Ethische Probleme im Umgang mit dem menschlichen EmbryoNorm und Einzelfall

Eine an Prinzipien orientierte Ethik entbindet nicht von einer Abwägung der Argumente in einer konkreten Situation. Die logische Überzeugungskraft einer Norm allein garantiert noch nicht den guten Ausgang einer Handlungsentscheidung; entschieden wird immer nur in lebensweltlichen Kontexten. Das zeigt sich gerade beim Umgang mit dem menschlichen Embryo.

Die ethische Diskussion ist in der Frage, was Sittlichkeit im Handeln im Blick auf den Umgang mit menschlichen Embryonen bedeuten soll, in Deutschland von Widersprüchen gekennzeichnet, die in der bestehenden Gesetzeslage ebenso wie in dem nicht zu übersehenden Missverhältnis zwischen öffentlichen politischen Bekundungen auf der einen und Praxiswirklichkeit auf der anderen Seite deutlich werden. Dabei ist die rechtliche Situation von einem relativ liberalen Schwangerschaftsabbruchgesetz (§ 218, StGB) geprägt, in dem die Strafandrohung durch Ausnahmeregelungen (Indikationen) so weit eingeschränkt ist, dass, wer sich zum Schwangerschaftsabbruch entschließt, diesen, sofern bestimmte Bedingungen eingehalten werden (§ 218a, Abs.1), auch straflos erreicht, bei medizinischer Indikation selbst in der Endphase der Schwangerschaft.

Dem steht ein Embryonenschutzgesetz (ESchG) gegenüber, das den Embryo vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an (§ 8, Abs.1 ESchG) wie einen geborenen Menschen unter Schutzrechte stellt und die extrakorporale Erzeugung von Embryonen nur zum Zweck der Fortpflanzung des Paares, von dem die Geschlechtszellen stammen, erlaubt (§ 1, Abs.2 ESchG). Folglich sind auch Leihmutterschaft sowie die Herstellung und Verwendung menschlicher Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen zu Forschungszwecken und in therapeutischer Absicht illegal.

Betrachtet man den in Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre im Blick auf Fortpflanzungsmedizin und Embryonenschutz geführten ethischen Diskurs, so ist nicht zu übersehen, wie weit die einst vom Bundesverfassungsgericht geforderten moralischen Grundsätze in der Spannung zwischen medizintechnischen Möglichkeiten, Bedürfnissen und Handlungsoptionen betroffener Menschen, gesetzgebendem Regelungsbedarf und wirtschaftlichen Interessen immer mehr aufgegeben wurden. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die ethische Diskussion nahezu unverändert von zwei Argumentationen bestimmt ist, die in der Öffentlichkeit als Widerspruch wahrgenommen werden: einerseits eine auf Prinzipien sich berufende Ethik, in der die Begriffe Leben, Person und Menschenwürde den strikt anzuwendenden normativen Maßstab bilden, und andererseits ein Legitimationsversuch, für den der Anspruch der Gewissensfreiheit als Voraussetzung selbstverantworteten Handelns entscheidend ist.

Zwei nicht vermittelbare Argumentationen

Dabei wurde die prinzipienethisch geforderte Unantastbarkeit menschlichen Lebens, beginnend mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, nicht nur von der katholischen Kirche, sondern auch durch das Bundesverfassungsgericht vertreten. Dieses bestimmte in seinen Urteilen zum Schwangerschaftsabbruchgesetz (1975/1993) das menschliche Leben, in das der Embryo vom Anfang seiner Entwicklung an eingeschlossen ist, als „vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“. Der Begriff Leben wurde als „Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung“ bezeichnet, dem ein nicht zu überbietender normativer Anspruch in der Frage nach der ethischen Bewertung des Umgangs mit Embryonen zukomme (BVG-Urteile 39 [1975], Nr. 1, 2/42).

