Was Theologie und Kirche Eugen Drewermann verdankenDynamik der Kontingenzangst

Der „Fall Drewermann“ ist als Scheiterns-Geschichte in das Leidensgedächtnis der deutschen Kirche eingegangen. Es lohnt sich, aus der Distanz noch einmal einen Blick auf sein Erstlingswerk zu werfen und zu fragen, was es uns heute zu denken, auch weiter zu denken, aufgibt.

Eugen Drewermann und Walter Kasper in den Siebzigerjahren bei einer ZDF-Fernsehshow.
© KNA

Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat Eugen Drewermann einen von der Kirche verkannten Propheten unserer Zeit genannt und dabei auch auf sein vor vierzig Jahren erschienenes, dreibändiges Werk „Strukturen des Bösen“ hingewiesen. Damit machte Bischof Wilmer deutlich dass es ihm nicht nur – im Kontext der Missbrauchsskandale – um Drewermanns kirchen- und kleruskritische Äußerungen, sondern auch um seinen fundamentaltheologisch-bibelhermeneutischen Ansatz ging. Und da sollte man auf Wilmers Stimme hören; immerhin ist er promovierter Fundamentaltheologe.

Der „Fall Drewermann“ ist als Scheiterns-Geschichte in das Leidens-Gedächtnis der deutschen Kirche eingegangen. Er ist viel mehr noch eine Verlust-Geschichte, zu der nicht hinhörbereite, in mehrfacher Hinsicht überforderte Hierarchen einen wesentlichen Teil beitrugen. Ob auch andere zu einem besseren Ausgang hätten helfen können, darf dahingestellt bleiben. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Eugen Drewermann theologisch ins Gespräch zu ziehen. Aber der theologische und kirchliche Tagesbetrieb ist irgendwie über diesen Konflikt hinweggegangen. Und so haben alle Beteiligten daraus vielleicht zu wenig gelernt.

Es lohnt sich, aus der Zeit-Distanz noch einmal einen Blick auf Drewermanns Erstlingswerk zu werfen und zu fragen, was es uns heute zu denken, auch weiter zu denken aufgibt.

Ein Parcours durch drei Lesarten

Drewermanns Werk ist der Versuch, die biblische „Urgeschichte“ Gen 1 bis 11 – in ihrem Zentrum die „Sündenfallgeschichte“ Gen 3 – so zu lesen, dass man sich ihrem Wahrheitsanspruch stellt.

Seine Leitfragen: Wie kann wahrgenommen werden, dass diese Texte allgemeinmenschlich Gültiges in einer menschlich einleuchtenden Glaubensperspektive bezeugen? Wie kann dann auch eingesehen werden, dass der „Sündenfall“, vom dem Gen 3 spreche, in dem Sinne „notwendig“ ist, dass er unabwendbar zum Menschsein gehört und doch in die Verantwortung des Menschen fällt, dass er Sünde ist?

Der historisch-kritischen Exegese ist diese Fragerichtung eher fremd. Ihr geht es darum, durch Vertiefung in die historisch-literarischen Zusammenhänge genauer zu rekonstruieren, wie ein Text damals in politisch-religiös-existenzielle Selbstverständigungs-Versuche intervenieren und was er mit seiner Intervention bewirken wollte. Damals: in den Kontexten der Entstehung und vielfältiger Überarbeitungen, die ein Text bis zu seiner kanonischen Formung erlebt hat. Historisch-kritische Arbeit relativiert, um besser zu verstehen. Dass diese Arbeit an der Relativierung auch getan wird, damit Menschen von heute sich diesem Text innerlicher aussetzen und sich selbst durch ihn besser verstehen können, ist mitunter im Blick; so etwa bei Rudolf Bultmann. Aber es ist nicht die eigentliche Intention dieser Arbeit.

Die biblische Urgeschichte aber hat nach Drewermann selbst den Anspruch, die heillose Situation des Menschen ohne Gottvertrauen gültig darzustellen, und das heißt: ihr so auf den Grund zu gehen, dass einsichtig wird, wie es zu ihr kommt – kommen „muss“ – und wie sich im Glauben der Horizont zu ihrer Überwindung öffnet. Eine sorgfältige Exegese von Gen 3–11 zeigt nach Drewermann, dass das Sündigen der Menschen aus der Dynamik der Angst hervorgeht. Im Zweifel an Gottes gutem Schöpferwillen, den die Schlange schürt, werden die Menschen ihrer Endlichkeit gewahr: dass sie grundlos da sind, von Bedeutungslosigkeit bedroht, zufällig in einem Welt-Dasein, dessen sie nicht mächtig sind.

