Mit seinem neuen Großessay „Den Himmel zum Sprechen bringen“ regt der Philosoph und Schriftsteller Peter Sloterdijk „zu einer Wiederbeschreibung ,religiöser Tatsachen‘ in theopoetologischen Ausdrücken“ an. Sieht er doch „in ausnahmslos allen bekannten Versionen der religio ein Dichtungs-artiges, ursprüngliches unmittelbar poetisches Operieren der Anschauungs-, Einbildungs- und Formulierungskräfte am Werk“.
Eindringlich vergegenwärtigt Sloterdijk mit der biblischen Genesis und Platons Timaios zwei „Poesien des Lobs“, die das Gutsein des Seienden beschwören, umso mehr geißelt er mit Nietzsche die Exzesse religiöser Askese als „Poesien der Übertreibung“. Kenntnisreich zeigt er am mesopotamischen „Ludlul Bel Nemeqi“ und am Hiobbuch „Poesien des Duldens, ja, der Klage“ auf, die Bibel führt dabei die Theodizeeproblematik bis zur Infragestellung der Schöpfung.
Sloterdijk geht davon aus: „Menschen existieren als anthropoetische Wesen“ – der Vorgängerband „Nach Gott“ (2017) bezeichnete sie wegen ihres Sinns für Transzendenz als „die theopoetischen Tiere“. „Seit langem ist ihnen bewusst, dass es etwas an ihnen gibt, das über sie hinausgeht. Blaise Pascal resümiert die Erfahrung des Nach-oben-offen-Seins in dem Satz: ,Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen.‘“
Um die Stärken metaphysischer Sprachüberlieferung zu sehen, müsse der Wirkungsraum des Dichtens, Träumens, Halluzinierens und Rezitierens ernster genommen werden als bei herkömmlichen Unterscheidungen von Dichtung und Wahrheit üblich: „Der Mensch ist nicht nur das ,Tier mit Klassikern‘, wie Ortega y Gasset sagte, er ist ein Lebewesen, in dem ,es‘ zu reden anfängt. Irgendwann führte das Reden zu den Äußerungen, in denen der Himmel als Religion göttlicher Absender sich durch geeignete Vermittler an menschliche Adressaten wandte. Vielleicht sind solche Gespräche nicht mehr als Luftspiegelungen, die auftreten, wenn die Sprache feiert“. Statt sie als Fiktionen abzutun, würdigt Sloterdijk solche „Anthropotechnik“ – so der Leitbegriff seiner religionskritischen Studie „Du musst dein Leben ändern“ (2009) – als „Beihilfe zur Auslegung des Daseins (…) bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen“.
„Dass Religion und projektive Einbildungskraft zusammengehören, ist unter den Gebildeten der westlichen Zivilisation zur nahezu herrschenden Meinung geworden.“ Dabei präge die Wendung zum menschlichen Verfasser als Mitbedingung göttlicher Offenbarung den Bezug der Moderne zu heiligen Schriften wie ihre fortschreitende Subjektivierung. Dass Schleiermacher in seinen Reden „Über die Religion“ erklärt: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte“, versteht Sloterdijk als Durchbruch zur ersten Explikation des Prinzips der Theopoetik. Deren „andere Seite“ gewinne Kontur, sobald man sich vergegenwärtige: „Die massgeblichen Religionen sind de facto theopoetische Gebilde, deren starkes Merkmal darin besteht, alles zu unternehmen, um ihre Vergleichung mit Mythen, Kulten und Fiktionen anderer Kulturen aus dem Weg zu gehen“. Das belege Karl Barths Intervention, das Christentum sei nicht Religion, fuße vielmehr auf Gottes Offenbarung, ebenso wie die Orthopoesie des „Denzinger“, der sich als Hort unfehlbarer Rechtgläubigkeit ausgab. Gegen die mit der historisch-kritischen Bibelexegese weit vorgedrungene Theopoesie-Vermutung schärfte die Bibelkommission des Vatikans 1907 ein: Die in den Evangelien erzählten Tatsachen seien nicht erdichtet, sie gehörten vielmehr zur Kernoffenbarung!
Was bleibt von den historischen Religionen, nachdem der Himmel „seine Bedeutung als kosmisches Immunitätssysmbol verloren“ habe? Die Freisetzung der Religion von vormals bedeutsamen „Wir-Funktionen“ wie Kaiser-, Fürstenkult und Staatsüberhöhung lege „ihre Verwandtschaft mit zwei intimen Rivalen offen“, insofern jetzt sichtbar werde, dass bei der Deutung menschlicher Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit und Glücksbedürftigkeit zwei andere Kräfte mit ihr zugleich aktiv sind: Kunst und Philosophie. Christoph Gellner