Demnach dürfe der für den Embryo zu fordernde Lebensschutz weder in einer bestimmten Frist noch durch das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau in Frage gestellt werden, auch wenn diese ihren Entschluss zum Schwangerschaftsabbruchgesetz für vereinbar mit ihrem Gewissen erklärt und sich dabei auf die Gewissensfreiheit als Grundrecht (Art.4 Abs.1, GG) beruft (BVG-Urteile 39 [1975], Nr. 1, 1/31/36–37/42– 43; auch BVG-Urteile 88 [1993], Nr. 21, 252). Ein Abwägen von Gewissensgründen als Modus der Entscheidungsfindung sei somit abzulehnen, da zwischen Mutter und entstehendem Kind weder hinsichtlich der Ausgangssituation noch der Auswirkungen Gleichheit bestehe.

Dieser Argumentation steht eine zweite gegenüber, die sich im Bereich lebensweltlicher Bedingungen von Zwecken und Interessen leiten lässt, die nicht auf Letztbegründung zielt, aber Orientierung ermöglicht in einem Konzept der Interessenabwägung, in dem Gewissensfreiheit als unabdingbare Voraussetzung selbstverantwortlicher Entscheidung gesehen wird. Das Gewissen eines jeden Menschen sei demnach letztentscheidend und Freiheit die notwendige Voraussetzung ethisch gerechtfertigten Handelns. Daraus folge die Forderung, rechtliche Regelungen so zu gestalten, dass angesichts der Besonderheit jeder Lebenssituation die Möglichkeit der Beratung mit dem Ziel selbstverantworteter Situationsbewältigung ohne Angst vor Nötigung und Strafe in Anspruch genommen werden kann.

Damit wird der in jeder „Embryonendebatte“ erneut aufbrechende ethische Grundkonflikt deutlich, in dem sich bislang ohne Aussicht auf Vermittlung zwei ethische Positionen gegenüberstehen, eine auf Prinzipien („Werte“) rekurrierende Ethik sowie ein Rechtfertigungsversuch mit dem besonderen Anspruch der Gewissensfreiheit. Aus Sicht der Prinzipienethik wird dabei kritisiert, dass die in Gewissensentscheidungen für maßgeblich gehaltenen Kriterien eher persönliche, aus der Lebenssituation hervorgehende Zwecke und Interessen seien, die den Anspruch, ethisch begründend zu sein, nicht erheben können.

Demgegenüber wird von denen, die eine strikte Anwendung letztgültiger Entscheidungsnormen mit Blick auf die Vielfalt der Lebenssituationen hinterfragen, die Relativierung von Gewissensgründen als Entmündigung empfunden. Sie verstehen den Versuch, die Frage, was Sittlichkeit im Handeln ist, ausschließlich auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien mit dem Anspruch situationsunabhängiger Gültigkeit entscheiden zu wollen, als eine das Selbstbestimmungsrecht des Menschen bestreitende Anmaßung.

Damit stellt sich das Problem der Vermittlung beziehungsweise die Frage, ob die beiden ethischen Argumentationen tatsächlich unvereinbar sind. Ich halte dieses Vermittlungsproblem für grundsätzlich: Es handelt sich um zwei ständig anzutreffende Argumentationsmuster, deren Verhältnis nicht nur in der ethischen Diskussion des Schwangerschaftsabbruchgesetzes, sondern auch auf dem weiteren Feld reproduktiver und prädiktiver Medizin relevant ist. Auch hier ist zu fragen, welches moralische Gewicht Interessen und Zwecken mit welcher Begründung zuzubilligen ist, wenn es um so genannte „hochrangige“ Zwecke (etwa Kinderwunsch) geht oder zu entscheiden ist, wie weit Heilungsoptionen die Forschung an embryonalen Stammzellen oder die durch IVF und PID mögliche selektive Erzeugung merkmalsdefinierter Embryonen („Rettungskinder“) rechtfertigen.

