Die Europäische Union und die Kirchen im europäischen EinigungsprozessFällt die EU vom Fahrrad?

Die EU-Kommission hat sich ein ehrgeiziges Arbeitsprogramm verordnet. Neue Dynamik wird der europäische Prozess aber erst nach der Ratifizierung des Verfassungsvertrags bekommen. Für die Kirche hält die künftige EU-Politik schwierige ethische Herausforderungen bereit. Die Zeit wäre reif für ein europäisches Sozialwort der Kirchen.

Von Altbundeskanzler Helmut Kohl stammt das berühmte Wort, mit der EU sei es wie mit einem Fahrrad, in dessen Pedale man unentwegt treten müsse, um nicht umzufallen. Der europäische Einigungsprozess müsse immer weiter getrieben werden, um nicht zu Fall zu kommen. Diese Auffassung von der nötigen inneren Dynamik der europäischen Integration wird am Beginn des Jahres 2005 nicht mehr einhellig geteilt. Trotz des neu gewählten Parlaments und der neu eingesetzten Kommission scheint eine Phase des Zögerns und Zauderns begonnen zu haben, in der Zweifel an der Richtigkeit des europäischen Projekts erkennbar werden. Vertreter der Kirchen aller Konfessionen haben zu diesem Stimmungswechsel ebenso beigetragen wie politische Parteien und Regierungen. Mit einem Stimmungsumschwung ist erst nach dem Inkrafttreten des europäischen Verfassungsvertrags zu rechnen. Das dürfte frühestens Ende 2006 der Fall sein. Erst dann wird sich eine neue Dynamik entfalten können. Der Weg dahin ist aber noch lang.

Mit der Wahl des neuen europäischen Parlaments im letzten Juni und der Einsetzung einer neuen EU-Kommission im November sind zwei der drei Schlüsselinstitutionen in der Union neu zusammengesetzt worden. Auch der Ministerrat und der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs wenigstens zweimal pro Halbjahr zusammentreten, haben sich dramatisch verändert. Als dritte Instanz, in der die Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammenkommen, sitzen darin seit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedsstaaten am 1. Mai 2004 nicht mehr fünfzehn, sondern fünfundzwanzig Regierungsvertreter, die nicht nur das Protokoll vor bisher ungekannte Herausforderungen stellen. Nicht ganz von der Hand zu weisen sind jedenfalls Befürchtungen, wonach unter den neuen Bedingungen ein Direktorium der großen EU-Länder versuchen werde, hinter den Kulissen die Fäden an sich zu ziehen. Bei der Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im letzten Dezember waren es jedenfalls Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die dem niederländischen Ministerpräsidenten Jan Balkenende und dem neuen Kommissionspräsidenten José Dur˜ao Barroso in den Schlüsselbegegnungen mit dem türkischen Regierungschef Racep Erdogan zur Seite standen, um den dann vom gesamten Europäischen Rat abgesegneten Kompromiss auszuhandeln.

Dessen ist sich auch der gegenwärtige Ratspräsident, der Luxemburger Jean-Claude Juncker, bewusst. Seine unmögliche Mission dürfte darin bestehen, etwa ab der zweiten Hälfte des Monats Mai bis zum Ende seiner Präsidentschaft am 30. Juni den Mitgliedsstaaten einen Kompromiss über ein neues mehrjähriges Finanzpaket der EU ab 2007 abzuringen. Vorher dürften alle Mühen vergeblich sein, da die britische Regierung vermutlich am 5. Mai eine Wahl zu bestehen hat. Bis dahin wird sie über den berühmten Rabatt, den Margaret Thatcher 1984 als Nachlass auf die britischen Beitragszahlungen in die EU-Kassen erhielt, nicht verhandeln, obwohl dieser seine objektive Berechtigung längst verloren hat und von inzwischen allen Partnern in der EU in Zweifel gezogen wird. Nach der Luxemburger Präsidentschaft dürften die Aussichten auf einen Finanzkompromiss für die EU noch geringer werden, weil dann die Briten selbst für sechs Monate am Ruder sein werden. Die Bischöfe der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) haben in einer Erklärung mit dem Titel „Solidarität ist die Seele Europas“ auf die Bedeutung einer Einigung über die EU-Finanzen hingewiesen: In der EU der 25 sind die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte erheblich größer geworden. Zu ihrer Behebung reichen die Kräfte des Binnenmarktes alleine nicht aus. Die reichen Mitgliedsstaaten sollten in ihrem Elan zu finanzieller Solidarität nicht erlahmen, und eine Reihe von bisherigen Mitgliedsstaaten, die im Verhältnis zum EU-Durchschnitt bisher als arm galten, sollten zu einem Umdenken bereit sein.

