Theologie im Zeitalter alternativer FaktenVon der gläubigen Vernunft

Menschen interpretieren Fakten nicht objektiv, sondern aus ihrer Weltsicht heraus: Die Vernunft ist keine unabhängige Instanz. Für die Theologie mit ihrer primär existenziellen Ausrichtung ergeben sich daraus durchaus besondere Chancen.

Regenbogen in den Wolken
© Pixabay

Man könnte meinen, wir lebten im Zeitalter der Fakten: Verdanken wir nicht unseren modernen Lebensstil, den Komfort der Spülmaschine, die Mobilität des Flugzeugs und die Kommunikationsmöglichkeiten des Smartphones den Naturwissenschaften, also der unvoreingenommenen, verobjektivierten Auseinandersetzung mit der Welt, so, wie sie wirklich ist?

Tatsächlich dürften die Naturwissenschaften und die durch sie ermöglichte Technik unser Weltbild in den letzten beiden Jahrhunderten geprägt haben: Auch wenn das Vertrauen in die Technik nicht ungebrochen ist, dürfte weltweit ein gewisser Fortschrittsoptimismus vorherrschen. Dieser kann sogar quasi-religiöse Züge tragen, wenn das eigene Heil innerweltlich und mittels des technischen Fortschritts zu erreichen gesucht wird. Die (wissenschaftlich verfolgte) Idee des Transhumanismus mag dafür ein bemerkenswertes Beispiel darstellen, beinhaltet sie doch die Vision eines unendlichen, perfekten Lebens innerhalb der Welt, realisiert durch neue technische Möglichkeiten.

Weniger extrem und weltweit zumindest implizit vorhanden dürfte die Überzeugung sein, dass der Mensch bestehende Herausforderungen mittels neuer technischer Entwicklungen angehen müsse und auch meistern werde. Sie liegt dem vorherrschenden Entwicklungskonzept zugrunde, das ökonomisches Wachstum und technischen Fortschritt propagiert. Einen berühmten Ausdruck fand dieses Paradigma in der Antrittsrede von US-Präsident Harry S. Truman im Jahr 1949, in der er von unterentwickelten Teilen der Welt sprach, die es auf das technologische Niveau und den ökonomischen Stand der entwickelten Länder wie den USA zu heben gelte.

Diese in der internationalen Zusammenarbeit bis heute wirkmächtige Programmatik wurde zwar von Anfang an kritisiert, so wurde zwischenzeitlich auch der Begriff „Entwicklungshilfe“ abgelegt. Alle Seiten müssten sich schließlich verändern, und alle Seiten besäßen kulturellen wie strukturellen Reichtum, der gegenseitiges Lernen ermögliche und erfordere.

Faktisch dürfte in der Entwicklungszusammenarbeit allerdings noch immer die Truman’sche Einstellung vorherrschen. Schlimmer noch: Noch immer nutzt der Globale Norden seine wirtschaftliche und technische Überlegenheit aus und schafft so neue Ungerechtigkeit. Beispielsweise muss bis zum heutigen Tag festgestellt werden, dass finanzschwächere Länder in Südamerika und Afrika unter der Extraktion von Rohstoffen leiden, die in den Norden abgeführt und dort veredelt werden. Der Reichtum wird zwar insgesamt vermehrt, konzentriert sich aber nur auf einen Teil der Menschheit, und macht nur dort das Leben angenehmer.

Die Kritik an diesem Entwicklungsparadigma, das auf ökonomisches Wachstum und technischen Fortschritt setzt, wird allerdings erst heute im Zuge globaler Krisen wie der Corona-Pandemie und des Klimawandels laut vernehmbar. Sie kommt nämlich jetzt aus der Mitte der Gesellschaften sowohl des Globalen Südens wie des Globalen Nordens. Es geht nun nicht mehr um Machtverhältnisse, sondern um globale Herausforderungen, die gerade Wachstum und bisherige Technik erzeugten und weiter verschlimmern.

Im Umgang mit diesen Krisen zeigte sich jedoch auch deutlich, dass die Faktengläubigkeit der Menschheit mitnichten das Ausmaß erreicht, das der Siegeszug der Naturwissenschaften annehmen ließe. Fakten sind schließlich interpretationsbedürftig.

