Des Kaisers alte KleiderZur Repräsentationskultur des Alten Reiches

Der historische Blick auf das «Heilige römische Reich deutscher Nation», dessen tausendjährige Geschichte 1806 endete, war lange von der Deutung dieses Endes bestimmt. War es überfällig und notwendig, dass das Reich unterging? Oder war es im Gegenteil ein Verlust?

In der borussisch-protestantischen Geschichtsschreibung schätzte man das Alte Reich meist gering. Seine Überwindung wurde als entscheidender Schritt hin zu einem vereinigten deutschen Nationalstaat und zu einer modernen, freiheitlichen Verfassung gesehen. Nationale und Liberale sahen in dem alten Reichsgebilde folglich vor allem eine Ansammlung disparater Rechtstitel und verzopfter Zeremonien. Ein Sinnbild dafür schien, dass noch im 18. Jahrhundert die rituellen Krönungen mit einem Krönungsmantel vorgenommen wurden, den man Karl dem Großen zuschrieb. Der junge Goethe war selbst Zeuge einer der letzten Krönungen im Frankfurter Dom. 1764 erhielt Joseph II., der aufgeklärte Sohn Maria Theresias, dort die alten Reichsinsignien. Goethe notierte: «Der junge König schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen, wie in einer Verkleidung, einher, so dass er selbst […] sich des Lächelns nicht enthalten konnte.» Hegel erkannte in einem «so lächerlichen Aberglauben an die ganzen äußeren Formen, an das Zeremoniell» das Grundprinzip und zugleich Grundproblem des Alten Reiches: «In der Erhaltung dieser Formen zwingt sich der Deutsche die Erhaltung seiner Verfassung zu erblicken.»

In der katholischen Historiographie schaute man dagegen lange Zeit geradezu nostalgisch auf das Alte Reich zurück. Denn mit seinem Ende ging auch die Säkularisation der geistlichen Fürstentümer einher – ein folgenreiches Ereignis, das die politische und kulturelle Stellung des Katholizismus in Deutschland auf lange Zeit schwächen sollte. Durch das Ende des Kaisertums hingegen änderte sich zwar machtpolitisch wenig. Symbolisch hatte die Institution, die jahrhundertelang durch die katholischen Habsburger geprägt wurde, jedoch den Anspruch aufrechterhalten, das Römische Reich fortzuführen und damit auch den heilsgeschichtlichen Dual von imperium und sacerdotium. Obwohl dieser im Mittelalter bekanntlich von erheblichen inneren Spannungen bestimmt war, entwickelte sich «das Reich» im 19. Jahrhundert zu einer Sehnsuchtsvorstellung für viele, die sich ein politisch einheitliches Europa unter dem Dach des Christentums wünschten. Dazu zählten politische Reaktionäre ebenso wie universalistische Visionäre – man denke an Novalis und seine Schrift «Christentum oder Europa». Auch in der katholischen Geschichtsschreibung und – soweit es sie gab – in der Staatslehre dominierte eine nostalgische Sicht auf das Alte Reich so sehr, dass sich der katholische Historiker Philipp Funk noch während der Weimarer Republik darüber beklagte.

Derart emphatische Bekenntnisse oder Abgesänge wird man in der heutigen Geschichtswissenschaft kaum noch vernehmen. Die Erforschung des Alten Reiches verläuft in nüchtern abwägendem Ton auf möglichst breiter Quellenbasis. Das gilt auch für die Perspektive, die Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Buch auf das eigentümliche Staatsgebilde wirft. Die Münsteraner Historikerin, die jüngst auch eine vielbeachtete Biographie über Maria Theresia vorgelegt hat, ist eine ausgewiesene Expertin für politische Repräsentationskulturen der frühen Neuzeit und zugleich eine hervorragende Stilistin. Das zeigt sich auch in ihrer Studie über die «Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches». Auf geschichtsphilosophische Großperspektiven wird darin ebenso verzichtet wie auf konfessionell gefärbte Urteile über eine sakral begründete christliche Universalmonarchie. Dadurch eröffnet sich ein unbefangener Blick auf etwas, das für die überkommenen polarisierten Sichtweisen auf das Alte Reich eine durchaus wichtige Rolle spielte: die Dominanz äußerer ritueller Formen. Krönungszeremonien und Reichstage mit festgefügten Abläufen, ritualisierten Sprachregelungen, einer aufwendigen Herrschaftsikonographie und nicht zuletzt «des Kaisers alten Kleidern» – all das bot nicht nur aufgeklärten Zeitgenossen Anlass zum Spott, sondern bestimmte auch die reservierte Haltung der Verfassungsgeschichtsschreibung gegenüber dem alten Reichsgebilde, welche es mangels belastbarer Regeln für die politische Entscheidungsfindung dem modernen Staat hoffnungslos unterlegen sah.

