Eugen Drewermanns „Kleriker“ wiedergelesenProphet von gestern

Als 1989 Drewermanns „Kleriker“ erschien, hätte man erkennen können: Die Priester, die zu Tätern wurden, waren gleichzeitig Opfer eines repressiven Systems. Die Chance blieb ungenutzt. Doch das alternative Kleriker-Ideal des Autors – der Priester als Mystiker, Therapeut und Schamane – taugt auch nicht als realistisches Zukunftsbild.

Eugen Drewermann schaut in die Kamera.
© KNA

Ist Eugen Drewermann der katholische Michel Houellebecq? Der französische Autor wurde erst jüngst wieder als Prophet gefeiert, der in seinen Romanen gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen beschreibt, kurz bevor sie tatsächlich eintreten. Ist diese prophetische Gabe auch für Eugen Drewermann und sein 1989 veröffentlichtes Werk „Kleriker. Psychogramm eines Ideals“ angesichts der Entwicklungen in der katholischen Kirche der vergangenen Jahrzehnte zu konstatieren, wie der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer meint?

Der folgende Beitrag versteht sich tatsächlich weniger als kritische Würdigung (die „Kleriker“ zweifelsohne verdiente) denn als Relecture unter der Perspektive des Jahres 2019. Dazu gehört zunächst einmal eine (kirchen-)historische Kontextualisierung des Buches in den späten Achtzigerjahren. Aus diesen lassen sich die zentralen Aussagen Eugen Drewermanns zum Klerikerstand nicht nur besser verstehen, sondern auch für den Fokus dieses Essays darstellen: Was von den Analysen von damals hat heute noch Gültigkeit? Welche Entwicklungen hätte man aufgrund der Lektüre voraussehen oder gar verhindern können? Was von dem, was heute die katholische Kirche beschäftigt, ist der Ignoranz gegenüber frühen Mahnern wie Drewermann geschuldet? Und hat es Sinn, in der aktuellen Debatte „Kleriker“ erneut zur Hand zu nehmen?

Zunächst ist festzuhalten, dass Drewermann wie jeder gute Prophet (und wie Houellebecq) eben keine Vorhersagen für eine ferne Zukunft liefert, sondern seine Gegenwart und deren Missstände als Ergebnis struktureller Fehlentwicklungen in der jüngeren Vergangenheit analysiert.

Anders als der französische Skandalautor und weit näher an den biblischen Propheten warnt Drewermann vor den Folgen dieser Fehler und weist Wege der Besserung. Freilich sind es die Missstände, Folgen und Wege des Jahres 1989. Die katholische Kirche hat bereits elf Jahre des Pontifikats Johannes Pauls II. hinter sich. Das Narrativ dieses Papstes ist, Sieger der Geschichte in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu werden. Dieser heilige Zweck rechtfertigt für viele in der Kirchenleitung fast alle Mittel zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung – und der Erfolg scheint diesem Zugang gerade 1989 recht zu geben.

Wenn Eugen Drewermann die innere kirchliche Ordnung als erstarrt, versteinert, menschenverachtend und bürokratisch bloßstellt, ist es für viele Würdenträger in der katholischen Kirche noch Kritik an einem Erfolgsprojekt. Ironischerweise wird diese Sichtweise aus der heutigen Perspektive sogar ein wenig verständlich, liest man etwa Drewermanns Beschreibung der zahllosen Kleriker, die aufgrund der allzu frühen Festlegung auf ein priesterliches Leben bleibende Schäden davongetragen hätten.

Diese Zurichtung damals im zarten Alter in Knaben- und Priesterseminaren trifft wohl zumindest in unseren Breiten nur mehr auf die Generation 50 plus zu. „Kleriker“ ist an einem neuralgischen Punkt in der jüngeren Geschichte des Priestertums im deutschsprachigen Raum entstanden: Die starken Geburten- und Weihejahrgänge waren noch im Dienst, allerdings schon lange genug, um unter ihren Defiziten zu leiden und vor allem um angesichts der nicht erfüllten Hoffnungen auf Änderungen infolge des Zweiten Vatikanums frustriert zu sein. Sie liegen 1989 auf der literarischen Couch von Drewermann. Und nicht nur sie: Ganz im Sinne seines psychoanalytischen Zugangs sind die biologische wie die ideologische Familie zentraler Teil der Analyse und damit letztlich die katholische Gesellschaft Deutschlands der Achtzigerjahre.

