Kritik am Begriff „Politischer Islam“Die weiche Wirkkraft der Religionen

Ein Reizwort geht um in Deutschland: Politischer Islam. Österreich erwägt sogar, Politi-schen Islam zum Straftatbestand zu erklären; eine gleichnamige Dokumentationsstelle ist in Wien bereits gegründet. Auch hierzulande läuten die Alarmglocken. Handelt es sich um eine sachlich berechtigte Kategorie?

Aufgeschlagener Koran
© Pixabay

Politik und Religion sind die beiden großen Gestaltungsansprüche in Gesellschaften. So formulierte es Norbert Lammert. Nachvollziehen lässt sich seine Beobachtung wie folgt: Politik ist Weltgestaltung durch öffentliche Macht. Für viele liegt eine Religion schon wie die Muttersprache in der Luft, bevor sie sie ins Bewusstsein heben: als Kultur, die das Leben prägt. Nicht wenige religiöse Menschen und Gemeinschaften wollen aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus bei der Weltgestaltung mitwirken. So hat Religion längst öffentliche Gestaltungsmacht und ist insofern „politisch“. Das sollte eigentlich niemanden beunruhigen. Doch das Gebiet zwischen Religion und Politik ist seit jeher vermint. Denn Übergriffe gibt es von beiden Seiten. Was weiterhilft, sind Sprach- und Rechtsklarheit.

Religion kann politisch nur das sein, was der Harvard-Politologe Joseph Nye eine soft power nennt: weiche Wirkkraft. Sie agiert ohne den Hebel von Wirtschaft und Waffen. Wo eine Religionsgemeinschaft physische Druckmittel nutzt, verletzt sie das Gewaltmonopol des Staates. Damit aber gibt sie auch den eigenen Grundanspruch preis. Religionen – gerade Christentum und Islam – lassen sich bestimmen als Glaubensgemeinschaften. Wenn sie jedoch auf Glauben beruhen, dann auf innerer Zustimmung. Die aber lässt sich nicht durch die Zwangsmittel äußerer Kräfte herstellen. Darum müsste schon klar sein, dass Religion politisch nur sanft agieren kann. Allerdings bleiben auf dem politisch-religiösen Begriffsfeld Spuren von Übergriffen sichtbar.

Die Rede von „politischen Religionen“ hat denn auch einen bitteren Beigeschmack. Als Hitlerdeutschland in Österreich einmarschierte, untersuchte der Politikwissenschaftler Eric Voegelin in Wien gerade totalitäre Ideologien. Er arbeitete deren quasi-religiöse Strukturen heraus; und er tat dies genau unter dem Titel „Die politischen Religionen“. Sowie sein Buch erschienen war, musste er fliehen. Denn er hatte das Grundmuster des Nationalsozialismus als „politische Religion“ entlarvt. Genauso schillernd ist die Bezeichnung „politische Theologie“. Schon die Spätantike kritisierte damit Glaubenslehren, die bloß dem Machterhalt in der Polis dienen sollten. In der Weimarer Republik taucht der Begriff wieder auf. Mit seiner Wiedereinführung versuchte der Staatsrechtler Carl Schmitt seinen Katholizismus als Stütze des Staates vorzuführen, und sei er noch so autoritär. Auch als der Staat zum Gewaltregime mit Führerprinzip geworden war, bot Schmitt ihm seine politische Theologie noch als Rechtfertigung an.

Religion ist Inspiration

Erst in den Sechzigerjahren bemühen sich Theologen um ein alternatives Verständnis. Wie es eine politische Philosophie gibt, die alles – selbst den eigenen Ansatz – auf seine weltgestaltende Machtposition hin abklopft, müsse es doch auch ein politisch-theologisches Denken geben können. Johann Baptist Metz brachte den Begriff daher wieder ein, in revidierter Fassung: als „Neue Politische Theologie“. Sie sollte nun zeigen, was Heilige Schrift und christliches Zeugnis für die Weltgestaltung zu bieten haben: zeitanalytisch und neuorientierend, übrigens auch religionskritisch. Ähnlich erhoben auf evangelischer Seite Autorinnen wie Dorothee Sölle ihre Stimmen. Bestehende Machtverhältnisse kamen unter das Messer. Die „Neue Politische Theologie“ wurde bald zu einem Impuls für die entstehende Befreiungstheologie in Lateinamerika. Unter Johannes Paul II. geriet sie dann zwar in Marxismusverdacht; aber dass die Tradition der Katholischen Soziallehre etwas Hochpolitisches ist, wusste auch der polnische Pontifex nur zu gut. 1979, am Vorabend des Pfingstfestes, betete er unüberhörbar in Warschau: „Sende aus deinen Geist! Und erneuere das Angesicht der Erde! Dieser Erde!“

