LebensthemaZur Ruhe kommen

Wir freuen uns, wenn wir Menschen treffen, die innere Ruhe ausstrahlen. Von anderen hingegen haben wir das Gefühl, dass sie voller Unruhe sind. Sie können nicht ruhig bleiben, sind immer auf dem Sprung. Wenn wir neben ihnen sitzen, spüren wir die innere Unruhe, die sie ausstrahlen. Wir fühlen uns in ihrer Nähe nicht wohl. Manche sagen: Mich macht es ganz zappelig, wenn ich neben dem oder der sitze. Die strahlt so viel Unruhe und Zerrissenheit aus.

Immer woanders

Es ist eine Ursehnsucht des Menschen, zur Ruhe zu kommen. Viele wünschen sich in der Hektik der Arbeit, dass sie ausruhen können. Aber viele sind auch unfähig, nach der Arbeit zur Ruhe zu kommen. Sie grübeln ständig nach, was sie anders hätten machen sollen oder können. Oder sie erinnern sich an alles, was sie noch tun müssten. Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen, und fühlen sich innerlich zerrissen. Sie können nicht dort sein, wo sie gerade sind, sondern sind immer woanders mit ihren Gedanken, aber auch mit ihrem Leib. Manche beklagen sich darüber, dass sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Sobald es um sie herum ruhig ist, spüren sie eine diffuse Unruhe, die sie gar nicht richtig benennen können. Aber es verunsichert sie.

Unruhiges Ego

Ich möchte einen alten Väterspruch aus dem 4. Jahrhundert betrachten, der uns einen Weg zur Ruhe aufzeigt: „Der Altvater Poimen bat den Altvater Joseph: ‚Sage mir, wie ich Mönch werde.‘ Er antwortete: ‚Wenn du Ruhe finden willst, hier und dort, dann sprich bei jeder Handlung: Ich – wer bin ich? Und richte niemand!‘“ (Apophthegma 385) Zwei Wege zeigt Altvater Joseph auf, wie wir zur Ruhe finden können. Der erste Weg geht über die Frage: „Ich – wer bin ich?“ Wenn ich mich das immer wieder frage, dann lösen sich alle Bilder auf, die ich mir von mir gemacht habe. Ich werde frei von dem Druck, nach außen hin etwas darstellen zu müssen. Ich komme allmählich in Berührung mit meinem wahren Wesen. Und das braucht sich nicht zu beweisen. Die Frage befreit mich von meinem Ego. Das Ego will immer imponieren. Es fragt immer: Wie komme ich an? Was halten die anderen von mir? Werde ich genügend gesehen? Das Ego ist immer voller Unruhe. Es möchte immer etwas erreichen. Die Frage führt – wenn wir Terminologie von C.G. Jung benutzen – vom Ego zum Selbst, in die innere Mitte. Dort, in unserem wahren Selbst, kommen wir zur Ruhe. Da sind wir ganz wir selbst, ohne Druck, uns rechtfertigen oder beweisen zu müssen.

Ganz bei mir

Ich frage mich: Was macht meine Unruhe aus? Oft ist sie Ausdruck innerer Unzufriedenheit. Manchmal weist sie auch darauf hin, dass ich noch nicht der bin, der ich eigentlich sein möchte oder könnte. Ich sollte mit meiner Unruhe sprechen: Was will sie mir sagen? Oft werde ich dann erkennen, dass sie mich von der Oberfläche in die Tiefe führen möchte, von der Uneigentlichkeit in die Eigentlichkeit, von leerer Routine zu meinem wahren Sein. Die Unruhe hat immer auch einen Sinn. Ich soll sie nicht einfach bekämpfen, sondern ein Gespräch mit ihr anfangen. Dann wer de ich den wahren Grund meiner Unruhe erkennen. Und vielleicht zeigt mir die Unruhe auch, was sich in mir wandeln möchte. Ich bin oft unruhig, weil die Bilder, die ich von mir habe, nicht mit meiner Wirklichkeit übereinstimmen. Ich bin nicht zufrieden mit mir. Ich bin nicht im Einklang mit mir selbst. Ich meine, ich müsste noch das oder jenes an mir verändern, damit ich zufrieden sein kann. Wenn ich mich aber durch meine Unzufriedenheit hindurch frage „Wer bin ich?“, dann komme ich in den inneren Grund meiner Seele. Dort bekomme ich eine Ahnung, wer ich in Wirklichkeit bin. Ich kann dieses wahre Selbst nicht beschreiben. Aber ich habe das Gefühl, dass ich ganz bei mir bin. Und in diesem Augenblick ist die Frage, ob ich gut genug bin oder wie ich von anderen gesehen werde oder was ich noch zu erledigen habe, nicht mehr wichtig. Natürlich kann ich nicht immer in dieser Ruhe bleiben. Ich muss ja auch nach außen gehen und auch arbeiten. Aber die Arbeit entspringt dann nicht dem Druck, mich beweisen zu müssen. Sie kommt vielmehr aus einer inneren Ruhe heraus. Und dann wird die Arbeit effektiver. Wenn ich vom Ego frei und mit meinem Selbst in Berührung bin, dann lasse ich mich ganz auf die Arbeit ein. Dann wird sie viel leichter fließen. Und sie wird mich nicht so viel Kraft kosten.