Auch sie ist mittlerweile historisch: die guten katholischen Familien vom Land, die Priestermütter, die engagierten Katholiken, die mit der kirchlichen Sexualmoral ringen – sie alle sind heute bis auf einige Restexemplare ausgestorben, ausgetreten oder alt geworden. Drewermann hält in seinem Buch vielleicht den allerletzten Moment dieser gestrigen klerikalen Welt fest. Und so mancher Bischof heute liest die Schilderung von den vielen Alumnen und ihren Problemen wohl mit leiser Nostalgie. Angebracht ist diese nicht. Im Gegenteil: Die klerikale Welt Drewermanns mag von gestern sein, ihre Auswirkungen prägen die Gegenwart und das Bild der Kirche heute.

Hätte man es wissen können?

1989 haben zweifelsohne viele Bischöfe und andere Verantwortliche in Leitungspositionen „Kleriker“ gelesen. Hätten sie danach wissen können, was auf sie und die katholische Kirche in den folgenden Jahrzehnten zukommen wird? Wären die vielen Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen durch Kleriker damals schon ersichtlich oder gar manche noch zu verhindern gewesen? Die Antwort ist eindeutig: Ja. Man hätte es wissen können. Man hat es gewusst. Das System, das diesem Wissen kein Handeln hat folgen lassen, sondern ein Verschweigen und Verdrängen, ist genau jenes System des „autoritären Zentralismus“, das Drewermann so präzise wie ausführlich beschreibt. Und es ist jene bewusste ge- beziehungsweise verformte psychische Disposition der „erzwungenen Unreife“ gepaart mit Abhängigkeit und „autoritärer Einschüchterung“, die Priester und Mönche dazu gebracht hat, sich an Kindern und Jugendlichen zu vergreifen.

Opfer eines repressiven Systems

Die detaillierte Analyse des falschen Priesterideals bietet ein schonungsloses Panoptikum einer extrem normierten und normierenden Institution Kirche, die Priester als ihre zentralen Repräsentanten zu Opfern wie Tätern eines repressiven Systems macht, das weit über Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ hinausgeht, da es sich immer auf ein zutiefst innerstes Ideal als Ursprung und Ziel der Repression beruft. Allein die Überschriften in dem Kapitel „Das symbolische Leben“, die allesamt auf „festgelegte“ Aspekte des Lebens abzielen, machen den Anspruch totaler Ordnung als Grundprinzip priesterlicher Existenz geradezu visuell sichtbar. Nicht nur im Erscheinungsjahr gültig ist die Beschreibung der „Funktionalisierung“ der evangelischen Räte.

Drewermanns „Kleriker“ wurde vor allem auf einer individualpsychologischen Ebene rezipiert, Priester begannen ihre Vergangenheit und ihre Rolle zu hinterfragen, nicht wenige mit tiefgreifenden persönlichen Konsequenzen. Dies mag auch ein wenig dem Duktus des Buches als Psychotherapie mit fast persönlicher Anrede geschuldet sein. Interessanterweise greift diese Fokussierung auf die individuelle Ebene bis heute, wenn es darum geht, die Missbrauchsfälle und Missstände zu erklären: Es waren einzelne Individuen, manche davon wohl mit psychischen Problemen – so hört man regelmäßig bei offiziellen Stellungnahmen kirchlicher Instanzen. Drewermann formuliert indes schon damals: „(…) dass der einzelne Priester, die einzelne Ordensschwester die erheblichen psychischen Probleme ihres Standes nicht länger nur als eine Art Privatverschulden zu betrachten lernt, sondern dass der Kirche als einem Gesamtsystem von Institutionen und Ordnungsvorstellungen ihr eigner Schatten, ihr kollektives Unbewusstes, verdeutlicht und zum Durcharbeiten aufgegeben wird“ (29).

„Kleriker“ hätte bereits 1989 das Potenzial gehabt, sich mit den Strukturen auseinanderzusetzen, die Priester zu Tätern werden lassen. Heute noch haben die diesbezüglichen Analysen das Potenzial, den kirchlichen Umgang mit Fehlverhalten in den eigenen Reihen verstehbar zu machen und durch Selbsterkenntnis zu korrigieren.

