Das anthroposophische Erziehungsmodell in der KritikStreitfall Waldorfpädagogik

An der Waldorfpädagogik und ihrem weltanschaulichen Hintergrund entzünden sich immer wieder leidenschaftliche Debatten. So hat auch das „Schwarzbuch Waldorf“ noch vor seinem Erscheinen im Herbst letzten Jahres für heftige Kontroversen gesorgt. Ist die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule und lassen sich in der Waldorfpädagogik Form und Inhalt säuberlich trennen?

Schwarzbücher liegen im Trend. Enthüllungsbücher zu politischen, wirtschaftlichen und neuerdings zu weltanschaulichen beziehungsweise „Sekten“-Themen überschwemmen derzeit den Buchmarkt. Die Titel sind Programm, und öffentliche Aufmerksamkeit ist ihren Autoren in jedem Fall sicher. So hat das „Schwarzbuch Waldorf“ noch vor seinem Erscheinen im September 2008 für heftige Kontroversen und ein geteiltes Medienecho gesorgt. Und das nicht ohne Grund: An der Waldorfpädagogik und an ihrem weltanschaulichen Hintergrund entzünden sich immer wieder leidenschaftliche Debatten zwischen Befürwortern und Kritikern.

Das „Schwarzbuch Waldorf“ hat wenige Wochen nach seinem Erscheinen auch zu juristischen Auseinandersetzungen zwischen Autor Michael Grandt beziehungsweise dem Gütersloher Verlagshaus und dem Bund der Freien Waldorfschulen (BFW) geführt. Stein des Anstoßes war ein anthroposophisches Fachbuch, durch dessen Kommentierung und Zitierung der BFW die „Grenze zwischen zulässiger journalistischer Darstellung und unsachlicher Verunglimpfung“ überschritten sieht. Grandt hatte aus dem fraglichen Buch den Satz zitiert, das „Schmerzerlebnis“ habe auch bei Kindern „eine seelisch-reinigende und zugleich das Bewusstsein aufweckende und aufhellende Wirkung“. Selbst „rein physischer Schmerz, (…) wie bei einem Schlag, einer Ohrfeige“ könne zu diesem positiven Effekt führen.

Juristische Auseinandersetzungen um das „Schwarzbuch“

Am Ende seines Buches formuliert Grandt als Fazit: „In Waldorfschulen werden anthroposophische Einsichten und Erziehungskunst zur Anwendung gebracht, obwohl das Grundgesetz in Artikel 7 für die Genehmigung von Ersatzschulen verlangt, dass sie in ,ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen‘. Im Falle der Waldorfschulen scheinen diese Anforderungen unterlaufen zu werden, denn Steiners Esoterik spricht jeder Wissenschaftlichkeit Hohn.“ Die Waldorfschulen seien existenzielle Voraussetzung für den Fortbestand der gesamten Anthroposophie, deshalb reagierten Anthroposophen und Waldorffunktionäre – wie oft bewiesen – äußerst aggressiv auf alles, was dem Image Rudolf Steiners und seiner Pädagogik abträglich sein könnte. „Genau das werden wir auch bei diesem Buch erleben“ (Schwarzbuch Waldorf, Gütersloh 2008, 210f.).

Der Autor sollte zumindest darin Recht behalten. Gegen einzelne Aussagen des Schwarzbuchs ging der BFW gerichtlich vor: Am 11. September 2008 untersagte das Landgericht Stuttgart dem Verlag, „das Buch (…) des Autors Michael Grandt ,Schwarzbuch Waldorf‘ anzubieten, auszuliefern oder zu verbreiten, soweit es zum Thema des Verhältnisses der Waldorfpädagogik zu körperlichen Strafen in den Waldorfschulen aus dem Buch ,Die Strafe als Selbsterziehung und in der Erziehung des Kindes‘ von Erich Grabert zitiert, ohne dabei nachfolgend näher bezeichnete gerichtliche Auflagen zu beachten.“ Grandt hatte in seinem Werk aus einer der früheren Auflage des Werkes Erich Graberts zitiert, in denen körperliche Strafen nicht ausdrücklich ausgeschlossen, sondern sogar in Betracht gezogen werden.