Was wird aus den EU-Finanzen?

Das europäische Parlament hat die zentrale Bedeutung einer gütlichen Einigung über die EU-Finanzen seinerseits dadurch unterstrichen, dass es einen „nichtständigen Ausschuss zu den politischen Herausforderungen und Haushaltsmitteln der erweiterten Union 2007–2013“ eingesetzt hat, dem Parlamentspräsident Josep Fontelles Borrell vorsitzt. Borell, ein katalanischer Sozialist, konnte sein Amt als Parlamentspräsident dank einer Absprache zwischen den beiden größten Fraktionen von Sozialisten und Christdemokraten antreten. Zu dieser Absprache gehört auch, dass er sein Amt zur Hälfte der Legislaturperiode am 1. Januar 2006 an einen Christdemokraten abtritt. Grosse Chancen auf die Nachfolge besitzt gegenwärtig der deutsche CDU-Mann und Fraktionsvorsitzende der EVP Hans-Gert Pöttering. Die grünen Parteien sind auf europäischer Ebene zerstritten. Neben der Fraktion der Grünen gibt es eine Gruppe extrem linker Parteien, in der ebenfalls grüne Politiker vertreten sind. Die liberalen Parteien sind dagegen mit den französischen Christdemokraten um François Bayrou und der italienischen Mitte-Links Partei „Margherita“ zu der starken, aber wenig homogenen Fraktion ALDE zusammengeschlossen und stellen zur Zeit mit über 90 Abgeordneten deutlich die drittgrößte Kraft im europäischen Parlament. Die ALDE-Fraktion ist im politischen Alltag des Parlaments das Zünglein an der Waage, da die strategische Absprache zwischen Sozialisten und Christdemokraten in politischen Fragen nicht gilt.

Im Streit um die Einsetzung der neuen Kommission wurde das besonders deutlich. Weil es dem designierten Kommissionspräsidenten Barroso nicht gelang, die ALDE-Fraktion auf seine Seite zu ziehen, zog er seinen Vorschlag für eine neue Kommission, in der der italienische Christdemokrat Rocco Buttiglione als Kommissionsmitglied für Justiz und Inneres vorgesehen war, zurück und präsentierte Mitte November eine neue Mannschaft, in der sowohl Buttiglione als auch die einzige Vertreterin einer grünen Partei, die Lettin Ingrida Udre, nicht mehr auftauchten. Der Rückzug von Udre, die in ihrem Heimatland in eine Parteispendenaffäre verwickelt ist, in der auch die russische Mafia eine Rolle spielen soll, warf ein Schlaglicht auf die Gefahren, die von der organisierten Kriminalität für die Demokratie in Europa ausgehen.

Die Gründe für den Rückzug von Rocco Buttiglione sind vielschichtiger. Dazu gehört in jedem Fall, dass Buttiglione der Kandidat von Silvio Berlusconi war und das Verhältnis von Berlusconi zur sozialistischen Fraktion im EP mit ihrem Vorsitzenden Martin Schulz ebenso zerrüttet ist wie das zur italienischen Justiz. Deswegen gab es bis in Teile der christdemokratischen Fraktion hinein Bedenken, den persönlich sicher unbescholtenen Kandidaten der italienischen Regierung mit dem sensiblen Posten für Justiz und Inneres zu betrauen. Andere Parlamentarier nutzten den Fall, um politische Konflikte in ihren Herkunftsländern auf die europäische Ebene zu verlängern. Schon im Vorfeld der Befragung durch den zuständigen Ausschuss im Parlament lagen Hinweise darauf vor, dass einige Mitglieder des Hauses den bekannt katholischen Kandidaten mit gezielten und wiederholten Fragen zur Homosexualität und zum Verständnis der Ehe aus der Reserve locken wollten. Die Versuche Buttigliones, auf diese Fragen nicht ausweichend, sondern differenziert zu antworten, scheiterten schon am Pressedienst des europäischen Parlaments, dessen einseitige Zusammenfassung der Anhörung in vielen europäischen Medien nachgedruckt wurde. Bei den Lesern konnten deshalb nur Vorurteile verfestigt werden. Dass nämlich die EU und ihr Parlament grundsätzlich gegen die katholische Kirche eingestellt seien und eine neue Christenverfolgung anbreche, war ebenso zu hören wie auf der anderen Seite, dass die katholische Kirche als letztes Bollwerk der Homophobie und Frauenfeindlichkeit von den Gutmenschen der zuständigen NGO-Community bekämpft werden müsse. Der Schaden, den die EU und die Kirchen in dieser Angelegenheit genommen haben, ist deshalb in jedem Fall größer als der politische Nutzen für das europäische Parlament, den vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten und hinter ihm die ihn tragenden Regierungen in die Knie gezwungen zu haben.