Die Verbindung von Religion und Politik war also immer spannend, häufig gespannt. Wie lässt sie sich entspannen? Notwendig ist eine gegenseitige Anerkennung. Sie verlangt allerdings auch eine beidseitige Selbstbeschränkung. Religiöse Menschen – ob sie leitend repräsentieren, geistlich verkünden, die Bekehrung der Welt erhoffen oder politisch handeln – müssen akzeptieren, dass die Macht von Religion nur sanft sein kann. Das römisch-kirchliche Repertoire bietet hierfür seine eigenen Begriffe an. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach von einer „Durchdringung und Vervollkommnung der zeitlichen Ordnung mit dem Geist des Evangeliums“ (Apostolicam actuositatem, Nr. 2). Später war die Rede davon, die Christen müssten Europa eine Seele geben – sie hätten in diesem Sinne zu „animieren“.

Heute lässt sich knapp sagen: Religion ist Inspiration. Sie kann motivieren und Weltgestaltungsvorhaben orientieren. Eine Religion kann das, indem sie das einzelne Gewissen anspricht; aber mehr noch. Sie kann auch die Atmosphäre prägen: den „Geist“ einer Gemeinschaft, mitunter sogar den Geist einer ganzen Gesellschaft. Durchsetzen können die Religionsgemeinschaften das nicht, nur bezeugend erhoffen.

Was geschieht, wenn sich Religionsführer darüber täuschen, lässt sich augenblicklich in Iran beobachten. Die Frauen sind zum Tragen des Tschadors gezwungen. Also tragen sie ihn. Nur verhindert das nicht, dass sich unter der Kopfbedeckung kritisches Denken entwickelt, bei manchen sogar eine Allergie gegen alles Religiöse. Wenn Glaubensverkündigung dagegen von vornherein anerkennt, dass sie sich nur an menschliche Freiheit richten kann, zielt sie nicht auf Einknicken, sondern auf Einsicht. So sagt schon der Koran wiederholt: „Vielleicht würdet ihr nachdenken!“ (zum Beispiel 2:219).

Selbstbeschränkung aber braucht nicht nur die Religion, sondern auch der Staat, sofern er freiheitlicher Rechtsstaat sein will. Wenn er die Spannung von Religion und Politik kappt, wenn er behauptet, politisch dürfe neben dem amtlichen Institutionenapparat nur das Individuum sein, ist er übergriffig. Dann überschätzt er sich selbst und unterschätzt die Macht der sanften Kräfte. Die DDR etwa versuchte de facto, Religion auf den privaten Raum einzuschränken. Was jedoch aus den Kirchenräumen auf die Straße drängte, wurde zu einer tragenden Inspiration der politischen Wende. Die französische Trennung von Staat und Religion ist deutlich anders verfasst; aber auch in Frankreich versuchen Laizisten, das Religiöse aufs Private einzugrenzen. Der öffentliche Raum soll neutral sein. Religiöse Formate beäugt der Laizismus misstrauisch. Ein Kopftuch gehöre nicht in die Öffentlichkeit, genauso wenig wie eine Weihnachtskrippe – mit der Folge, dass auch viele religiöse Menschen dem Staat mehr misstrauen, als ihn konstruktiv mitzugestalten. Es ist diese laizistische Richtung, die seit etwa 20 Jahren auch das Warnwort vom „Politischen Islam“ verwendet.