Der BFW wies demgegenüber darauf hin, dass dieses Werk nunmehr in zwei Neubearbeitungen des Autors Georg Kniebe erschienen ist, in denen körperliche Strafen ausdrücklich abgelehnt werden. Zum anderen wurde zwischenzeitlich auf einem Beiblatt des Gütersloher Verlagshauses darauf hingewiesen, dass das Werk Graberts auch in früheren Auflagen die möglichen negativen Folgen körperlicher Strafen erörtert hatte. Nach einer Pressemitteilung des Gütersloher Verlagshauses vom 31. Oktober 2008 hat das Landgericht Stuttgart dem Verlag des Buches von Grandt durch Urteil aufgegeben, drei kleine Änderungen im „Schwarzbuch Waldorf“ vorzunehmen.

Wörtlich heißt es: „Dem Autor war bei Beschreibung der Gründung der ersten Waldorfschule ein Kommafehler unterlaufen, des Weiteren hatte er statt des korrekten Begriffs ,Gleichwertigkeit‘ der Waldorflehrerausbildung im Vergleich zu staatlichen Lehrern ,Gleichartigkeit‘ geschrieben und schließlich hatte er mit ausdrücklicher Erlaubnis des Präsidenten des deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus dessen juristisch bis dato ihm gegenüber nie angegriffene Aussage zitiert, dass Waldorfschulen nicht an der Pisa-Studie teilgenommen hatten. Diese Beispiele zeigen, dass es dem klagenden Bund der Freien Waldorfschulen (BFW) nicht darum geht, sich sachlich mit der fundierten Kritik des ,Schwarzbuchs‘ auseinanderzusetzen, sondern lediglich darum, mit zweifelhaften juristischen Störversuchen auf Nebenschauplätzen ein unliebsames, aufklärendes Buch zu attackieren.“ Der Verlag musste daraufhin bei der nach eigenen Angaben „nahezu ausverkauften Auflage“ an drei Stellen Schwärzungen vornehmen.

Waldorfpädagogik – eine krude Methodik?

Mit seinem Bruder Guido hat der Journalist Michael Grandt (Jahrgang 1963) bereits 1995 ein „Schwarzbuch Satanismus“ vorgelegt, 1997 folgte das „Schwarzbuch Anthroposophie“ und ein Jahr später die Publikation „Waldorf-Connection.“ Auf seiner Internetseite stellt er sich als „Autor und Fachberater für die Themenbereiche Nationalsozialismus, Gesellschaftskritik, Scientology, Sekten, Satanismus, Anthroposophie“ vor. Grandt will auch diesmal aufklären und – so schreibt er im Vorwort des neuesten Werkes – Mythos und Wirklichkeit der Waldorfpädagogik kritisch beleuchten. Die einzelnen Kapitel befassen sich mit Rudolf Steiner und der anthroposophischen Weltanschauung. Im Kern geht es jedoch um das pädagogische Praxisfeld der Anthroposophie, dem Grandt eine „krude Methodik“ vorwirft.

Auf über 200 Seiten beleuchtet er kritisch die Waldorfpädagogik, ihren Ansatz und das Erscheinungsbild der Waldorfschulen. Der Autor macht aus seiner Meinung keinen Hehl: So betrachtet er die Anthroposophie insgesamt als okkult-esoterische Weltanschauung und die darauf aufbauende „Erziehungskunst“ insgesamt als unwissenschaftlich. Die sieben Kapitel des Buches befassen sich mit Rudolf Steiner, Anthroposophie und Waldorfpädagogik, mit der Waldorflehrerausbildung und mit den Waldorfschulen. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Frage, ob die Schriften Steiners rassistische Überzeugungen aufweisen.