Der Priester als katholische Obsession

„Kleriker“ ist mehr als bloße Analyse der psychischen Situation von Priestern und Ordensleuten im Universum Kirche. Es ist wesentlich auch die Frage nach dem wahren Ideal des Priesters. Genau genommen zeichnet Drewermann zunächst sehr ausführlich das Psychogramm eines verzerrten, entstellten Ideals des Klerikers seiner Gegenwart, dem er dann im dritten und letzten Teil ein wiederzugewinnendes Ideal entgegenstellt, das nachgerade utopische Züge trägt und den Priester zu einem religionspsychologischen Archetyp stilisiert.

Mit diesen „Therapievorschlägen“ outete sich Drewermann zumindest 1989 letztlich als jemand, der sich dem Christentum wie dem Priestertum als außergewöhnlicher Lebensform noch genug verpflichtet weiß, um beides durch tiefgehende Neudeutung retten zu wollen.

Auch hier antizipiert Drewermann einen Diskurs, der heute unter den Stichworten Klerikalismus einerseits und priesterliche Existenz beziehungsweise allgemeines Priestertum andererseits geführt wird. Die Diagnose, dass individuelle spirituelle Berufung und strukturelle Macht in einer Weise vermengt werden, welche die betroffenen Kleriker deformiert und zu einer Form von überheblicher Amtsautorität führt, die selbst von wohlmeinenden Katholiken nicht mehr ernst genommen wird, trifft heute mehr denn je zu. Der Therapievorschlag Drewermanns lässt jedoch vor allem eines deutlich werden: Die Besonderheit des Priesters ist Teil der katholischen DNA.

Das Drewermann’sche Ideal des Priesters ist ein absolutes Elitenprogramm, das den Kleriker zum neuen spirituellen Übermenschen macht: Sein Priester ist ein dichterischer Schamane, dem „Geld, Macht und Anerkennung so gut wie nichts bedeuten“, der „eine gelebte Mystik der Natur“ ebenso wie den einfühlsamen Therapeuten verkörpert, der „zwischen den Gegensätzen“ vermittelt und „eine Ursprungseinheit von Religiosität, Poesie und Therapie“ wiedergefunden hat.

Abgesehen davon, dass Drewermann hier einem esoterischen Konstrukt von Schamanismus auf den Leim geht, das ethnologisch jedweder Grundlage entbehrt – das Anforderungsprofil an den „neuen Priester“ ist zumindest ebenso unerfüllbar wie das alte und ein Scheitern an den Mühen der alltäglichen Ebenen damit vorprogrammiert. Diese Utopie eines Ideals, wie sie der letzte Teil von „Kleriker“ zeichnet, kann für den gegenwärtigen Diskurs als Problemanzeige und Mahnung zur Selbsterkenntnis aber dennoch hilfreich sein.

Die Deutung des geweihten Klerikers als Ideal ist eine katholische Obsession. Ihr können (und wollen) sich weder selbst ernannte Traditionalisten noch progressive Theologen und Theologinnen entziehen. Drewermann legte 1989 Priester und Ordensleute auf seine Couch. Heute ist der Klerikalismus eine Problemanzeige, die aufgrund der geänderten statistischen Verhältnisse vor allem die Laien in der Kirche tangiert und belastet. Die therapeutische Frage für diese Klientel heute könnte lauten: Wollen wir wirklich das tradierte Ideal des Klerikers als überholt abschaffen oder es letztlich insgeheim aus einer uneingestandenen Faszination heraus so weit demokratisieren, dass es allen zugänglich ist?

Bei aller prophetischen Weitsicht – oder auch nur luziden Einsicht in kirchliche Strukturen und Psychologien – stellen sich im gegenwärtigen Diskurs auch Fragen, die Drewermann nicht voraussehen konnte und deren Beantwortung auf der Basis einer Relecture dennoch interessant wären.

Fragen, die sich nicht mit Drewermann beantworten lassen

Die vielleicht auffälligste ist die stark veränderte Zusammensetzung der Priesterschaft deutschsprachiger Diözesen gegenüber den Achtzigerjahren. „Kleriker“ konnte auch deshalb als Psychoanalyse des Klerikers im Großen wie im Kleinen funktionieren, weil die Priester, die Drewermann auf die Couch legte, eine sehr homogene Gesellschaft waren. Seine Aussagen über einen trafen für fast alle zu: In Deutschland oder Österreich im oft ländlichen, katholischen Milieu geboren, in kirchlichen Instituten sozialisiert, in noch starken gemeinschaftlichen Strukturen organisiert, laborierten sie oft an denselben Problemen. Diese Priester sind heute wie Drewermann selbst längst im Pensionsalter.