So werden sie in ihrem eigenen Abgrund von der abgründigen Angst heimgesucht, in ihrem Selbst-, Welt- und Gottverhältnis keinen Halt zu finden. Die Angst treibt sie an, sich selbst Halt zu sein und Bedeutung zu geben, werden zu wollen „wie Gott“, sich zuzutrauen und zu beweisen, was sie ihrem Schöpfer nicht mehr zutrauen. Das Heimgesucht-Werden von der eigenen Grundlosigkeit könnte im Glauben an den Gott eingeborgen sein, dessen Bild die Menschen sein dürfen, da er ihnen seine gute Schöpfung anvertraut. Der Zweifel daran, dass Gott ihnen wirklich gut will, verführt sie nun dazu, nur ihrem Eigen-Willen zu vertrauen, ihm und seiner Macht zuzutrauen, dass er den Sinn des eigenen Daseins hervorbringt.

Im Gespräch mit Psychoanalyse und Philosophie

Können, ja müssen sich die Menschen aller Zeiten in dieser „Urgeschichte“ des Menschseins wiedererkennen? Die Exegese deckt eine nachvollziehbare Geschehenskonsequenz in ihr auf: Es „musste“ so kommen, dass sich das Gottesmisstrauen in Menschen- und Selbstmisstrauen hinein ausbreitete und die gute Ordnung von Grund auf verdarb, die Gott seiner Schöpfung zugedacht hatte. Im Gespräch mit Psychoanalyse und Philosophie geht es Drewermann darum, diese Geschehenskonsequenz noch besser zu verstehen und zu begreifen, wie sich in ihr eine allgemeinmenschliche Dynamik des Sündigens manifestiert.

Die Psychoanalyse kann zeigen, dass die biblisch bezeugte Geschehenskonsequenz und die Bilder, in denen sie zum Ausdruck kommt, mit den „Stufen der psychischen Reifung des Individuums“ korrelieren (Strukturen des Bösen III, 567), die psychoanalytisch als Reifung des Begehrens und der Beziehungsfähigkeit verstanden werden.

In der biblischen Urgeschichte vollzieht sich offenkundig eine Fehlentwicklung, in der die Menschen nicht in die Stärken hineinfinden, die ihnen phasenspezifisch zuwachsen und die sie auf den Weg zur Selbstwerdung bringen könnten. Sie bilden Fehlformen der Selbstwerdung aus, die man in psychologisch-psychotherapeutischer Betrachtung als Neurosen ansieht. Die Psychoanalyse kann diese Fehlentwicklung nur als erlittene thematisieren: als Resultat unbewältigter traumatischer Erfahrungen und elementarer Frustrationen, sodass hier als Heilungsmöglichkeit nur eine therapeutisch begleitete „Bewältigung“ des Erlittenen und nicht adäquat Verarbeiteten in den Blick kommt.

Dass die Dynamik der Krankheit eine Innenseite hat, in der sie als falsches Selbst-, Menschen- und Gottesverhältnis in Sicht kommt und „frei“ gewählt, also elementar Sünde ist, spielt psychoanalytisch keine Rolle. Zwar lässt die Psychoanalyse mit ihrer Neurosenlehre besser verstehen, wie das Buch Genesis „seine Urgeschichte als jedermanns Geschichte erzählen kann“ (Strukturen des Bösen II, 551). Aber sie vollzieht diese Menschengeschichte nicht aus der Dynamik der Selbstwerdung oder Selbstverfehlung in Angst und Freiheit heraus nach, sondern als Dynamik des Begehrens unter dem Druck neurotisierender Beziehungserfahrungen.

Als Freiheitsgeschichte kommt die in der biblischen Urgeschichte dargestellte Geschehenskonsequenz in den Blick, wenn man prominente Deutungen neuzeitlicher Philosophie ins Gespräch zieht. Rekonstruktionen, die am Anfang der Bibel nur den Weg der Menschheitsentwicklung zur Ausbildung des Selbstbewusstseins nachgezeichnet sehen und die Sünde als notwendiges Heraustreten aus vor-selbstbewusster Geborgenheit in die „Besonderung“ und so als Selbstbehauptung – als Bewusstwerden des Eigen-Willens – verstehen, greifen nach Drewermann aber zu kurz.