Unter der Überschrift „Nachgefragt“ präsentiert der Autor Ergebnisse seiner E-Mail-Korrespondenz mit den Kultusministerien der Länder und mit den Parteien. Er wollte in Erfahrung bringen, „was die Behörden überhaupt über die Weltanschauung, die hinter der Weltanschauung steht, wissen.“ Der den Behörden vorgelegte Fragenkatalog enthielt unter anderem Anfragen wie „Wer prüft den Ablauf und den Studieninhalt von Waldorfschulen?“ – oder die Bitte um „Stellungnahme zur Möglichkeit einer indirekten Einflussnahme der anthroposophischen Weltanschauung in den Waldorfunterricht.“

Die an Grandt übermittelten Antworten gehen inhaltlich nicht auf den weltanschaulichen Hintergrund der Waldorfschulen ein beziehungsweise geben hierzu keinerlei Stellungnahmen ab. Zusätzlich präsentiert Grandt die E-Mail-Korrespondenz mit Anthroposophen und „Waldorffunktionären“, die auf seine Anfragen nicht reagierten oder ihm unisono Auskünfte verweigerten, da von ihm – bedingt durch seine früheren Veröffentlichungen – ohnehin keine ausgewogene und sachliche Berichterstattung zu erwarten sei.

Abschließend formuliert Grandt im letzten Kapitel des Buches einen Forderungskatalog nach mehr Transparenz der Waldorfschulen: „Eltern und Schüler müssen wissen, welche Weltanschauung hinter der Waldorfpädagogik steckt.“ Waldorfschulen müssten sich „endlich als anthroposophische Weltanschauungsschulen bekennen.“ Zu prüfen sei außerdem, ob die anthroposophische Lehre verfassungskonform sei. Grandt geht sogar noch weiter: Er fordert die Umbenennung der Rudolf-Steiner-Schulen, da Steiner „in seinem Werk immer wieder schreckliche rassendiskriminierende Aussagen tätigt.“ Deshalb sei auch die staatliche Förderung von Waldorfschulen abzuschaffen. Grandts Buch polarisiert. Er wählt die Methode der Skandalisierung, um seinem Anliegen größere Aufmerksamkeit zu verleihen.

Auch wenn es im Moment etwas stiller um das „Schwarzbuch“ geworden ist – die Anfragen an die anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik bleiben aus weltanschaulicher Sicht weiterhin bestehen. Zweifel sind indes angebracht, ob das „Schwarzbuch Waldorf“ für eine angemessene kritische Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Grundlagen weiterhilft. Beispiellos ist sicherlich auch das juristische Vorgehen des BDW, das auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung auf Kritik gestoßen ist. Hier hätte man sich von den Verantwortlichen mehr Augenmaß gewünscht. Es ist keinem geholfen, wenn der sicherlich notwendige Streit um die weltanschaulichen Grundlagen nur noch von juristischen Auseinandersetzungen dominiert und der Debatte ein Bärendienst erwiesen wird.

Sicherlich ist es auch eine Stilfrage, welcher Ton in der weltanschaulichen Kontroverse angeschlagen wird. Es wird viel davon abhängen, wie sich Anthroposophen zukünftig zu grundlegenden Anfragen an Steiners „Geisteswissenschaft“ verhalten werden. Leider sind einzelne Anthroposophen noch längst nicht bereit für einen offenen kritischen Diskurs. Einzelne Repliken auf die fundierten wissenschaftlichen Analysen des Berliner Wissenschaftshistorikers Helmut Zander, der vor zwei Jahren die beeindruckende zweibändige Studie „Anthroposophie in Deutschland“ vorgelegt hatte, waren geprägt von Unverständnis, Polemik oder gar von scharfer, mitunter persönlich verletzender Kritik.

Bei den Waldorfschulen handelt es sich um Schulen in freier Trägerschaft, deren pädagogisches Konzept auf Rudolf Steiner (1861–1925) beziehungsweise auf dessen Anthroposophie zurückgeht, die er auch als „Geisteswissenschaft“ bezeichnet hatte. Die Waldorfpädagogik ist auf allen fünf Kontinenten verbreitet. Derzeit werden in Deutschland an 212 Waldorfschulen 83000 Schüler unterrichtet. 15 Waldorfschulen gibt es in Österreich und 36 in der Schweiz. Weltweit sind es insgesamt 965, davon 678 Schulen in europäischen Ländern. Darüber hinaus gibt es in Deutschland rund 500 Waldorfkindergärten.