Prinzipien sind normative Sinnbegriffe, von denen zwischenmenschliches Handeln grundsätzlich geleitet sein muss, soll Leben und Überleben des Einzelnen in Kommunikation mit seiner Mitwelt möglich sein. Dabei wurde das, was im Sinne von Leben für Individuum und Gemeinschaft unverzichtbar ist, vorwissenschaftlich in Gebote gefasst, beispielsweise in das Gebot, „du sollst nicht töten“. Gebote sind somit moralische Normen, die sich menschliche Gemeinschaften um ihrer selbst willen bis heute geben.

Der Lebensbegriff kann als Prinzip im ursprünglichen Wortsinn von principium als Anfang verstanden werden. Damit ist nicht der flüchtige Zeitpunkt eines Beginns gemeint (initium), sondern der mitgehende Anfang, der sich durchhält in allen Veränderungen, somit das „Wesen“ des sich Entwickelnden ausmacht und ohne den ein Sein grundsätzlich nicht möglich ist. So verweist Leben auf das sich Durchhaltende in den sich ablösenden Daseins- und Erscheinungsweisen des Menschseins, von dessen charakteristischer Fähigkeit einer selbsttätigen Entwicklung nur sinnvoll gesprochen werden kann, wenn in dieser Identität in der Verschiedenheit der Lebensabschnitte, Kontinuität sowie die Fähigkeit der Entfaltung aus sich heraus, also Potenzialität, unterstellt werden kann und die damit einem Wesen entspricht, das sich von Anfang an in allen Veränderungen gleichzeitig als dasselbe durchhält.

In diesem Sinne ist auch der Begriff Menschenwürde als Prinzip zu bezeichnen, in dem zum Ausdruck kommt, was im Blick auf die Möglichkeit der Existenz des Einzelnen sowie im mitmenschlichen Zusammenleben grundsätzlich nicht zur Disposition stehen kann: die Anerkennung des Menschen in seinem Grundrecht auf Leben. Das Grundgesetz proklamiert von daher nicht nur das Grundrecht auf Leben und die Unantastbarkeit der Menschenwürde, sondern macht deren Schutz explizit zur Aufgabe des Staates (Art.1 Abs.1, GG). Damit stellen sich zwei Fragen, erstens, inwiefern Menschenwürde moralische Norm sein kann und als solche ethisch begründet ist, und zweitens, ob dieses Prinzip für den Menschen in allen Daseinsweisen und Befindlichkeiten Geltung beanspruchen kann, auch wenn er noch nicht oder nicht mehr über die Bewusstsein begründenden kognitiven Fähigkeiten verfügt.

Nach Immanuel Kant gründet die Menschenwürde in der Moralfähigkeit, in der Möglichkeit des Menschen, im Anspruch freier Selbstbestimmung über das Befolgen moralischer Regeln hinaus zugleich deren Urheber zu sein, das Sittengesetz nicht nur anzuerkennen, sondern sich zu geben. Als moralisches Subjekt ist der Mensch „Zweck an sich selbst“, das heißt, er darf nicht um heterogener Zwecke willen zum Mittel gemacht werden (Kritik der praktischen Vernunft, A156). Besteht weitgehend Einigkeit über die grundsätzliche Geltung des normativen Anspruchs einer in der Moralfähigkeit begründeten Würde des Menschen, so ist dieser Konsens in Frage gestellt, sobald es darum geht, ob der verpflichtende Gehalt des Würdebegriffs auch dann anzuerkennen ist, wenn der Mensch noch nicht oder nicht mehr über die Fähigkeiten verfügt, die ihn als Person auszeichnen.

In dieser Frage bemerkenswert ist, dass Kant den praktischen Imperativ nicht begrenzt auf den einzelnen Menschen, sondern im Blick auf die Menschheit formuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Grundlegung der Metaphysik der Sitten, B 66/67). Das bedeutet, soll menschliches Leben grundsätzlich möglich sein, muss der nur in interindividueller Kommunikation und Praxis lebensfähige Mensch unabhängig von Bedingungen in das Sittengesetz eingeschlossen sein.