So wird Sören Kierkegaard für ihn zum bevorzugten Gesprächspartner und Inspirator: Kierkegaard macht deutlich, dass die Besonderung zum Eigenwillen nicht nur (notwendiges) Durchgangsmoment des Selbstbewusstwerdens ist, sondern auch das Sich-Verlieren der Freiheit in ihrem eigenen Abgrund, im „Schwindel der Freiheit“, in der die Freiheit ihrer eigenen Grundlosigkeit innewird. Versucht menschliche Freiheit sich selbst zu ergreifen, scheitert sie notorisch an der Unmöglichkeit, ihre konkrete Bedingtheit (Endlichkeit) mit der Unendlichkeit zusammenzuhalten und zu versöhnen, die sich ihr öffnet, da ihr alles als möglich gelten muss. Aus sich selbst kann sie nicht über die Beliebigkeit des „alles Möglichen“ hinwegkommen und sich in einen Grund eingründen, in dem sie über ihre eigene Beliebigkeit hinwegkäme und in Freiheit „notwendig“ wäre.

So versucht sie, auf endliche Weise notwendig zu werden: durch quasi-göttliche Beherrschung des Zufälligen der Angst vor der eigenen Zufälligkeit und Bedeutungslosigkeit Herr zu werden. Der Mensch, der – aus Kontingenz-Angst – sein Heil im Wie-Gott-sein-Wollen sucht, sündigt. Er sündigt mit der Notwendigkeit einer Verlaufskonsequenz, zu der es im Selbstvollzug menschlicher Freiheit keine Alternative zu geben scheint.

Mit Kierkegaard und über seine Daseins-philosophische Rekonstruktion hinaus sieht Drewermann diese Alternative im Glauben zugänglich: in jenem Gottvertrauen, in dem die Glaubenden ihre Grundlosigkeit in Gottes liebender Erwählung gegründet und ihr sündig-verfehltes Dasein von ihm getragen wissen, da er die Sünder Grund-los annimmt. Dem gerechtfertigten Sünder wird es möglich, sich aus dem „Ghetto der Angst“ befreien zu lassen, in dem er selbst leisten wollte, was ihm nur geschenkt werden kann: die Rechtfertigung seines Daseins.

Vom Jesus Christus der Evangelien darf nun gesagt werden, dass er den Christen zum „Hineinführer“ (archegos; vgl. Apg 3,15; 5,30f.) in dieses Vertrauen auf den göttlichen Vater geworden ist. Wer sich von ihm ins Gottvertrauen mitnehmen lässt, dem wachsen aus den Bildern der Fülle und des heilen Menschseins, die der Schöpfer in die Seele der Menschen hineingelegt hat, die Kräfte der Inspiration zu, im Feld des Vertrauens angstfrei zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zur Schöpfung insgesamt, zu Gott im rechten Verhältnis zu leben. Diese „Bilder der Erlösung“ werden im Ghetto der Angst mythologisch monströs verzerrt. Sie gewinnen ihre heilende Kraft, wenn sie – wie es der Messias-Therapeut Jesus Christus ermöglicht – im Vertrauen auf den Schöpfer als seine Lebens-Mitgift begangen werden.

Ein imponierend geschlossenes, inspirierendes Konzept

Drewermann nimmt den Wahrheitsanspruch der biblischen Urgeschichte dahingehend ernst, dass er beim kritischen Durchgang durch alternative Auslegungen in ihr eine anthropologisch und schließlich auch theologisch schlüssige Genealogie des Sündigens erkennt. Diese ermöglicht es, theologisch wie anthropologisch überzeugend und im Blick auf die vertrauensstiftende Reich-Gottes-Praxis Jesu vom Heilwerden des Menschen zu sprechen. Kann man systematisch-theologisch mehr erreichen? Es ist in den „Strukturen des Bösen“ eine Möglichkeit erschlossen, so von der Freiheit und der Notwendigkeit des Sündigens zu sprechen, dass nachvollziehbar wird, weshalb christliche Soteriologie von der Allgemeinheit der Erlösungsbedürftigkeit – der Ursünde – ausgehen und von Erlösung durch Jesus Christus sprechen kann: davon, dass er die Menschen in ein Gott-Vertrauen zieht, in der die Dynamik der Kontingenz-Angst, wie sie im Bewusstwerden der Freiheit bestimmend wird, von ihrem Grund her überwunden ist, sodass die der Seelen-Tiefe eingestifteten Bilder des Heilwerdens ihre heilende Kraft entfalten können.