Gerade in kirchlichen Kreisen hat die Behandlung von Rocco Buttiglione durch Teile des Parlaments eine neue Nachdenklichkeit im Blick auf die EU hervorgerufen. Es war deshalb für das Präsidium der COMECE unter ihrem Vorsitzenden, Bischof Josef Homeyer, eine Erleichterung, bei einer Begegnung Mitte Januar aus dem Munde des Fraktionsvorsitzenden der ALDE-Fraktion, Graham Watson, und seines Kollegen Bronisław Geremek zu hören, dass sie die Sorge angesichts von Strömungen im Parlament und in der europäischen Öffentlichkeit insgesamt, die einen aggressiven Säkularismus verfolgten, teilten. Beide Seiten vereinbarten, gemeinsam über die Frage nach der Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Leben Europas nachzudenken. Dabei dürfte gerade auch die Haltung der neuen Kommission den Kirchen gegenüber von besonderer Bedeutung sein.

Das neue Arbeitsprogramm ist für die Kirchen kantig

Mit der Persönlichkeit des neuen Präsidenten der europäischen Kommission, dem Portugiesen José Dur˜ao Barroso, muss gerechnet werden. Anders als sein Vorgänger wurde er zu den Beratungen im kleinen Kreis des Trios Blair, Chirac und Schröder hinzugezogen. Als Zeichen seiner Unabhängigkeit kann auch gewertet werden, dass er die wichtigsten Ressorts in der Kommission nicht an einen Deutschen, Franzosen oder Spanier vergab, sondern an eine Niederländerin, einen Iren und einen Engländer. Nelly Kroes aus Rotterdam, die wegen ihrer Nähe zur Wirtschaft selbst lange Zeit in der Kritik des Parlaments stand, wurde mit dem Ressort für Wettbewerbspolitik betraut, der frühere irische Finanzminister Charlie McCreevy wurde Binnenmarktskommissar und Peter Mandelson, der frühere ,spin-doctor‘ von Tony Blair und britische Handelsminister, vertritt die EU in der Handelspolitik. Es kann nicht erwartet werden, dass die europäische Kommission den Fragen von Religion und Kirchen unmittelbar und aus eigener Initiative großes Interesse entgegenbringen wird, dafür liegen die Prioritäten zu stark im wirtschaftspolitischen Bereich. Es liegt bei den Kirchen und ihren Vertretungen in Brüssel, sich einzubringen. Allerdings gehören zum Exekutivorgan der EU auch eine Reihe von praktizierenden Katholiken wie zum Beispiel der Franzose Jacques Barrot, der Malteser Joe Borg, die Österreicherin Benita Ferrero-Waldner oder der Slowake Ján Figel. Stavros Dimas, der griechische Kommissar, und der zypriotische Kommissar Markos Kyprianou gehören der orthodoxen Kirche ihres Landes an. Günter Verheugen, der als einer von vier Vizepräsidenten dem Rang nach herausgehoben ist, gehörte in den neunziger Jahren der EKD-Kammer für Entwicklung und Umwelt an. Er hat das bislang relativ unbedeutende nun aber ausgeweitete Gebiet der Unternehmenspolitik zu betreuen und ist gleichzeitig neben dem Kommissionspräsidenten auch für die Lissabon-Strategie zuständig, das Herzstück der neuen Kommission.