Wir interpretieren Fakten im Rahmen unseres Weltbilds

So haben die Sozialwissenschaftler Matthew Nurse und Will Grant von der „Australian National University“ im Fachjournal „Environmental Communication“ demonstriert, wie Daten zum Klimawandel in das eigene Weltbild integriert werden: Die australischen Wissenschaftler legten etwas mehr als 500 Probanden fiktive Daten zu Städten vor, deren Regierungen Kohlekraftwerke hatten schließen lassen (die in Australien positiver als in Europa konnotiert sind).

Die Aufgabe bestand darin, die Auswirkungen dieser drastischen politischen Maßnahme zu bewerten. Anhand von manipulierten Grafiken sollten die Teilnehmer sagen, ob die Schließung der Kraftwerke zu einer nennenswerten Reduktion der Kohlenstoffdioxid-Emissionen in den Städten geführt hatte.

Besonderen Einfluss auf die Antworten der Teilnehmer hatten deren politischen Einstellungen: Konservative neigten dazu, die erzwungene Schließung der Kraftwerke als weitgehend wirkungslos zu deuten; links orientierte Personen legten die Grafiken als Beleg dafür aus, dass die Maßnahme den Ausstoß von Kohlendioxid signifikant reduziert habe. Offensichtlich benutzten die Probanden ihre Rechenfertigkeit dazu, die vorgelegten Zahlen in ihre gewünschte Wahrheit zu integrieren. Oder, wie es Sebastian Herrmann in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. Juni 2019 zuspitzte: „Bildung und Intelligenz verleihen einem das Rüstzeug, um den größten Quatsch zu rechtfertigen und als heilige Wahrheit zu verkaufen.“

Die Studie zeigt auf, was wir schon in vielen anderen Fällen nachvollziehen konnten. Eine Dichotomie in der Weltsicht lässt sich ausgiebig in den USA beobachten, in denen sich zwei politische Blöcke über Jahrzehnte voneinander entfernten. Sie stehen nicht nur für konträre politische Konzepte, sondern für zwei entgegengesetzte Weltbilder. Es ergibt sich die bemerkenswerte Spannung, dass sich Kritiker des ungebremsten Fortschritts auf naturwissenschaftliche Daten etwa zum Klimawandel berufen und daher zum Vertrauen in die Wissenschaft appellieren. Das Festhalten am bisherigen ökonomischen Modell verknüpft sich hingegen mit einer Abwehr dieser Daten und alternativen Deutungen.

Wir nutzen Fakten zur Identitätsstiftung

In diesem Kontext steht die erstmalige Postulierung „alternativer Fakten“ durch Kellyanne Conway, von 2016 bis 2020 Beraterin des damaligen US-Präsidenten Donald Trump. Im Januar 2017 benutzte sie diese Formulierung positiv konnotiert in der amerikanischen Polit-Talksendung „Meet the Press“, um unzutreffende Aussagen des Pressesprechers des Weißen Hauses Sean Spicer zur Publikumsgröße bei Trumps Amtseinführung vor dem Kapitol zu rechtfertigen. Spicer hatte vehement von der größten Zuschauerzahl gesprochen, die jemals einer Amtseinführung beigewohnt habe, und damit den ersten öffentlichen Disput um die Wahrheitstreue des Weißen Hauses unter Trump evoziert – und zwar bereits am ersten Arbeitstag der neuen US-Regierung.

Conway äußerte später, in Interviews unter Druck gesetzt, es gebe kein Verfahren, um Menschenmengen sicher zu quantifizieren. Gleichzeitig erstellte die Regierung manipulierte Bilder, die die Menschenmenge größer erscheinen lassen. Offensichtlich sah auch das Weißen Haus „Fakten“ als durchaus überprüfbar an oder zumindest plausibilisierbar, in diesem Fall mittels Bilder. Immerhin gestand es Bildern eine Wirkmächtigkeit für die Wahrheitsfindung zu.

Niemand wird ernsthaft Beliebigkeit in Wahrheitsfragen predigen. Fakten sind wichtig für uns, konstatiert der Psychologe Keith Stanovich in seinem 2021 erschienenem Buch „The Bias That Divides Us. The Science and Politics of Myside Thinking“, aber nur, sofern sie unsere Sicht der Dinge unterstützen. Wichtiger als die Fakten sei demnach die Identitätsstiftung unserer Weltanschauung. Und das, so merkt Stanovich an, sei allgemein menschlich.