An Eugen Drewermanns Konzept ist vielfach die kritische Anfrage gerichtet worden, ob es das christliche Verständnis einer Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wirklich erreicht. Ich will diese Frage hier auf sich beruhen lassen und stattdessen zur Diskussion stellen, was es mit der imponierenden Schlüssigkeit dieses Entwurfs auf sich hat.

Zunächst frage ich: Ist sie tatsächlich so alternativlos, wie Drewermann offenkundig unterstellt? In der theologischen Diskussion erhebt mindestens ein weiteres Konzept – das der an René Girard angelehnten Innsbrucker „Dramatischen Theologie“ – einen vergleichbaren Anspruch auf Allein-Ableitung des Sündigens aus dem „Wesen“ des Menschseins. Beide Konzepte haben sich – bis jetzt – wenig zu sagen. Ist das nur ein diskurspolitischer Zufall? Oder zeigt sich hier, dass die behauptete Schlüssigkeit und die damit geltend gemachte theologische Notwendigkeit, es so zu denken, auch so etwas wie Selbstimmunisierung sein kann? Mit der Schlüssigkeit der eigenen Ableitung wird jeweils einschlussweise die Behauptung verbunden, genau so, wie abgeleitet, müsse sich die Sache auch verhalten. Die Schlüssigkeit der Theorie soll gewissermaßen den Durchgriff auf die Sache selbst ermöglichen, auf das Wesen der menschlichen Freiheit, des Sündigens, der Rivalität und so fort. So arbeitet man sich an der Schlüssigkeit des eigenen Konzepts ab, um theologisch alternativlos zu werden – und bleibt einem Theologie-Stil verhaftet, der mit dem Anspruch verbunden ist, das Wesen der Dinge und Zusammenhänge alleingültig zu erfassen. Man ist nicht damit zufrieden, eine fruchtbare, theologisch ergiebige Beschreibung und Durchdringung relevanter Zusammenhänge zu bieten, sondern hat das Argumentationsziel, auszuschließen, dass es auch anders sein und deshalb höchst sinnvoll auch anders theologisch beschrieben werden könnte. Damit lädt man sich eine Argumentationslast auf, die kaum zu bewältigen ist und die Ansprüche an die Schlüssigkeit der Ableitung ins Ungemessene steigert.

Man darf also fragen: Ist die bei Kierkegaard gewonnene, markant neuzeitliche Ableitung des Sündigens aus dem Schwindel der Freiheit, in der das Selbst gewonnen werden sollte und verloren wird, da es sich in seiner Kontingenz-Angst dem Eingeborgensein ins Gottvertrauen nicht öffnet, eine alternativlose Genealogie menschlichen Selbstbewusstwerdens in Freiheit und seines Scheiterns? Man kann behaupten, hier das „Wesen der Freiheit“ im Blick zu haben und es auch deshalb theologisch so sagen zu müssen, weil ansonsten keine Möglichkeit bestehe, die Allgemeinheit des Sündigens schlüssig abzuleiten. Aber muss man sie denn ableiten? Kann man sie mit Paulus nicht einfach als gegeben hinnehmen – und sich dann die Frage stellen, in welchem Sinne Paulus auf sie rekurriert und die kirchliche Erbsündenlehre sie voraussetzt?

Nein, so Drewermann, man muss im Glauben möglichst genau und alternativlos wissen, wie und warum die Dinge genau so sind – und nicht nur möglichst belangvoll und dicht, also auch im Kontext anthropologischer Forschungen vermittelbar beschreiben können, wie sich theologische Argumente auf elementare Phänomene menschlichen Selbst-Werdens beziehen lassen. Muss man? Dieses Müssen führt in Theorien, die die Vielfalt von Phänomenen aus einer Genealogie heraus entfalten wollen, für die viel spricht, die aber die Vielfalt der Phänomene reduzieren, wenn sie sich als die allein mögliche Ableitung verstehen.

Plädoyer für theologische Theorien mittlerer Reichweite

Statt mit Ableitungsanspruch auf die Wesens-Behauptung vom notwendigen Schwindel der Freiheit und die daraus resultierende Geschehenskonsequenz zu rekurrieren, könnte man, um nur diese theologische Alternative anzudeuten, auf die evolutionäre Genealogie menschlicher Freiheit schauen, in der die Fähigkeit, Perspektiven der Anderen einzunehmen, immer deutlicher und umfassender zur Herausforderung der Freiheit wird und deren Ambivalenz zur Erfahrung bringt. In welchem Sinne geht es mir vorrangig um mich, kann, sollte, muss es aber darum gehen, wie ich mich auf die Perspektiven Anderer einlasse, mich selbst „relativiere“?