Kein Werten und Beurteilen

Der zweite Weg, wie wir zur Ruhe kommen können, ist das Nicht-Richten. In unserem Kopf bewerten wir alles, was wir an den anderen wahrnehmen. Wir beurteilen die Menschen um uns herum. Das führt uns von uns selbst weg. Wir sind nicht bei uns, nicht in unserer Mitte, sondern immer bei den anderen. Der Kopf, der sich solche Gedanken macht, kommt nie zur Ruhe. Wir können nichts dafür, dass unser Kopf anfängt, zu bewerten. Aber sobald wir es merken, sollten wir sagen: „Es steht mir nicht zu, diesen Menschen zu bewerten. Ich kenne ihn nicht.“ Und wir sollten – so empfehlen uns die Mönche – den anderen als Spiegel für uns selbst sehen. In seinen „Fehlern“, über die wir uns so gerne aufregen, sollen wir unsere eigenen Fehler und Schwächen erkennen. Dann führt uns der Blick auf den anderen zurück zu uns selbst. Und nur wenn wir zu uns selbst zurückfinden, kommen wir zur Ruhe.

Alles darf sein

Es gibt bei jungen Menschen heute eine Krankheit, die den Eltern oft viel Kopfzerbrechen bereitet: die sog. Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Psychologen sagen, dass diese innere Unruhe der Kinder ihre Ursache darin hat, dass das Kind die wesentlichen Schritte seiner Entwicklung ohne Verbundenheit und feste Beziehung durchmachen muss bzw. musste. Eine Lehrerin erzählte mir, dass ihr Sohn ADHS hat und ihr das Leben schwer macht. Doch nun wurde er Ministrant. Am Altar in seinem Ministrantengewand stand er auf einmal ganz ruhig da. Da war er gebunden an etwas, was größer ist als er selbst. Das könnte ein Bild sein für uns alle. Wir sind unruhig, wenn wir die Bindung an etwas verloren haben, das größer ist als wir selbst. Religion kommt von religare = anbinden. Wenn wir an Gott angebunden sind, wenn wir auf ihn in allem, was wir tun und denken, bezogen sind, dann kommen wir zur Ruhe. Unruhe entspringt oft dem Mangel an Gebundenheit. Wir sind beziehungslos. Daher droht uns das Vielerlei, das in uns ist, zu zerreißen. Wenn wir alles, was in uns auftaucht, auch die innere Unruhe, an Gott binden, Gott hinhalten, dann kommen wir zur Ruhe. Dann brauchen wir keine Angst zu haben vor irgendetwas, was in uns auftauchen könnte. Es darf alles sein, weil wir alles Gott hinhalten, weil alles von Gott zusammengehalten wird. Diese Erfahrung hat offensichtlich der hl. Augustinus im Blick, wenn er das berühmte Wort sagt: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, mein Gott.“ Unruhig sind wir, wenn wir ungebunden sind. Ruhe kehrt in uns ein, wenn wir uns an Gott binden, wenn wir alles, was in uns ist, Gott hinhalten und von Gott beruhigen lassen.

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