Dieser Argumentation stehen andere gegenüber, die versuchen, eine abgestufte Schutzwürdigkeit des Embryos zu begründen, indem Menschenwürde an Tatsachen des Bewusstseins gebunden wird. Natürlich ist der Embryo nicht Person von Anfang an. Dennoch geht vorgeburtliches menschliches Leben nicht auf in seiner überwiegend biologischen Daseinsweise, sondern ist notwendige Ausgangsbasis für die Möglichkeit von Menschsein als leibhafter Existenz. Man wird der Bedeutung des Embryo nicht gerecht, wenn man diesen isoliert und nicht im Zusammenhang der Gesamtwirklichkeit menschlicher Existenz betrachtet, die auf Zukunft hin grundsätzlich offen ist.

Es verbietet sich von daher, aus dem Fehlen personaler Fähigkeiten unmittelbar ein Verfügungsrecht abzuleiten; denn der Embryo muss nicht Rechtsperson sein, um als unverfügbar zu gelten. Unverfügbarkeit ist weder an Menschenwürde noch an die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens gebunden. Als vorpersonales Leben genießt der menschliche Embryo Anerkennung um seiner selbst willen, als notwendiger Anfang sich entwickelnden Menschseins. Von daher muss ihm auch der Lebensschutz zukommen, der dem normativen Anspruch einer in der Moralfähigkeit begründeten Würde des Menschen entspricht.

Gewissen und Selbstbestimmungsrecht

Stimmt man dem zu, so muss man sich aber auch darüber klar sein, dass mit der Bestimmung der moralischen Norm die Frage ihrer Anwendung in der konkreten Entscheidungssituation keineswegs schon beantwortet ist; denn was bedeutet es, wenn davon ausgegangen wird, mit der ethischen Begründung einer moralischen Norm sei auch deren lebenswirkliche Anwendung bereits mitentschieden? Man glaubt, die möglichst strikte Anwendung eines als verpflichtend erkannten Prinzips (hier: menschliches Leben, Menschenwürde) ermögliche ein Handeln von überzeitlicher, kulturunabhängiger und situationsübergreifender Gültigkeit, dessen Legitimität nicht bezweifelt werden kann. Dahinter steht die Vorstellung von moralischer Verlässlichkeit, von einem nicht mehr zu kritisierenden guten Handeln und der Ethik als Weg zu dieser Möglichkeit.

Hier ist aber einzuwenden, dass der Versuch der linearen Anwendung moralischer Prinzipien auf jede in Frage kommende Handlungssituation keineswegs das fraglos gute Handeln ermöglicht, sondern dazu führt, dass eine Entscheidung im Anspruch freier Selbstbestimmung umgangen wird. Denn in der Unmittelbarkeit der Anwendung der moralischen Norm ist kein Raum für Erwägungen im Gewissen und somit für Freiheit und selbstverantwortete Praxis.

Wird das Moralischsein des Menschen verkürzt auf das kritiklose Befolgen von Normen, wird menschliche Praxis nicht legitimiert sondern reglementiert durch die ethische Theorie. Eigenverantwortliche Gewissensentscheidung ist so im Anspruch freier Selbstbestimmung nicht möglich, und die Frage, was Sittlichkeit im Handeln heißt und wie entschieden werden soll, wird dem Urteil ethischer Vordenker überlassen, soweit deren Autorität und Macht reicht.

In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die Gewissensfreiheit in der Lehrmeinung der katholischen Kirche keineswegs von untergeordneter Bedeutung ist. In der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) stellte das Zweite Vatikanische Konzil fest, dass „durch die Treue zum Gewissen die Christen mit den übrigen Menschen verbunden sind im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen“. Dabei ist es möglich, „dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert“. Das heißt, das Gewissen ist Ausdruck der Würde des Menschen, begründet in dessen Moralfähigkeit, von der der Mensch auch dann legitimerweise Gebrauch macht, wenn seine Entscheidung aus der Gewissensperspektive anderer nicht gebilligt wird.