Besonders deutlich kommt diese weltbildgetränkte Denkweise immer dann zum Vorschein, wenn moralische Fragen betroffen sind. Das unterstreicht die in diesem Jahr in der Fachzeitschrift „PNAS Nexus“ veröffentlichte Studie „Moralization and extremism robustly amplify myside sharing“ von Antoine Marie, Sacha Altay und Brent Strickland.

Auch dieser Befund kann nicht überraschen: Er deckt sich damit, dass die meisten emotional geführten politischen Debatten moralisch hoch aufgeladen sind. Themen, bei denen sich nicht nur in den USA zwei politische Lager unterscheiden lassen, betreffen Gender-, Integrations-, Flüchtlings- und sexualethische Positionierungen.

Jeder Mensch pflegt also, so muss man theologischerseits schließen, ein Weltbild, das einerseits zentral das eigene moralische Empfinden einschließt und andererseits den Interpretationsrahmen für die eigene Weltwahrnehmung schafft. Dieses Weltbild ist den nackten Fakten vorgeschaltet. Fakten sind nicht egal, sie werden aber selektiv interessegeleitet genutzt.

Die zugrunde liegenden Effekte werden in der Psychologie bereits seit Längerem erfasst und untersucht, etwa sogenannte Bestätigungsfehler (confirmation biases): Viele Studien zeigen, dass wir Informationen selektiv wahrnehmen, und zwar immer genau so, wie sie zu unserem Weltbild passen. In einer 2023 in der Fachzeitschrift „Perspectives on Psychological Science“ veröffentlichten Auseinandersetzung mit 200 einzelnen Effekten, in denen Menschen Informationen nur interessegeleitet wahrnehmen, gelangen Aileen Oeberst und Roland Imhoff zum Ergebnis, dass ihr Kern im Wunsch des Menschen nach einer in sich stimmigen, mit den Erfahrungen passenden Weltdeutung liegt.

Oeberst und Imhoff zeigen, wie die Menschen gemäß ihren individuellen Wünschen, Hoffnungen und Voreinstellungen Informationen so interpretieren, dass sie zu den bestehenden Vorstellungen passen und das Bedürfnis nach einem intakten, positiven Selbstbild befriedigen. Dieses Selbstbild umfasse das Gefühl, man selbst sei rational, wissend, gut und stehe auf der richtigen Seite. Informationen in Einklang mit den persönlichen Grundannahmen zu verarbeiten, sei ein fundamentales kognitives Prinzip und entspreche damit der conditio humana.

Es geht also nicht um den Abschied von der Vernunft, da, gemäß diesem psychologischen Befund, die eigene Rationalität Teil der Selbstvergewisserung und damit des Weltbildes ist. Die rationale, faktenbasierte Auseinandersetzung ist mitnichten obsolet. Was allerdings insbesondere die Theologie lernen muss, so sie sich als Wissenschaft von Sinnstiftung, Weltanschauung und -deutung verstehen möchte, ist die Pluralität der Rationalität. Es gibt nicht die eine Vernunft, mittels der Weltanschauungen bewertet werden könnten, sondern was wir für vernünftig halten, ist selbst Teil unseres Überzeugungssettings.

Für die Theologie bedeutet das, sich von einem Vernunftverständnis sowohl einer bestimmten hellenistischen als auch einer bestimmten neuzeitlich-aufgeklärten Spielart zu verabschieden. In hellenistischer Zeit wurde ein Vernunftverständnis geprägt und von der frühen christlichen Theologie übernommen, das das Aufstreben der Vernunft zum Wahren, Schönen und Guten propagierte und als Weg zu Gott verstand. Mit Platon, Aristoteles und dem Neuplatonismus wurde ein vergeistigtes Verständnis wirkmächtig, das dem Menschen das Erreichen der Wahrheit zutraute und den Weg dorthin auch moralisch geboten sah.

Wenn der Vernunft unter dem Eindruck der konfessionellen Aufspaltungen in der Neuzeit eine entscheidende Rolle zugesprochen wurde, folgte das einerseits dieser Logik, gab aber zugleich der Vernunft eine über Weltanschauungen richtende Rolle. Es ist also nicht zu unterschätzen, welcher Paradigmenwechsel in der Forderung besteht, die Vernunft nicht als unabhängige Instanz über, sondern als Ausdruck und Teil von Weltanschauungen zu sehen.