Nun gibt es tatsächlich Grund zur Warnung. Aus Koran und Islamgeschichte lassen sich aufpeitschende Slogans und Vorstellungen herauslösen. Jede andere Religionstradition lässt sich ebenfalls als Steinbruch für Hetzvokabular hernehmen; und Menschen lassen sich davon faszinieren und damit fanatisieren. Für reaktionäre Rückgriffe auf Religiöses gibt es eine präzise Terminologie. Zunächst ist da der „Fundamentalismus“. Im Blick auf den Islam stehen dann weitere Benennungen zur Verfügung. Etwa Salafismus: Er malt sich die Welt der frühen Muslime als Idealstaat aus und meint, man müsse und könne dorthin zurückkehren. Oder Islamismus: Staat und Gesellschaft müssen allein „vom Islam“ bestimmt sein. Doch verdankt sich auch hier das Islambild nicht Quellenlektüre und historischer Forschung, sondern beruht auf Abwehrreaktionen und Wunschvorstellungen.

Nicht jede Salafistin, nicht jeder Islamist befürwortet Gewalt als Mittel zur Durchsetzung des ersehnten Idealzustandes. Doch nähern wir uns hier zusehends einem Kippen in die Gewaltbereitschaft. Denn problematisch wird es, wenn die eigene Religion anderen Quellen von Erkenntnis und Ordnung keinerlei Eigenrecht (Autonomie) zugesteht: den Wissenschaften, der Kunst und eben dem Staat. Dann lässt sich – nicht nur beim Islam – in wachsender Intensität von integralistischen, totalitären, radikalen, militanten, extremistischen und terroristischen Religionsformen sprechen. All diese Bezeichnungen liegen bereit. „Politischer Islam“ aber ist, als Warnwort, ein Unwort. Warum?

Dem Staat gehört die harte Macht. Er hütet sich tunlichst davor, sie zu teilen. Der Staat hütet sich aber, wenn er nicht totalitär werden will, auch davor, die milde Macht anderer Gestaltungsansprüche zu unterdrücken. Ein freies Gemeinwesen braucht Erinnerungen daran, dass es Kriterien und Kräfte gibt, die über den Staat hinausgehen: die inspirieren, aber auch die Staatsmacht kritisieren und relativieren. Damit haben Religionen hochpolitische Ansprüche und Aufgaben, aber eben nicht als Staatskonkurrenten, sondern als Inspiration zur Gewissens-, Gemeinschafts- und Gesellschafts-„Bildung“. In das Horn eines übergriffigen Laizismus sollte man nicht stoßen und eine Religion schon deswegen unter Verdacht stellen, weil sie das Leben mitgestalten will. Wer in den Religionen Inspirationskraft sieht, vermeidet deshalb die pauschale Kriminalisierung des „Politischen Islam“ besser. Denn inspirierende Mitmenschen und Gemeinschaften braucht das Land, auch politisch-kritische.

Aber haben wir damit nicht eine abendländische Glanzleistung auf den Islam projiziert? Ist unsere Nichtidentifikation von Staat und Religion nicht spezifisch christlich? Ist der Islam überhaupt imstande, mitzugestalten, ohne übergriffig zu werden? Ist er denn nicht „Staat und Religion“ in einem, dīn wa-daula? Kann es also einen Islam als soft power in der Gesellschaft wirklich geben?

Tatsächlich ist die Religionsgeschichte Europas ein Sonderweg. Hier waren es besondere Faktoren, zuerst innerchristliche Bekenntniskriege, die das Christentum schließlich dazu brachten, Religion und Staat auseinanderzuhalten. Die Theologie konnte dies im Laufe der Zeit mitvollziehen, und zwar durch Erinnerung an den Anfang der Kirche: Die verfolgte christliche Minderheit hatte im Römischen Reich gelernt, ihr Glaubenszeugnis im Gegenüber zum Staat zu leben. Man konnte daher im 20. Jahrhundert sehen, dass der christliche Glaube sich selbst treuer ist, wenn es keine Staatskirche gibt und Religionsfreiheit herrscht.