Am 27. Januar hat José Barroso das Arbeitsprogramm 2005 sowie die strategischen Ziele seiner Kommission für die Jahre 2005–2009 vorgestellt, die er als Dreiklang von Wohlstand, Solidarität und Sicherheit beschrieb. Der Begriff ,Wohlstand‘ steht nicht zufällig an erster Stelle. Die Sorge um den Zustand der europäischen Wirtschaft, die weder ökologisch nachhaltig noch auf Weltniveau ausreichend konkurrenzfähig sei, um das europäische Sozialmodell zu finanzieren, macht diese Konzentration auf Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung aus Sicht des Kommissionspräsidenten erforderlich. Dabei setzte Barroso in seiner Rede vor dem europäischen Parlament dieses Vorhaben anderen europäischen Großprojekten gleich: „Die Erneuerung der europäischen Wirtschaft ist ein ebenso kühner und mutiger Prozess wie die Einführung des Euro oder die letzte Erweiterung der Union.“ Mut zeigen müssen indessen vor allem die nationalen Regierungen, denen die Hauptaufgabe bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie als dem Hauptinstrument zur Erreichung des Ziels einer erneuerten europäischen Wirtschaft zufällt.

Die Rezepte, die die europäische Kommission vorschlägt, bedeuten für viele Bürger trotz mancher Beschwichtigungen eine bittere Medizin. So hat denn auch der für seine freimütigen Bekenntnisse bekannte luxemburgische Ministerpräsident die Bedenken seiner Kollegen im Europäischen Rat treffend auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Wir politisch Verantwortlichen wissen genau, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie Wahlen zu gewinnen sind, wenn wir es getan haben.“ Mit welchen Schwierigkeiten die Kommission Barroso rechnen muss, wurde schon am Tag der Vorstellung ihrer Vorschläge für eine Neuausrichtung der Lissabon-Strategie Anfang Februar deutlich. Während der Portugiese noch im europäischen Parlament sprach, verkündet der französische Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin bereits in der Assemblée Nationale, dass sich seine Regierung mit allen zur Verfügung stehenden Kräften gegen einen Richtlinienvorschlag zur Liberalisierung der Dienstleistungen zur Wehr setzen werde.

Diese Richtlinie, mit der auch einige Kirchenvertreter – teils aus grundsätzlichen Erwägungen, teils aus Sorge um die Bewertung der von der Kirche geleisteten sozialen Dienste – ihre Schwierigkeiten haben, gilt jedoch als Filetstück der Lissabon-Strategie, mit der die Kommission den Verkehr von Dienstleistungen, die immerhin 70 Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts ausmachen, dem freien Warenverkehr im europäischen Binnenmarkt gleichstellen möchte. Viele andere Vorschläge, die in der Lissabon-Strategie enthalten sind, dürften aus Sicht der Kommission mangels eigener Zuständigkeit noch weitaus schwieriger zu verwirklichen sein.

Für die Kirchen ist das neue Arbeitsprogramm in mancher Hinsicht kantiger. In den kommenden Jahren stehen keine großen symbolträchtigen Projekte wie der Euro oder die friedliche Einigung Europas durch die Beitritte der Staaten Mittel- und Osteuropas auf der Tagesordnung, die den Kirchen mit ihrem Sinn für geschichtliche Zusammenhänge und politische Verstrebungen besonders liegen. In Fragen der Forschungspolitik, der Neuausrichtung der sozialen Marktwirtschaft oder der Außen- und Sicherheitspolitik mit ihren zahlreichen religiösen Komponenten sind Fragen sozialethischer Natur bei Bischofskonferenzen und kirchlichen Organisationen, aber auch bei anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sicher ebenso zahlreich wie die Antworten. In mancherlei Hinsicht wäre die Zeit deshalb reif für ein europäisches Sozialwort der Kirchen mit einem vorausgehenden intensiven Konsultationsprozess.

In den nächsten anderthalb Jahren eine Art Dauerwahlkampf

Für die europäische Kommission gilt jedoch, dass sie hinter den plakativen Zielen mit Problemen ganz anderer Art zu kämpfen haben wird. Von der Schwierigkeit, einen Kompromiss bei den Finanzen zu erzielen, war schon die Rede. In der vergrößerten Union sind zudem auch Abstimmungsprobleme vorhersehbar, die das Funktionieren der europäischen Institutionen insgesamt in Frage stellen. Unter den neuen Mitgliedsstaaten befinden sich nicht wenige, die erst vor kurzer Zeit ihre Unabhängigkeit erlangt oder wiedererlangt haben. Den Beitritt zur Union haben sie vor allem als Beitrag zur Konsolidierung ihrer Unabhängigkeit angestrebt und nicht als einen Schritt zur Abgabe gerade erlangter staatlicher Souveränität. Genau darum handelt es sich allerdings bei dem Gebilde ,sui generis‘ der Europäischen Union: Staaten verzichten auf die eigenständige Ausübung ihrer hoheitlichen Prärogativen zugunsten einer gemeinsamen und institutionell geregelten Vorgehensweise. Hier liegt der Kern eines strukturellen Missverständnisses, mit dem sich die Union und insbesondere die europäische Kommission in den nächsten Jahren ohne jeden Zweifel herumschlagen wird.