In dieses existenziell-kommunikative Herausgefordertsein spielt gewiss die Angst herein, mich zu verlieren und bedeutungslos zu werden. Aber es spielen noch andere Kräfte eine Rolle; die Dynamik des Begehrens, die Ambivalenz der Einfühlung, die sich in ihr entfaltet, oder – in der Beschreibung von Hartmut Rosa – die Polarität des Strebens nach Weltbemächtigung und resonanten Beziehungen; schließlich und vielleicht umfassend die Spannung zwischen Selbstbehauptung und der Sehnsucht nach Selbsthingabe in erfüllenden Beziehungen, in der sich das menschliche Selbst immer wieder neu kommunikativ stabilisieren muss und daran regelmäßig scheitert. Menschsein bedeutet, herausgefordert zu sein, solche Spannungen und Ambivalenzen zu ertragen, sie kreativ auszutragen, ohne sie durch die Einsicht in ihre „Genealogie“ je endgültig durchschauen und bewältigen zu können. Immer wieder neu und anders sind die Menschen herausgefordert, über ihr schuld- oder schicksalhaftes Scheitern hinauszukommen und sich dabei auf den Weg zu heilem Menschsein zu machen – oder sich auf ihm mitnehmen zu lassen, christlich: von Gott selbst, der uns in Jesus Christus und durch seinen Geist auf seinem Weg mit den Menschen mitnehmen will.

Eugen Drewermann neigt zu Letztbegründungen, in denen sich die Situation des Menschen linear aus dem Ursprung des Sündigens herleiten lässt: dem abgründigen Schwindel der Freiheit, in dem der Mensch nicht zum Gottvertrauen findet oder es verliert. Solche Letztbegründungen behaupten zu viel und werden der Breite menschlicher Selbsterfahrung nur unzureichend gerecht. So plädiere ich für theologische Theorien mittlerer Reichweite. In ihnen will man nicht die Sache selbst alternativlos zutreffend sagen, sondern im Gespräch mit biblischen Texten und gegenwärtigem Selbst-, Welt- und Gottverstehen möglichst dichte und überzeugende Beschreibungen relevanter Phänomene gewinnen, die helfen, biblisch-christliche Glaubensüberzeugungen auf menschliche Erfahrungen zu beziehen, mit ihnen zu vernetzen. Und dabei steht nicht immer schon fest, welche Bedeutung die Glaubensüberzeugungen der Christen hier gewinnen werden.

Kann man, muss man nicht doch all das aus der Dynamik der Kontingenzangst in der Genealogie der Freiheit ableiten? Man kann, vielleicht. Aber man muss auch theologisch den Reichtum der Phänomene nicht einem Deutungsmonopol unterwerfen. Und man sollte sich auch bei der hermeneutisch-exegetischen Bemühung um die Texte, deren Wahrheitsanspruch man doch zur Geltung bringen wollte, nicht zu schnell auf die einzig zutreffende Deutung festlegen. Der Reichtum des Theorien-Pluralismus ist auch in der Theologie segensreich, weil er weiterbringen kann, offensichtlich dabei hilft, die Conditio humana, die Glaubensgeschichte und den Glauben selbst, der darin Gottes Berufung erkennt, immer besser zu verstehen.

Immer besser, nicht ohne Rückschläge und Irrwege. Die biblische Exegese führt das vor und lässt einen dabei mitunter recht verunsichert zurück. Auch in der Auslegung der biblischen Urgeschichte hat sie zu Einsichten geführt, die Drewermann noch nicht kannte, aber seine Sicht der Texte nicht unberührt lassen. Das aber wäre die Herausforderung: unterwegs sein mit einer Theologie des Komparativs, gespannt darauf, was sich beim Weiterfragen auf den Wegen zu einem besseren Selbst-, Welt- und Gottverstehen, zu einer genaueren Textauslegung, an neuen Perspektiven auftun wird. Die Mühsal und die Verheißung des Unterwegs-Seins wird man theologisch immer noch vor sich haben; so wird man auch als Glaubender auf den Wegen des Selbstwerdens in Freiheit Angst und Unsicherheit nie einfach hinter sich haben. Magistral die Dinge als sie selbst sagen, sie theoretisch zu Ende bringen und sich der Mühsal des Komparativs entziehen zu wollen, das führt auf die Dauer nicht weiter, so fruchtbar die Entwürfe auch sein mögen.

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