Keine Pauschalverdächtigungen

Wenn Muslime heute eine wohlwollende Selbstunterscheidung von Staat und Religion befürworten, verleugnen sie aber den Islam und die eigene Geschichte auch nicht. Die Gründungszeit wird zwar erinnert als Einheit von Glaube und Politik: der Prophet als religiöses Oberhaupt, Schiedsrichter und Heerführer zugleich. Doch ein Gemeinwesen, das sich als Staat kennzeichnen ließe, gab es noch nicht. Die ersten Kalifen leiten dann zwar etwas, das man einen Glaubensstaat nennen kann: ein religiös begründetes Reich nach oströmischem Vorbild. Dieses ist jedoch sogleich vom Machtstreit untergraben und zerbricht im Bürgerkrieg. Denn die alte Stammesordnung reibt sich mit der neuen Militärhierarchie; und wer Muhammad nachfolgen sollte, war von Anfang an umstritten.

In diesem Streit entsteht auf islamischer Seite das religiöse Denken (Theologie). Es versucht sich zwar in Herrschaftslegitimierung, denn man fürchtet einerseits Anarchie, andererseits Bestrafung. Aber die Autoren werden, selbst wenn beamtet, nicht für ihre theologischen Dienstleistungen bezahlt; und es gibt ebenso viele herrschaftskritische Religionsgelehrte. Auch das Personal der Moscheen wird in dieser Frühzeit größtenteils nicht aus der Staatskasse finanziert, sondern über private Stiftungen.

Wo findet man dann aber die klassisch-islamische Synthese von Staat und Religion? Sie lebt erst in muslimisch-modernistischen Idealisierungen auf. Aus einer vorgestellten Vergangenheit und mit Parolen wie „Islam ist Staat und Gesellschaft“ will man sich dem entgegenstellen, was man unter Drohworten wie Säkularisierung befürchtet. Dagegen setzt nun die glücklich Bekehrte oder der packende Internetprediger mit einfachen Antworten eine neue Verheißung: Die pluralen, schmutzigen Lebensentwürfe deiner Umwelt werden dich nicht mehr beunruhigen, wenn du dich der wahren islamischen Lebensform anschließt. Das ist die Einheitsdoktrin „identitärer“ Religiosität. Wenn hier auch kein physischer Zwang ausgeübt wird, herrscht doch schon Gewalt: psychischer und geistlicher Missbrauch. Dass sich muslimische Jugendliche im Internet radikalisieren, muss man wahrnehmen. Und man sollte dafür präzises Warnvokabular verwenden: identitär, totalitär, islamistisch.

Vor manchen Begriffen aber muss man warnen. Die Rede vom „legalistischen Islam(ismus)“ etwa hat das Zeug zum Verschwörungsmythos. Selbstverständlich: Es gibt in allen ideologischen Bewegungen mit Umsturz-Agenda Mitglieder, die sich vorerst bedeckt halten und staatliche Gesetze genau beachten. Man muss sich aber davor hüten, mit solchen Begriffen jeden muslimischen Mitmenschen zu verdächtigen: je unauffälliger, desto gefährlicher. Ebenso problematisch ist die Rede vom „Politischen Islam“. Denn islamische Stimmen haben sehr wohl ihren Platz, auch im politischen Diskurs hierzulande. Was gegen Radikalisierung hilft, sind nicht Pauschalverdächtigungen.

Was hilft, ist reflektierte Sprache, theologische Kompetenz und davor: Kenntnis – zuerst der eigenen Religion, ihrer Texte, ihrer Geschichte und ihres Inspirationspotenzials. Vermitteln können diese Kenntnis schon die Familien und Gemeinden. Aber es braucht auch Räume der interreligiösen Begegnung. Ein pädagogisch und theologisch qualifizierter Religionsunterricht an den Schulen kann darauf vorbereiten, kann auch selbst Lernort sein für die Auseinandersetzung mit inner- und interreligiöser Vielfalt. Es braucht das Gespräch der ja hierzulande derzeit entstehenden islamischen Universitätstheologie mit den christlichen und jüdischen Theologien, die einander heilsam herausfordern: interaktive Theologie; und es braucht die Menschen, die aus ihren verschiedenen Inspirationsquellen heraus gemeinsam um Lösungen ringen für die derzeitigen Alltagsschwierigkeiten und für die sich ankündigenden Problemlagen in der Gesellschaft, der Umwelt und eben der Politik.

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