Das dritte wirklich große „Problem“ der Union sind die eigenen Bürger. Der Anfang November letzten Jahres unterschriebene Vertrag über eine Verfassung für Europa muss in nicht weniger als zehn Mitgliedsstaaten durch Volksabstimmungen ratifiziert werden. Die größten Gefahren für eine Zurückweisung des Verfassungsvertrags bestehen vermutlich in Frankreich (Referendum im Juni), Polen (Oktober), Großbritannien (Frühjahr 2006) und in Tschechien (Juni 2006), aber auch die Referenden in Irland (Ende 2005) und den Niederlanden (vermutlich Juni 2005). Die Europäische Union befindet sich von nun an für die nächsten anderthalb Jahre in einer Art Dauerwahlkampf, und deshalb ist auf absehbare Zeit in der EU-Politik trotz aller Rhetorik für die Erneuerung der europäischen Wirtschaft wenig echte Bewegung zu erwarten, und der europäische Integrationsprozess verliert an Fahrt. Man könnte meinen, um im Bild zu bleiben, die EU falle vom Fahrrad. Schon die angekündigte Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird jenseits aller Dispute über die grundsätzliche Bedeutung als falscher Schritt zum falschen Zeitpunkt gewertet, der – beispielsweise in Frankreich – den Ausgang des Referendums negativ beeinflussen könnte. Referenden bergen immer das Risiko, das sie zum Ausdruck des Missfallens aus den verschiedensten Gründen instrumentalisiert werden.

Die Bischofskonferenzen in der Europäischen Union stehen dem Verfassungsvertrag im Wesentlichen positiv gegenüber, und auch das vatikanische Staatssekretariat hat vorsichtig Zustimmung signalisiert. Eine leicht geänderte Tonart schlug die Spanische Bischofskonferenz an, die in einer Note am 4. Februar 2005 angesichts der Komplexität des Vertrags eine Enthaltung beim spanischen Referendum vom 20. Februar zu empfehlen schien. Bei der Vorstellung der negativen Elemente des Vertrags wurde auf das Fehlen eines Verbots der Abtreibung und der Euthanasie sowie einen mangelhaften Embryonenschutz im Verfassungstext verwiesen, obwohl es sich bei diesen Fragen ohne Zweifel um eine legislative Kompetenz der Mitgliedsstaaten und nicht der EU handelt und die europäische Grundrechtscharta als neuer Bestandteil der Verfassung zudem ausdrücklich ein Recht auf Leben proklamiert. Das Präsidium der COMECE hatte den Vertragsentwurf bereits im vergangenen Juni als „wichtige Etappe im europäischen Einigungsprozess“ bezeichnet.

Sollte der Verfassungsvertrag termingerecht ratifiziert werden, ist mit einem neuen europäischen Frühling zu rechnen. Institutionell werden der neue europäische Außenminister und der dann dauerhafte Präsident der Europäischen Union sicher für eine neue Qualität in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sorgen, nicht zuletzt im Blick auf die unmittelbaren Nachbarn der Union und allen voran die Ukraine. Auch in der Innen- und Rechtspolitik wird sich eine neue Dynamik entfalten. In der Wirtschaftspolitik könnte eine energiepolitische Wende zum neuen großen gemeinsamen EU-Projekt werden, um nicht zuletzt aus strategischen Gründen die wachsende Abhängigkeit von Ölimporten zu bremsen. Dass die EU die Familie und ihre Förderung angesichts der dramatischen demografischen Voraussagen entdecken wird, ist gleichfalls nicht auszuschließen und deutet sich schon heute mit einer noch für dieses Jahr angekündigten Jugendinitiative an. Unter dem Stichwort der partizipativen Demokratie wird die Europäische Union mit einem im Verfassungsvertrag verankerten Dialog mit den Kirchen, Religions- und weltanschaulichen Gemeinschaften schließlich ebenfalls ein neues Kapitel aufschlagen. Sollte der Verfassungsvertrag von einem oder mehreren Staaten allerdings nicht ratifiziert werden, gilt völkerrechtlich schlicht der zwar unausgewogene, aber ratifizierte Nizzavertrag. Politisch aber wäre der Schaden immens. Dann säße die EU wirklich nicht mehr im Sattel. 

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