Kleriker heute sind vor allem zweierlei: sehr wenige und in ihrer biografischen und kulturellen Herkunft sehr heterogen. Nur mehr eine geringe Anzahl tritt direkt nach dem Gymnasium in ein Priesterseminar ein, so mancher ist bereits in der Mitte des Lebens angekommen, andere haben kein Abitur, dafür mehrjährige Berufserfahrungen in verschiedensten Kontexten, so mancher bringt gescheiterte Beziehungen in seinem psychischen Gepäck mit. Nicht minder verschieden sind auch die „Berufungen“. Gerade die Feststellung Drewermanns, diese würde im eigentlichen Sinn fehlen und durch langjährige und frühe Festlegung in kirchlichen Erziehungsinstitutionen von außen auferlegt, stimmt heute in unseren Breiten nicht mehr, ja hat sich in das Gegenteil verkehrt: Die höchst individuellen und mitunter hochgradig emotional aufgeladenen Berufungserfahrungen machen jeden verallgemeinernden und vergemeinschaftenden Plural schwierig und maßgeschneiderte Begleitung notwendig.

Aus Drewermanns „Kleriker“ lässt sich ablesen, warum die Kirchenleitung auf diese Entwicklung nicht vorbereitet ist. Wie mit ihr umzugehen sei oder welche psychologischen Problemzonen sich ergeben, wenn man mit mystischen Schamanen, intellektuell überforderten Weltflüchtlingen und smarten Beinahe-Lefebvristen konfrontiert ist, lässt sich aus „Kleriker“ kaum erahnen. Und das sind nur die indigenen deutschsprachigen Priester und Alumnen. Vietnamesen, Koreaner, Afrikaner, Inder, ja bereits Polen und Kroaten sind anders sozialisiert, haben kirchliche Strukturen und Institutionen in einem anderen soziokulturellen Kontext erlebt, vielen von ihnen, so sie von außerhalb Europas kommen, sind die uns selbstverständlichen jahrhundertealten Traditionen des katholischen Priestertums inklusive ihrer Probleme fremd. Dass sie in den aktuellen Diskursen über Kleriker und Klerikalismus kaum oder nur als Projektionsfläche fehlgeleiteter Führungsentscheidungen vorkommen, wäre durchaus einer tiefgehenden Analyse wert.

Für manche Bischöfe und Ordensobere war Eugen Drewermann 1989 sicher der katholische Houellebecq: jemand, der Skandalöses schreibt, das ungeschrieben bleiben sollte, um den Schein schöner Normalität zu wahren. 30 Jahre später wünschte man sich, „Kleriker“ wäre noch mehr „Skandalbuch“ gewesen, hätte noch deutlicher auf die Abgründe von unterdrückter Sexualität und Machtmissbrauch unter dem Deckmantel priesterlicher Existenz hingewiesen. Die unerträgliche Schonungslosigkeit deformierten Begehrens und sinnentleerter, angstgetriebener Existenz, wie sie die fiktionalen Figuren Houellebecqs auszeichnet, ist heute dokumentarische Prosa zahlreicher Berichte über jene Kleriker und ihre Vergehen, die Drewermann einst als Patienten beschrieb.

Der Befund seiner Analyse hat sich bestätigt, das Prophezeite ist schlimmer eingetroffen als vielleicht von ihm selbst imaginiert. Eugen Drewermann war dann aber doch nicht Michel Houellebecq. Er beließ es nicht mit der tabulosen Darstellung des Erwartbaren, sondern lieferte auch seine Vision des wiederzugewinnenden Ideals als Gegenentwurf mit. Und hier hätte er durchaus vom französischen Autor lernen können: Rückgriffe auf eine imaginäre ideale Vergangenheit sind Chimären, egal ob auf den französischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts, dessen sich interessanterweise Drewermann wie Houellebecq bedienen, oder auf ein ahistorisches religionsethnologisches Utopia. Die wirkliche Problemanzeige ist, ein realistisches Zukunftsbild des Klerikers zu entwickeln im Bewusstsein um die eigene Befangenheit in alten Sehnsüchten nach dem Ideal.

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