Dieser Paradigmenwechsel lässt sich historisch und soziologisch in der Pluralisierung der Welt fassen. Während im Mittelalter entsprechend der Einheit der Vernunft auch die Einheit der Welt als von Gott gegeben gedacht und als maßgeblich verstanden wurde, kommt nun kaum eine Gesellschaftsbeschreibung ohne die Feststellung unhintergehbarer Diversität aus. Das gilt, so ein klassisch postmodernes Axiom, nun eben auch für die Vernunft, die sich in verschiedenen Kontexten je anders ausdifferenziert. Post- oder hypermodern wird das Vernunftverständnis, indem es nicht nur verschiedene Rationalitäten in kulturellen Kontexten ausmacht, sondern sogar Menschen selbst je nach dem aktuellen Kontext die Fähigkeit zuspricht, „anders“ zu argumentieren.

Diese Sichtweise beinhaltet die Erkenntnis, dass traditionelle Konzepte die Vernunft tendenziell überschätzen. Sie wird nicht nur von den zitierten psychologischen Studien gestützt, sondern auch von der Evolutionsbiologie und der Hirnforschung. Beide Disziplinen verdeutlichen, welch wichtige Rolle beispielsweise Emotionen spielen, etwa auch dabei, welche Gedanken im Gehirn überhaupt dem Bewusstsein und damit rationaler Reflexion zugeführt werden.

Daraus folgt der für traditionelle Theologie ernüchternde Befund, dass der rationale Diskurs über Weltanschauungen nur beschränkt gelingt, da die Kriterien für Rationalität und auch das Moralverständnis selbst Teil der eigenen Weltanschauung sind. Der Versuch, auf rationalem Weg ein letztes, unhintergehbares Kriterium zur Bewertung von Weltanschauungen zu finden, gelingt daher nicht.

Daraus folgt sicherlich nicht, dass die rationale, faktenbasierte Argumentation sinnlos ist. Sie darf nur keinen Absolutheitsanspruch stellen, sondern muss im offenen Diskurs erfolgen. Mit Martin Breul lohnt es sich beispielsweise, auf die Diskurstheorie von Jürgen Habermas einzugehen (Diskurstheoretische Glaubensverantwortung. Konturen einer religiösen Epistemologie in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Regensburg 2019).

Neu ist diese Erkenntnis für die Theologie sicherlich nicht. Klaus von Stosch argumentiert bereits in dem von Hans Joas herausgegebenen Sammelband „Was sind religiöse Überzeugungen?“ (Göttingen 2003), dass Weltbilder nicht Ergebnis eines rationalen Diskurses seien: Gottesbeweise vermögen den Atheisten genauso wenig zu überzeugen, wie sich der religiöse Mensch durch logische Schlüsse vom Glauben abbringen lässt. Religiöse Überzeugungen verlören sich schließlich nicht in einzelnen Argumentationssträngen, sondern böten eine umfassende Deutung der Lebenswirklichkeit.

Friedo Ricken sekundiert in seinen religionsphilosophischen Studien (etwa im Band „Glauben, weil es vernünftig ist“, Stuttgart 2007), dass Weltanschauungen nicht vorrangig abstrakt-theoretisch zu erfassen seien. Sie stellen vielmehr eine sinnerfüllte Lebenspraxis dar und sind daher primär existenziell ausgerichtet. Ihre Basis bilden die grundlegenden Erfahrungen des Menschen, die seine Bedingtheit umfassen und eine Deutungsebene nötig machen, die die einzelne Person übersteigt.

Die Theologie ist gerüstet für die Reflexion der Veränderungen im Weltbild

Mit diesen Überlegungen zeigt sich die Theologie als durchaus gerüstet für die Reflexion aktueller weltbildbasierter Veränderungen und Auseinandersetzungen. Damit ergibt sich für sie sogar ein spannendes Arbeitsfeld: Sie könnte die verschiedenen inneren Rationalitäten in aktuellen Diskursen analysieren, in ihren kulturellen Verortungen nachzeichnen, (moralische) Konsequenzen aufzeigen und nach Verständigungsbrücken fragen.

Ein aktuelles Thema kann dabei der eingangs benannte, nach wie vor wirkmächtige Fortschrittsoptimismus sowie der Glaube an das Wirtschaftswachstum darstellen. Beide hängen insofern zusammen, als ihnen die von Alfred Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatierte Orientierung an Nützlichkeit und dem Marktwert zugrunde liegen. Hier lässt sich eine funktional-verrechnende Logik aufzeigen, deren gesellschaftsprägende Kraft bereits soziologisch nachgewiesen ist und die sich in den Feuilletons der Zeitungen in Klagen über ein ökonomisiertes Bildungs- oder Gesundheitswesen finden lässt.