Für Eltern stellt heute die Waldorfschule eine besonders attraktive Alternative zur oftmals als desolat empfundenen öffentlichen Schule dar. Sie gilt weithin als Inbegriff für verminderten Erwartungs- und Leistungsdruck, für Förderung kreativer Fähigkeiten der Schüler durch künstlerischen und musischen Unterricht. Die besondere Betonung handwerklicher Fähigkeiten macht sie zusätzlich attraktiv.

Die erste Waldorfschule wurde 1919 in Stuttgart gegründet. Ihren Namen verdankt die Schule dem Umstand, dass der Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, Emil Molt (1876–1936) mit den gesellschaftsreformerischen Ansätzen Rudolf Steiners sympathisierte. Seit etwa 1906 war Molt war auch Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. 1918 wollte er auf anthroposophischer Grundlage eine eigene Werksschule für die Kinder seiner Mitarbeiter gründen. So trat er auch an Steiner mit der Bitte heran, die Anthroposophie für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Am 7. September 1919 war es schließlich soweit: Die „Freie Waldorfschule“ wurde im damaligen Stuttgarter Stadtgartensaal feierlich eröffnet.

Zuvor hatte Rudolf Steiner das junge anthroposophische Lehrerkollegium, dessen Durchschnittsalter 32 Jahre betrug, 14 Tage hindurch „impulsiert und geschult“. In seiner Begrüßungsansprache unterstrich Steiner, dass er die Bitte Molts als „heilige Pflicht“ begriffen habe, eine Schulform aus der „Geisteswissenschaft“ heraus zu entwickeln.

Die kreativen Kräfte der Schüler von Grund auf entfalten

Die Waldorfpädagogik baut daher auf dem Gedankengut der Anthroposophie, ihrem Welt- und Menschenbild auf. Ohne Letztere ist sie überhaupt nicht zu verstehen. Gleichwohl begreift sich die Waldorfschule nicht als Weltanschauungsschule, da in ihr – so ihre Vertreter – keine Weltanschauung gelehrt werde. In Waldorfschulen gibt es keine Zensuren und kein Sitzenbleiben. Bei den Unterrichtsfächern wird zwischen „Erkenntnisfähigkeiten“ und „Erlebniskräften“ unterschieden. Zu den Ersteren gehören Fächer wie Mathematik und die Naturwissenschaften, zu Letzteren künstlerische Fächer wie Musik. Zusätzlich werden „Willen schulende“ Tätigkeiten in Fächern wie Handwerk, Gartenbau und anderes unterrichtet.

Das Hauptaugenmerk liegt auf künstlerischen und naturverbundenen Tätigkeiten: So erlernt jeder Schüler ein Musikinstrument. Die Waldorfschule kennt das Prinzip des „Epochenunterrichts“, wonach einige Fächer innerhalb bestimmter „Epochen“ intensiv unterrichtet, dann aber vorübergehend aus dem Unterrichtsprogramm genommen werden. Bereits von der ersten Klasse an werden zwei Fremdsprachen unterrichtet.

Dem Klassenlehrer kommt eine besondere Bedeutung zu: Er soll die „geliebte Autorität“ verkörpern. Er unterrichtet in der Regel vom ersten bis zum achten Schuljahr in „seiner“ Klasse nahezu alle Schulfächer – mit Ausnahme von Fremdsprachen und musisch-praktischen Fächern. Er erstellt auch das individualisierte Zeugnis. Es soll – meist aus der Sicht der anthroposophischen Menschenkunde – das jeweilige „Wesensbild“ des Schülers skizzieren. Darüber hinaus wird eine Art Lernbericht erstellt.

