gottesgebärerin, als Inbild der Kirche. Bedeutsam ist die Erläuterung, wie es in der Kirche zur Ausbildung der Marienverehrung kommt: Bereits die alttestamentlichen Texte, ebenso wie die dann folgenden neutestamentlichen Texte, werden in der Kirche im Blick auf „die Gestalt der Frau“ gelesen, die als Mutter des Erlösers hier langsam ans Licht tritt. Die idealtypische Lesung der Texte bedeutet: die Erzählungen über Eva, Sarah und andere werden von der göttlichen Erfüllung menschlichen Lebens her gedeutet. Damit werden die Grundmomente menschlichen Lebens: menschliche Personalität und Verantwortung, menschliche Geistigkeit, Jungfräulichkeit und Mutterschaft, tägliche Sorge für die Anderen und das Mit-Leiden mit ihnen, schließlich das Sterben von der „Gnade Gottes in Jesus Christus“ her gedeutet. Maria empfängt in personaler Weise das Wort Gottes. Jungfräulichkeit und Mutterschaft, Sorge und Leiden, schließlich ihr Sterben sind im Licht der Selbstmitteilung Gottes an die Menschen in Christus neu bestimmt: nicht als Grenzen und Einengungen, sondern als Formen der vollendenden Begnadung. Insofern ist Maria „In-Bild“ der Kirche. „Dasselbe Geheimnis setzt sich in der Kirche fort, seine heilbringenden Auswirkungen werden durch sie, die Kirche, den Glaubenden zugewandt.“ Von dieser Gesamtsicht fällt nochmals ein Licht auf die Überschrift des achten Kapitels: „Die selige Jungfrau und Gottesgebärerin Maria im Mysterium Christi und der Kirche“. Die Relatoren betonen ausdrücklich, dass man im Titel von Mysterium im Singular spricht, um die Selbigkeit des Mysteriums Christi, der Kirche und Mariens zu betonen. Damit schließt sich zugleich ein Kreis: steht am Anfang von Lumen Gentium das Kapitel über das Mysterium der Kirche, so steht am Ende wiederum dieses eine und selbe Mysterium vor Augen, jetzt allerdings in seinem „In-Bild“ in Maria.

Theologisch gesehen übertrifft die Ekklesiologie von Lumen Gentium in ihrer Komplexität und der Klarheit ihrer Gliederung alles, was vor und unmittelbar nach dem Konzil an Lehrbüchern über die Kirche auf dem Markt war. Die Wiedergewinnung der ganzen Breite patristischer, mittelalterlicher Sichtweisen der Kirche, wie die Bewahrung der verfassungsmäßigen Ausarbeitungen in der Neuzeit, ist erstaunlich. Handelt es sich um einen konstitutionellen Text, ist dies das eigentliche Textgenus, so verbietet sich eine Interpretation, die einfach von den Intentionen der Autoren, näherhin der Minorität und der Majorität ausgeht. Leitend muss dann die Intention des Textes selbst sein, der sich in seiner Form allererst im Verlauf der konziliaren Arbeiten selbst herausgebildet hat. Die im Text zweifellos gegebenen, nicht miteinander in eine systematische Einheit gebrachten Prinzipien stellen dann die Aufgabe dar, in kirchenpolitische und theologische, in gemeindliche und persönliche Spannungen Balancen und Lebensformen zu bringen.

Blickt man auf die Rezeption, so wird deutlich, dass die Kirche heute vor einer neuen Etappe steht. Die leitende Frage in den zurückliegenden 40 Jahren lautete: Was muss im Namen des konziliaren Textkorpus, hier im Namen der Kirchenkonstitution, unmittelbar geändert werden? In diesem Sinn entstand der neue Codex Iuris Canonici, wurde die Bischofssynode eingerichtet, wurden eine Fülle von Veränderungen eingeleitet, die unmittelbar ins Auge sprangen. Die Fragen, die sich heute stellen, und zwar im Blick auf die Rezeption dieses konstitutionellen Textes, sind anderer Art. Die Problemfelder haben ein neues Profil. Die Kirche befindet sich in einem Zustand der Stagnation und bedarf einer dringenden und umfassenden Anstrengung, um zur evangelisierenden, zur missionarischen Kirche zu werden. Sie ist gefordert, sich in einem ganz anderen Ausmaß als früher als diakonische Kirche zu profilieren, gerade angesichts der ungeheuren Verwerfungen und Probleme, die die Globalisierung mit sich bringt. Es gibt überall in der Kirche mit Blick auf die pastoralen Mitarbeiter die dringende Herausforderung einer Neuordnung des Dienstes in der Kirche. Bei der doppelten Anzahl von Katholiken im Vergleich mit der Katholikenzahl vom Ende des Konzils ist die Kopfzahl der ordinierten Ministri, laut dem Statistischen Jahrbuch des Vatikans für 2004, rund 10 Prozent geringer als damals. Auf der anderen Seite gibt es 2,9 Millionen „pastoral workers“ weltweit. Sie leisten weitgehend die pastorale Arbeit. Hier ist etwas aus dem Lot geraten. Ein weiteres, mehr innerkirchliches Problemfeld stellt die starke Zentralisierung in der Kirche zu Lasten der Ortskirchen dar. Bedingt ist diese Situation nicht zuletzt durch die gewandelten Kommunikations- und Medienstrukturen. Angesichts dieser und anderer Problemfelder stehen Entscheidungen an. Sollen diese Entscheidungen sinnvoll und in einer glaubwürdigen Weise getroffen werden, so ist auf die konstitutionellen Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückzugreifen, und zwar auf ihren ganzen Komplex. Man wird dort nicht einfach Rezepte und unmittelbare Anweisungen finden, sondern Prinzipien, die im Sinne des Konzils umzusetzen sind. Dabei ergibt sich als Folgerung zugleich, dass solche grundlegenden Entscheidungen und Umsetzungen dringend synodaler Vorgänge bedürfen, um angemessen auszufallen. Die große Warnung des Konzils besteht gerade hinsichtlich der Verfahren darin, dass die wesentlich unter der Leitung der Kurie verabschiedeten vorbereitenden Dokumente durchgängig zurückgewiesen, oder ganz grundlegend transformiert werden mussten.

Eine Entfaltung der Synodalität schließt eine entsprechende Leitung durch den römischen Stuhl nicht aus, sondern ein. Darin würde verstärkt eine Funktion des Petrusdienstes sichtbar, die Leo der Große für den Dienst des römischen Bischofs so formuliert hat: Er sei „Hüter“ oder auch „Wahrer der Canones“.

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