Es liegt also tatsächlich eine Form von Weltanschauung vor, die sich isolieren und so analysieren lässt. Selbstverständlich liegt sie beim einzelnen Menschen nicht in einer idealisierten Fassung vor, sondern in unterschiedlichen Ausprägungen. Das trifft aber auch auf alle religiösen Überzeugungen zu: Zum Lernprozess der Theologie in der Moderne gehört auch, dass sie aufhört, von dogmatisch klar fassbaren, in Reinform anzutreffenden Religionen auszugehen. Dass es das Christentum, den Islam oder den Buddhismus nicht gibt, ist inzwischen eine selbstverständliche Aussage, auch wenn meist aus pragmatischen Gründen doch so getan wird, als ob man eine Religion als Einheit erfassen könnte.

Esoterik und neuer Autoritarismus als Gegenbewegungen

Die Idealisierung einer naturwissenschaftlich geprägten Weltanschauung hilft auch als Analysewerkzeug, um verschiedene Gegenbewegungen zu erfassen und zu verstehen. Das Phänomen der Esoterik kann in seiner Vielfalt als Ablehnung einer einseitig funktionalen Rationalität greifbar und so in ihrem Anliegen nachvollzogen werden. Dies geht mit einem verklärten Naturverständnis einher, das vielfach auch in der politischen Rechten propagiert wird und das eine wesentliche Schnittmenge darstellt, die zum zunächst überraschenden Zusammenschluss von esoterischen und rechten Gruppen in der Corona-Krise führte.

Diese holzschnittartigen Ausführungen sollen keinen abschließenden Befund darstellen, sondern nur plausibilisieren, dass derartige Analysewege einen heuristischen Mehrwert erzeugen. Sie können aktuelle gesellschaftliche Prozesse erklären und dem Transfer zuführen. Sobald die Interessen und Anliegen einzelner Gruppen besser verstanden werden, können auch leichter politische Prozesse initiiert und Diskurse geführt werden.

Wenn Überzeugungen als fluide ausgewiesen und ihnen eine Eigenlogik zugestanden wird, wird zwangsläufig eine Unschärfe in der Erfassbarkeit eines Phänomens unterstellt. Indem der jeweiligen Eigenlogik nachgegangen wird, wird aber zugleich an einer Diskursfähigkeit und rationalen Verstehbarkeit über die Grenzen der jeweiligen Weltanschauung hinaus festgehalten.

Es geht also nicht um eine Inkommensurabilität von Weltanschauungen im Sinne eines völligen Bruchs. Der Anspruch von Wahrhaftigkeit, Faktenbezug und Rationalität bleibt bestehen. Aufgegeben wird lediglich der Anspruch, dass es eine absolute Form von Rationalität und Faktendarstellung gibt. Daher bleibt wieder der Verweis auf den Diskurs, in dem eigene Denkvoraussetzungen, Wahrnehmungen und Anliegen thematisiert werden.

Zu dieser Analyse kann die Theologie beitragen: Auch wenn sie sich zum Verständnis moderner Prozesse nicht auf überzeitliche Idealisierungen berufen kann, muss es gelingen, Kontinuitäten auszumachen. Damit können Identitäten und identitätsstiftende Momente eingefangen werden, die Menschen verbinden und zugleich ihre Motivlage klären helfen.

Identität als Einfügen des Individuums in einen größeren Kontext

Ein Werkzeug dafür könnte sein, „Narrationen“ zu untersuchen. Mit Narrationen sind wiederkehrende Elemente und Begründungsstrukturen gemeint, die in einer geschichtlichen Linie stehen. Diese können sowohl auf individueller als auch kultureller Ebene ausgemacht werden. Gerade ihr Wechselspiel, also das Einfügen des Individuums in einen größeren Kontext, konstituiert Identität.

Erfasst werden können sie, indem bei einzelnen Menschen auf gleichbleibende Motive in Äußerungen, Reden, Abstimmungsverhalten, politischem Agieren und so weiter geachtet wird, und indem auf gesellschaftlicher Ebene Mehrheitsphänomene etwa in den Medien, bei Umfragen oder in Sozialen Medien aufgezeigt werden. Der historische Rückblick kann die Wirksamkeit dieser Motive, Entwicklungslinien und kausaler Verkettungen nachweisen. Es kann Sinn ergeben, sowohl Homogenitäten als auch Brüche in der Gesellschaft oder bei Einzelnen zu erfassen, einer vielschichten Darstellung zuzuführen und ihre kausalen Abhängigkeiten zu eruieren. Mehrdimensional lassen sich so im besten Fall sowohl übergreifende (gegebenenfalls globale) Elemente erkennen als auch solche, die auf niedrigerer Ebene (lokal) wirksam sind.