Dabei sieht das Konzil einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Würde des Menschen und dessen Anspruch freier Selbstbestimmung: „Aber nur frei kann der Mensch sich zum Guten hinwenden. (…) Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußerem Zwang“ (Gaudium et spes, Nr.17).

Es geht in der Debatte über die Möglichkeit eines ethisch gerechtfertigten Umgangs mit Embryonen nicht nur um das Verhältnis zweier Grundrechte, sondern um das rechtlichen Normierungen vorausgehende moralphilosophische Problem der Beziehung von Verantwortung (die in Prinzipien konkreter benannt wird) auf der einen und freier Gewissensentscheidung auf der anderen Seite, ohne die Ethik als Ausdruck menschlicher Autonomie eine leere Forderung bleibt und Eigenverantwortung im Handeln vor sich und dem Anderen nicht möglich ist.

Gewissensentscheidungen setzten die gegenseitige Anerkennung der Moralfähigkeit unter autonomen Subjekten voraus und sind gleichzeitig konfrontiert mit der Gesamtheit der Bedingungen, die für die Lebenssituation der an einer Handlung Beteiligten prägend sind („Lebenswelt“). Von daher kann nicht umgangen werden, dass auch Zwecke und Interessen im Sinne einer Güterabwägung die Überlegungen mitbestimmen. Damit stellt sich aber die Frage nach der Bedeutung von Interessen und Zwecken im Blick auf den Anspruch eines sittlich gerechtfertigten Handelns am Menschen.

Zwecke orientieren menschliches Handeln und sagen, mit welchen Mitteln welche Veränderungen auf einen intendierten Zustand hin getan werden können. Zweckbestimmungen sind aber nicht in der Lage, zugleich über den Sinn einer Handlung, inwiefern diese auch sittlich gerechtfertigt ist, zu entscheiden. Das heißt, Zwecke haben keine legitimierende Wirkung, sondern sind vielmehr auf ihre Sinnhaftigkeit hin zu befragen. Für sich genommen sind sie austauschbar, stellen sich gegenseitig in Frage, können sekundären Interessen, besonders ökonomischen, unterworfen und mit Machtansprüchen verbunden werden.

Die so genannte „Güterabwägung“ allein auf der Ebene der Beziehung von Mittel und Zweck taugt nicht zu einer ethisch fundierten Begründung. Machbarkeit in der Beziehung von Mittel und Zweck gibt Auskunft darüber, was und wie etwas getan werden kann, ohne dass damit über den Sinn dieses möglichen Tuns bereits entschieden wäre. In diesem Sinne ist im Blick auf die methodisch immer differenzierter arbeitende Reproduktionsmedizin zu sagen, dass Wünsche und Interessen „für sich allein keine Norm begründen, zumal gerade sie in besonderem Maße einer Normierung bedürfen“ (Wolfgang Wieland, Pro Potentialitätsargument. Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz, in: Gregor Damschen und Dieter Schönecker [Hg.], Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2003, 159). Wünsche und Interessen motivieren zum Handeln, können für sich aber nicht in Anspruch nehmen, dass in ihnen die moralische Unbedenklichkeit des technisch Möglichen bereits gegeben sei.

Es geht um die Frage nach der Möglichkeit der Vermittlung einer auf Prinzipien gegründeten Ethik mit dem Anspruch, dass der Mensch nicht nur Befolger des Sittengesetzes ist, sondern dieses in Diskurs und Konsensbildung sich selbst gibt und eigenverantwortlich handelt in freier Gewissensentscheidung. Dabei ist deutlich geworden, dass, soll dem Anspruch freier Selbstbestimmung des Menschen Anerkennung verschafft werden, die konkrete Entscheidungssituation in zweifacher Richtung auf die Möglichkeit einer ethisch fundierten Handlungslegitimation hin offen gehalten werden muss.

