Bibel tiefer verstehenUnsere Lebensaufgabe

„Gott hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art.“ (Apg 17,26-28)

Die Schöpfung wahrnehmen

Dass Gott das ganze Menschengeschlecht aus einem einzigen Menschen geschaffen hat, dürfen wir nicht naturwissenschaftlich verstehen. Lukas meint mit dieser Aussage, dass alle Menschen von Gott kommen und daher innerlich zusammengehören. Wichtiger ist für mich der Auftrag, den Gott den Menschen gegeben hat: Sie sollen Gott suchen. Das gibt ihrem Leben erst Sinn. Interessant ist hier das Wort „ertasten = pselaphao“. Philo Alexandrinus verwendet dieses Wort im geistigen Sinn als „erfassen“. Im Deutschen sagen wir: Ich „begreife“ etwas. Das kommt von „greifen“, „in die Hand nehmen“. Dieser Ausdruck war in der stoischen Philosophie beliebt. Lukas übernimmt hier das Vokabular der stoischen Philosophie. Er meint, dass wir Gott nicht nur im Geist finden können, sondern in der Schöpfung, die wir berühren und betasten, deren Schönheit wir wahrnehmen mit all unseren Sinnen. Wenn wir in Berührung kommen mit der Schöpfung, berühren wir darin auch den Schöpfer.

Christlich und griechisch

Eine wichtige Aussage über Gott ist: „Keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“. Auch hier greift Lukas Aussagen der stoischen Philosophie auf. Seneca sagt, dass Gott uns nahe ist, dass er mit uns und in uns ist. Lukas verdeutlicht das mit der Aussage, dass wir in Gott sind. Wir können gar nicht aus Gott herausfallen. Wir sind immer von seiner Gegenwart umhüllt. Lukas bringt als Begründung für dieses Geheimnis unseres Lebens nicht ein Bibelzitat, sondern ein Zitat des griechischen Dichters Aratus aus dem 3. Jahrhundert vor Christus. Gott offenbart sich also auch in Worten heidnischer Dichter. Die Weisheit Griechenlands vollendet sich in Jesus Christus. Die christliche Philosophie und Theologie greift Erkenntnisse anderer Philosophien auf und erfüllt sie. Jesus Christus entspricht der Sehnsucht griechischer Philosophie. Das hat Lukas im Evangelium ausgedrückt, wenn er Jesus als den wahrhaft gerechten Menschen beschreibt, nach dem sich Platon gesehnt hat. Auf dem Areopag hat der Apostel eine Missionspredigt gehalten, in der er gezeigt hat, dass sich die griechische Weisheit christlich interpretieren lässt. Das ist für uns heute eine Herausforderung: die christliche Botschaft so zu verkünden, dass wir nichtchristliche, philosophische, psychologische und naturwissenschaftliche Gedanken in unseren Glauben integrieren.

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