Homo viato

Das Christentum sagt: Du sollst hier (in dieser Welt) – sozusagen –
nicht sitzen, sondern gehen.
Ludwig Wittgenstein

Wir leben, ohne gefragt worden zu sein, ob wir leben wollen. Durch die Geburt werden wir ins Dasein geworfen, wir liegen, bevor wir gehen lernen und unsere Wege aufnehmen. Am Ende aber sterben wir, werden bei unserem Namen gerufen und sehr wohl befragt, wie wir gelebt, wie viel wir geliebt haben, was die Ernte unserer Lebenszeit ist. Das zumindest ist die Hoffnung des Glaubens. Das Interim zwischen Geburt und Tod aber ist die Frist, in der wir unseren Weg gehen. Wir sind Pilger, unterwegs auf den Straßen des Lebens, die Höhen und Tiefen, Gutes und Böses, beschwerliche Hindernisse, aber auch großartige Ausblicke kennen. Der Homo viator, der die Stadien seines Lebenswegs – von Kindheit und Jugend über das Erwachsensein, wenn es gut geht, bis ins hohe Alter – durchläuft, braucht Förderung und Begleitung durch andere. Ob er darüber hinaus den eigenen Weg im Licht des Glaubens als von Gott geführt erkennen kann, ist eine Frage. Gott respektiert die Freiheit des Menschen und macht sich allenfalls durch leise Zeichen bemerkbar. Die Kunst, die diskrete göttliche Zeichensprache wahrzunehmen und zu entziffern, will eingeübt sein und ist ein lebenslanges geistliches Exerzitium. Immer wieder sind Optionen abzuwägen, Entscheidungen zu treffen und die einmal getroffenen Entscheidungen durchzutragen. Dabei kann der Homo viator auch scheitern. Dieses Risiko gehört zur Signatur seiner Freiheit. Um sich indes der Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse oder der unspektakulären Routine des Alltags nicht zu verlieren, sind Unterbrechungen heilsam. Die Kirche bietet dazu spirituelle Hilfen an: Meditation und Gebet, das Hören auf das Wort Gottes als Kompass, der neu orientiert und die Richtung weist, aber auch die Sakramente als Zeichen der Nähe Gottes, besonders die Eucharistie als geistliche Speise, die innere Kraft gibt und schon heute einen «Vorgeschmack des Himmels» gewähren kann.

Das Ziel der irdischen Pilgerschaft trägt nämlich einen eschatologischen Index. «Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern suchen die künftige,» sagt der Hebräerbrief. Christen sind im Letzten Fremdlinge auf Erden, sie engagieren sich, bringen sich ein, um die Gesellschaft umzugestalten und die Lebensverhältnisse zu verbessern, aber sie kleben nicht an den Dingen dieser Welt. Sie sollten daher das Vorletzte nicht mit dem Letzten verwechseln. Das Abenteuer des Lebens als Reise zu Gott würde vorzeitig abgebrochen, wenn sich das menschliche Herz an Geld, Vergnügen, Macht oder Ansehen binden würde. Die Idolisierung irdischer Wirklichkeiten, vor der in der Schrift immer wieder gewarnt wird, blockiert den Aufbruch zu Gott. Die Bibel erzählt daher kaum zufällig vielfältige Aufbruchsgeschichten von Menschen, die Bindungen hinter sich lassen. Abraham ist aufgebrochen, ohne zu wissen, wohin, Mose steht für den Exodus aus Ägypten und führt das Volk Israel durch die Wüste. Auch Jesus von Nazareth war ein Wanderprediger, der von Ort zu Ort ging, um durch Worte und Taten den Anbruch der Gottesherrschaft zu verkünden. Die Apostelgeschichte kann als Weg-Narrativ gelesen werden, das von den Missionsreisen des Apostels Paulus handelt, der das Evangelium in die Metropolen der damaligen Welt trägt. An den biblischen Aufbruchsgeschichten lässt sich die Vor-Läufigkeit des Lebens erkennen. Das Ziel der irdischen Pilgerschaft ist die himmlische Polis. Im Reich des Vaters erwartet und als Himmelsbürger willkommen geheißen zu werden, das ist die Hoffnung des christlichen Homo viator. Das Land der Verheißung, das in der Geschichte Israels konkrete topographische Züge hat, wird im Christentum entterritorialisiert und ins Eschatologische transponiert. Das himmlische Jerusalem, das der Pilger als Ziel seiner Reise vor Augen hat, ist auf keiner Landkarte verzeichnet.

Das vorliegende Heft umkreist und vertieft das hier nur flüchtig eingespielte Motiv der Pilgerschaft. Der Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger macht den Auftakt und geht dem biblischen Motiv der Landverheißung nach. Er beleuchtet den Aufbruch des Stammvaters Abraham, deutet die Wallfahrtspsalmen als äußeren und als inneren Weg und zeigt, dass die Landnahme unter Josua noch einmal auf Größeres hin geöffnet wird, wenn das Land nicht als Territorium, sondern als Topos der Gottesnähe und Einsammlung der Verstreuten verstanden wird. Jan-Heiner Tück deutet den Mythos von Odysseus am Mastbaum als Modell christlicher Existenz. Wie sich Odysseus in Freiheit gebunden hat, um den Gesang der Sirenen zu hören, ohne ihm zu erliegen, so bindet sich der Christ an das Holz des Kreuzes, um das Meer dieser Welt zu durchqueren. Der Odysseus-Mythos hat in der Patristik unterschiedliche Lesarten gefunden, darunter auch solche, die den Gesang der Sirenen positiv als Weisheit der Welt deuten, an die sich theologisch anknüpfen lässt. Bei Dante hingegen scheitert Odysseus. Sein unersättlicher Welthunger lässt ihn Grenzen überschreiten und Schiffbruch erleiden. Bei Paul Claudel gibt es selbst für den Schiffbrüchigen noch Hoffnung, solange er an die Planke des Heils gebunden bleibt. Peter Walter geht auf die ekklesiologische Dimension des Pilgerschaftsmotiv ein. Er beleuchtet die heilsgeschichtliche Sicht der Kirche als ecclesia peregrinans nach den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils. Dabei unterstreicht er, dass die missverständliche Redeweise von der streitenden und der triumphierenden Kirche durch das Konzil überwunden, zugleich aber die geschichtliche Dynamik und eschatologische Ausrichtung der Kirche durch die Metapher der ecclesia peregrinans treffend zum Ausdruck gebracht wird. Holger Zaborowski widmet sich in einem philosophischen Essay der Hoffnung, die den Menschen über die Gegenwart hinaus in die Zukunft blicken lässt. Die Hoffnung treibt den Homo viator auf seinem Weg voran, das Kommende in seiner nicht vorwegnehmbaren Ungewissheit in Zuversicht anzugehen. Michael Schneider SJ führt ein in die Kunst eines viatorischen Lebensstils. Dabei beleuchtet er die Stadien des geistlichen Lebenswegs, für den die Momente der Berufung, der Entscheidung, der Reifung, aber auch der selbstkritischen Prüfung wesentlich sind. Auch die Ehe kann ein solcher Weg der Berufung sein. Stephan Herzberg beschreibt die Weggemeinschaft von Mann und Frau, die sich im Sakrament der Ehe durch das wechselseitige Ja aneinanderbinden und deren Liebe offen ist für einen möglichen Dritten, der an ihrer Weggemeinschaft Anteil gewinnt. Das Wort des hl. Augustinus, dass niemand das Meer dieser Welt durchqueren kann, wenn er sich nicht vom Holz des Kreuzes tragen lässt, kann auf dem Weg zum portus salutis Halt bieten.

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