Es muss erstens gesehen werden, dass der Mensch nur dann in seinem Gewissen frei entscheiden kann, wenn er dabei nicht bloßer Machbarkeit folgt, sondern den Zweck der Handlung nochmals mit der Legitimationsfrage konfrontiert. Dies geschieht, indem angesichts der Lebenssituation eines Menschen nach dem Sinn einer möglichen Handlung beziehungsweise danach gefragt wird, inwiefern ein bestimmtes Handlungsziel verwirklicht werden soll und die dazu vorhandenen Mittel tatsächlich angewandt werden. Ebenso ist zweitens zu beachten, dass auch auf der Ebene prinzipienethischer Begründung keine lineare Anwendung von Normen akzeptiert werden kann, sofern Gewissensfreiheit als Möglichkeit selbstverantworteten Handelns in moralischen Entscheidungen Anerkennung finden soll.

Die Anwendung einer Norm auf einen empirischen Sachverhalt ist vielmehr nochmals als ein ethisches Problem zu begreifen. Das heißt, die Anwendung des moralischen Prinzips darf nicht in der ethischen Begründung seiner Normativität im Voraus mitentschieden sein, sondern ist nochmals mit der Frage zu konfrontieren, wie es möglich ist, in einer bestimmten Lebenssituation dem Anspruch der moralischen Norm im Handeln so weitgehend wie möglich gerecht zu werden.

Dies erfordert aber Urteilskraft, das Vermögen, zu entscheiden, in welcher Weise eine allgemeine moralische Norm in der konkreten Lebenssituation von den an der Handlung Beteiligten verwirklicht werden kann. Urteilskraft, zu deren „Domänen die Regulierung von konkreten, faktischen Einzelfällen auf der Grundlage von Gemeingültigkeit beanspruchenden Normen gehört“ (Wieland, 160), stellt als wahrnehmende und rationale Tätigkeit die Verbindung her zwischen der sittlichen Norm und der Handlungs- und Entscheidungssituation in der Lebenswelt des Menschen, die „nicht von metaphysischen Spekulationen her aufgebaut“ ist (Gerhard Sprenger, Recht und Werte. Reflexionen über eine philosophische Verlegenheit, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte 39 [2000], 13–14), in der aber mit Notwendigkeit entschieden und gehandelt werden muss.

Dabei wird die als verpflichtend erkannte moralische Norm in ihrer Anwendung, die selbst eine ethisch begründete sein muss, weder relativiert noch einer situationsabhängigen kontingenten Bewertung überlassen. Der Anspruch des Guten im Handeln wird nicht aufgegeben. Es wird aber der Tatsache Rechnung getragen, dass immer nur in lebensweltlichen Kontexten entschieden und die Annäherung an das Gute im Streben nach dem je Besseren verfolgt werden kann.

Soll zwischenmenschliche Praxis für den Anspruch der Gewissensfreiheit offengehalten und dabei der Mensch als ein der Moral fähiges Wesen Anerkennung finden, so ist dies nur möglich, wenn in der Handlungssituation selbst und im Wissen um deren empirische Bedingungen über die Anwendung der ethischen Norm entschieden wird. Dieser zweite Begründungsschritt ist notwendig; denn Normen begründende Argumentationen sind Theorie und als solche logische Konstrukte, die ihre Bewährung in der Praxis stets vor sich haben. Die logische Überzeugungskraft einer Norm allein garantiert noch nicht den „guten“ Ausgang einer Handlungsentscheidung, sondern kann bei unvermittelter Anwendung zu einer Verschärfung des Problems beziehungsweise in Folgesituationen führen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was im Moralprinzip intendiert ist.

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