„Eurythmie“ heißt ein spezielles, von Steiner geschaffenes Schulfach für die Klassen 1 bis 12, das sich der expressiven Tanzkunst widmet. Dabei werden Buchstaben, Haltungen und Linien in Bewegung umgesetzt. Eurythmie dient der darstellenden Kunst und wird von anthroposophischer Seite auch heilpädagogisch eingesetzt. In den meisten Ländern wird an Waldorfschulen christlicher Religionsunterricht in konfessioneller, kirchlich verantworteter und freier, im Sinne von Steiners Christenlehre orientierter Form gegeben.

Als Alternative zum herkömmlichen Unterricht genießen Waldorfschulen in der Öffentlichkeit einen guten Ruf. Daran hat nicht zuletzt Ratgeberliteratur für Eltern einen entscheidenden Anteil, die mit Titeln wie „Erziehung zur Freiheit“ oder „Angstfrei lernen – Selbstbewusst handeln“ für das Erziehungskonzept Steiners werben. „Waldorfpädagogik will die kreativen Kräfte der Schüler von Grund auf entfalten“. So heißt es auf der Internetseite des BFW. Weiter heißt es: „Gemeinsamer Unterricht für Jungen und Mädchen, zwei Fremdsprachen ab der ersten Klasse, Epochenunterricht (Blockunterricht), Gesamtschule von Klasse 1 bis 12, Verzicht auf Sitzen bleiben, künstlerische Gestaltung des Unterrichts, ausführliche Textzeugnisse, Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung, Selbstverwaltung (Autonomie) der Schule – all das ist selbstverständlich“.

Waldorfpädagogik will, so der Anspruch, die kreativen Kräfte der Schüler von Grund auf entfalten. In der Regel werden Waldorfschulen von einem Schulverein getragen. Die wirtschaftliche Leitung obliegt einem gewählten Vorstand, wobei Eltern die Schule durch ihr Schuldgeld mitfinanzieren.

Eine Schule des Bildungsbürgertums

Aktuelle Studien belegen, dass Eltern von Waldorfschülern meist sozialen homogenen Gruppen entstammen. So ergab eine in Schweden veröffentlichte Dreijahresstudie von Bo Dahlin (2005), dass die Eltern über eine gute Ausbildung und ein Mittelschicht-Einkommen verfügen. Sie sind meist in sozialen Berufen tätig und neigen hinsichtlich ihrer politischen Einstellung dem eher ökologisch orientierten linken Spektrum zu. Überraschend ist der Befund, wonach Waldorfschüler in der neunten Jahrgangsstufe nur mäßige Erfolge zu erzielen vermögen, sich der überwiegende Teil von ihnen (59 Prozent) jedoch für ein Hochschulstudium entscheidet.

Eine vor zwei Jahren von Heiner Barz und Dirk Randoll (2007) veröffentlichte Studie belegt, dass die meisten ehemaligen Waldorfschüler in Deutschland der gehobenen, akademisch gebildeten Mittelschicht, dem früher so genannten Bildungsbürgertum, entstammen. Fast ein Fünftel waren Lehrer und Lehrerinnen aller Schularten, wobei die größte Elterngruppe unter den Lehrern an staatlichen Schulen unterrichtet. Die Gruppe der Kaufleute und Büroangestellten ist jedoch demgegenüber deutlich unterrepräsentiert. Demnach ist die Waldorfschule keine Schule für alle, sondern vor allem eine Schule des Bildungsbürgertums.

Weitere Einzelstudien belegen, dass der Prozentsatz der ehemaligen Waldorfschüler, die ihr Verhältnis zur Anthroposophie als „praktizierend“ beziehungsweise „engagiert“ bezeichnen, innerhalb von drei Jahrzehnten um knapp zehn Prozent zurückgegangen ist. Hingegen ist der Anteil der Indifferenten und Kritiker dieser Weltanschauung unter den Absolventen gestiegen. Im Blick auf die Zufriedenheit mit der Waldorfpädagogik ergab sich bei der Umfrage unter ehemaligen Schülern, dass für die überwiegende Mehrheit (58,7 Prozent) die Schulform zu wenig leistungsorientiert ist und diese über die mangelnde Offenheit der Waldorfschule gegenüber neueren pädagogischen Entwicklungen klagten (52,2 Prozent). Dennoch halten die meisten von ihnen (62,8 Prozent) die gewählte Schulart für die beste, die sie kennen.