Narrationen lassen sich bei Religionen, Staaten, Gruppierungen und letztlich bei allen Gebilden ausmachen, die von einer vereinigenden Identität geprägt sind. Im Judentum wären als Elemente einer verbindenden (globalen) Narration beispielsweise die Exodusgeschichte, der Bund mit Gott sowie die Verheißung des Landes Israel zu nennen. Es ist daher kein Zufall, wenn diese Elemente nicht nur in heiligen Texten zu finden sind, sondern auch liturgisch gefeiert und in der heutigen Politik genutzt werden. Solange diese Elemente lebendig gehalten und in ihrem Wert aktualisiert werden, sind sie identitätsstiftend und konstitutiv für die Weltdeutung. Die lokale Ausdeutung dieser Elemente differiert gleichwohl, wie sich etwa in der heutigen Politik Israels bei Zustimmung zum oder Ablehnung vom Siedlungsbau in Palästinensergebieten zeigen lässt.

Die Analyse von Narrationen lässt historische Entwicklungen genauso wie heutige gesellschaftliche Konstellationen verständlicher werden. Der eingangs benannte Erfolg der Naturwissenschaften etwa wird als Teil einer weltumspannenden globalen Narration zu verstehen sein.

Eine andere, aktuell zumindest im Westen wirkmächtige Narration rekurriert auf das Freiheitsversprechen der Moderne. Auch dieses Freiheitsversprechen zeigt seine Wirkung sowohl auf einer individuellen Ebene als auch in kollektiven Handlungsmustern bis hin zu politischen Vorstellungen.

Genau wie das Technikvertrauen hat auch das Freiheitsversprechen Gegenbewegungen erzeugt: Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeigen in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ (Berlin 2022), wie das nicht eingelöste Versprechen in bestimmten Gruppen zum Misstrauen gegenüber dem Staat geführt hat, da sich die Menschen machtlos und in einer komplexer werdenden Welt überfordert fühlen.

Die Analyse von einzelnen Narrationen kann ein Ordnungsschema erzeugen, das sowohl die Dynamiken als auch die Wechselspiele zu verstehen hilft. Das Schema ist skalierbar, insofern die globale Wirksamkeit genauso adressiert werden kann wie die lokale Adaption. Narrationen können beim Individuum nachvollzogen werden und anhand weltweit verbreiteter Texte. Es können langfristige Aspekte und Begründungsmuster festgestellt wie auch die Fluidität in ihren Ausprägungen sowie der konkreten Anwendung nachvollzogen werden.

Indem die verschiedenen theologischen Disziplinen zusammen mit außertheologischen Fächern eingebunden werden, umfasst die Arbeit mit Narrationen notwendig den interdisziplinären Dialog: Textbasierte Fächer bieten genauso ein wichtiges Analyseinstrument wie praktisch-empirisch arbeitende und systematisierend-philosophische. Nur im Zusammenspiel gelingt ein vertieftes Verständnis.

Ein wichtiger Effekt könnte in einer gewissen Prognosefähigkeit bestehen. Gerade weil anderen Weltanschauungen eine eigene innere Logik zugesprochen wird, bleibt das aus der eigenen Rationalität heraus schwer verständliche Handeln eben doch nachvollziehbar. So wäre der Angriffskrieg auf die Ukraine vielleicht erwartbarer gewesen, wenn Kontinuitäten in den Reden des russischen Präsidenten Wladimir Putin beachtet worden wären, die etwa seine Sichtweise auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und ein einheitliches russisches Weltreich betreffen, oder auch auf den Verfall von Moral und auf die Rolle von Nazis in der Ukraine. Indem seine individuelle Sicht mit längerfristigen kulturellen Ausprägungen und dem Selbstverständnis Russlands korreliert werden, könnte wohl eine gesellschaftlich wirksame Narration festgestellt werden – und der Ukraine-Krieg nicht als überraschend-irrationale Entscheidung eines Einzelnen erscheinen, dem es kurzfristig um Anerkennung ging.

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