Stollberg-Rilinger widerspricht dieser Einschätzung nicht, und es ist auch nicht ihre Absicht eine neue – alternative – Verfassungsgeschichte des Reiches zu schreiben. Sie lenkt jedoch den Blick darauf, dass die verfassungshistorisch vernachlässigten «Fransen am Zeremonienhimmel» (17) mehr waren als nur Dekor und Spektakel. Eher, so könnte man ihre These zusammenfassen, waren sie die Form, in der die politische Ordnung manifest wurde. Und dies nicht im Sinne einer bloßen Veranschaulichung, sondern als eigener und sogar primärer normativer Ausdruck einer durchaus dynamischen Verfassungsordnung. Stollberg-Rilinger verortet das aufwendige Zeremoniell der Krönungen und Reichstage in den Erfordernissen einer «Kultur der Präsenz»: «Das Reich des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit gehorchte der Logik einer Präsenzkultur, d.h. es wurde dadurch zu einem Ganzen integriert, dass sich die Akteure von Zeit zu Zeit persönlich an demselben Ort versammelten. Seine Ordnung wurde performativ immer wieder aufs Neue erzeugt, indem sie pars pro toto öffentlich aufgeführt wurde.» (300)

Diese These erstreckt sich dabei nicht nur auf das mittelalterliche Reich. Gegenstand des Buches sind gerade seine drei neuzeitlichen Jahrhunderte. Dabei orientiert sich Stollberg-Rilinger chronologisch an drei wichtigen Reichstagen (Worms 1495, Augsburg 1530, Regensburg 1653). Eine vierte Station gilt den «Parallelwelten» in «Frankfurt – Regensburg – Wien 1764/65». Hier treten vor allem die Grenzen der rituellen Repräsentationskultur des Reiches hervor. Ihr ursprünglicher Ort, die «Präsenzkultur», war hier bereits durch zwei Prinzipien überlagert, die sich im Reich gleichwohl bis zu seinem Ende nie ganz durchsetzen konnten: das Prinzip der Stellvertretung und das der Schriftlichkeit.

So kann Stollberg-Rilinger an vielen Beispielen zeigen, dass die persönliche Anwesenheit der Glieder des Reiches auf dem Reichstag entscheidend war. Wer nicht anwesend war, fühlte sich durch die Beschlüsse auch nicht gebunden. Umgekehrt war die gebräuchlichste Form, Dissens gegenüber Beschlüssen zu artikulieren die Abreise. Stellvertreter niederen Ranges hingegen wurden nicht als Ersatz akzeptiert. Das zeigte sich nicht zuletzt durch die immerwährenden, für den heutigen Betrachter kaum nachvollziehbaren Streitigkeiten um die Sitzordnung oder den Platz in feierlichen Prozessionen. Besonders sprechend sind in diesem Zusammenhang die Schlaglichter auf den Augsburger Reichstag 1530, wo der sich abzeichnende Verlust der konfessionellen Einheit des Reiches verarbeitet werden musste. Durfte der päpstliche Gesandte in der Prozession näher beim Kaiser sein als die Kurfürsten? Was bedeutete es, wenn die evangelischen Fürsten an der Eröffnungsmesse für den Heiligen Geist, der zur Einmütigkeit der Beschlüsse verhelfen sollte, nicht teilnahmen? Ob man anwesend war und wo man saß, stand oder ritt, entschied über die Zugehörigkeit zum Reich und die politische Stellung in ihm. Das bezeugen nicht zuletzt Kupferstiche und Berichte über die Reichstage, die die räumliche Position der einzelnen Teilnehmer genau registrierten und so in Ermangelung schriftlicher Regelungen zu einer vom politischen Zeremoniell abgeleiteten normativen Quelle wurden.

Schriftlichkeit fehlte zwar der Verfassungskultur des Alten Reiches nicht völlig, war aber zweitrangig. Grundlegende Gesetze gab es nur wenige, allen voran die «Goldene Bulle». Bei Verstößen gegen schriftlich fixierte Rechtstitel bestand man vor allem darauf, den Verstoß im politischen Zeremoniell durch rituellen Protest sichtbar zu machen – notfalls über Jahrhunderte, wie im Falle des in der Neuzeit durchgängig ignorierten Rechts der Stadt Aachen, Ort der Krönung zu sein. Überdies waren Urkunden über Rechtstitel anfangs in Ermangelung zentraler Archive nur schwer beizubringen. Auch als sich dies in der Spätzeit des Reiches änderte, lässt sich nach Stollberg-Rilinger nicht etwa beobachten, dass schriftliche Normen nun die überkommene Repräsentationskultur verdrängt hätten. Vielmehr wird diese selbst zum Gegenstand umfangreicher Aufzeichnungen über zeremonielle Rechte, über Sitzordnungen, Titel, Wappen, Schritte und Insignien im Zeremoniell. Zu sehr wurzelte die Verfassung des Alten Reiches in den Erfordernissen einer Präsenzkultur, um die Fixierung auf das politische Ritual hinter sich lassen zu können. Die damit befassten Juristen wussten dabei sehr wohl, dass sie sich in einer Sonderwelt bewegten und das Recht der modernen Territorialstaaten und ihre Beziehungen untereinander längst ganz anders funktionierten. Gleichwohl achtete man bis zuletzt penibel auf die Einhaltung der äußeren Formen. Denn diese waren eben nicht einfach Illustrationen der politischen Verfassung des Reiches, sondern sie waren diese selbst. Das Nebeneinander zweier immer verschiedenerer verfassungsrechtlicher Welten brachte das Reich jedoch in eine prekäre Lage. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Kaiser im mittelalterlichen Rock so nackt schien wie in Andersens Märchen.

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