Keine Weltanschauungsschule?

Für den Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich stellen Waldorfschulen „im Vergleich zu Regelschulen – speziell den Gymnasien – pädagogische Gegenwelten dar, die durch reflexiv entmodernisierende Züge gekennzeichnet sind“. Unter Experten wird die geringe Bedeutung von naturwissenschaftlichen Fächern und der Politik bemängelt. Kritische Stimmen wurden in den letzten Jahren besonders im Blick auf die Waldorflehrerausbildung laut. So hatte ein Absolvent, der über das Berliner Arbeitsamt – ohne Kenntnis des anthroposophischen Hintergrundes – zum Waldorflehrerseminar vermittelt worden war, rückblickend gar von einer „rein ideologischen Schulung in Anthroposophie“ berichtet. Im Mai 2007 erhob der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, die Forderung, dass die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrkräfte privater Schulen nicht hinter der für öffentliche Schulen zurückstehen dürfe.

Vertreter von Waldorfschulen werden nicht müde zu betonen, dass die Waldorfschulen keine Weltanschauungsschulen seien: „Die anthroposophische Lehre als solche ist kein Gegenstand des Unterrichts. Sie kann als Übungsweg der Selbsterziehung nur eine Sache für Erwachsene sein.“ Dennoch sind Anthroposophie und pädagogische Praxis eng aufeinander bezogen. Weitgehend unbekannt in der Öffentlichkeit sind die anthroposophischen Grundlagen der Waldorfpädagogik. Anthroposophie heißt – wörtlich übersetzt – „Weisheit vom Menschen“. Als ihr eigentlicher „Entdecker“ gilt Rudolf Steiner, der sie auch als „Geisteswissenschaft“ bezeichnet hat.

Anthroposophie will nach eigenem Verständnis nicht Religion, nicht Kirche sein, aber sie will mehr Gewissheit als die Religion verschaffen. Steiner beansprucht, dass es sich dabei nicht um eine Angelegenheit überlieferter religiöser Traditionen oder um das Ergebnis rein naturwissenschaftlicher Forschung handeln würde. Vielmehr präsentiert er mit der Anthroposophie einen esoterischen Erkenntnisweg, der durch geistige Schau gewonnen wird. Die Berufung auf „übersinnliches Wissen“ ist bis heute ein wesentliches Element anthroposophischer Identität geblieben.

An die Vorgaben Steiners ist auch die Waldorfpädagogik in ihrer Konzeption und Praxis gebunden. Das Reinkarnationskonzept Steiners nimmt darin eine Schlüsselposition ein. In einer Schulung für Lehrer machte er 1920 die Pädagogen darauf aufmerksam, dass sie beim Kind ein Rätsel zu lösen hätten, das jenseits der Geburt liege. Steiner formulierte schon ein Jahr zuvor in einem Vortrag: „Hast du einen Menschen vor dir, so hast du die wieder auferstandene Seele aus der vorhergegangenen Inkarnation vor dir.“ Wie er weiter ausführte, müsse die Lehre vom wiederholten Erdenleben „praktisch werden, dass sie der Untergrund werden könnte für so etwas wie eine Erziehungs- und Unterrichtskunst.“

Grundlage der Waldorfpädagogik ist die „anthroposophische Menschenkunde“. Sie umfasst die Lehre von den „Wesensgliedern des Menschen“ – physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich –, die Dreigliederung des Organismus und die Lehre von Karma und Reinkarnation. Steiner wollte die Waldorfschule nicht zur Weltanschauungsschule formen. Vielmehr wollte er die Anthroposophie in die pädagogische Praxis hineintragen. Ist die Waldorfschule also doch eine Weltanschauungsschule? Lassen sich in der Waldorfpädagogik Form und Inhalt säuberlich trennen? Ist sie gar eine Erziehung zur Anthroposophie? Die Diskussion über diese Frage ist bislang nicht zur Ruhe gekommen.

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