Flucht und Vertreibung

Flucht und Vertreibung durchziehen die Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart hinein. Manchmal führt eine Naturkatastrophe dazu, dass Menschen, ihre Heimat verlassen. Oft vertreiben Menschen andere Menschen. Kriege, politische Konflikte oder wirtschaftliche Ungerechtigkeit zwingen Tausende, ihre angestammte Heimat zu verlassen und sich auf die Flucht zu begeben – zumeist ins Ungewisse hinein.

Wer auf der Flucht ist, verliert mehr als nur sein Haus. Er verliert Freunde und Nachbarn, manchmal die Familie, ein erinnerungsvolles Umfeld, eine vertraute Landschaft, den Geschmack lieb gewonnener Speisen, das gewohnte Klima. Manche Menschen können nur ihr nacktes Leben retten; sie können noch nicht einmal das Notwendigste mitnehmen und müssen darauf setzen, dass sich andere Menschen ihrer annehmen und ihnen Schutz und Hilfe anbieten. Nicht selten jedoch wird dies ihnen verweigert. Man begegnet ihnen mit Skepsis und Misstrauen. Sie geraten unter Verdacht. Sie stören und werden bestenfalls auf Zeit toleriert.

Eine neue Heimat in der Fremde zu finden, ist fast unmöglich. Wer seine Heimat nicht freiwillig verlassen hat, wer zuhause und auf der Flucht Unsägliches erlebt hat, jenes also, das Worte nicht beschreiben können, ja, das unter dem Deckmantel des Schweigens versteckt werden muss, wird sich nirgendwo mehr zuhause fühlen. Er mag sich an eine neue Umgebung gewöhnen; Heimat wird sie nie. Die Schatten der Erinnerung lässt kein noch so helles Licht verschwinden. Wer im Exil lebt, bleibt verstrickt – in der Trauer um das Verlorene und der Sehnsucht nach einer Möglichkeit, neu Heimat zu finden. Zugleich gibt es eine andere, oft unbeantwortet bleibende Sehnsucht: jene nach Gerechtigkeit, danach, dass die Täter, die geplündert, vergewaltigt, vertrieben und gemordet haben, ihrer gerechten Strafe nicht entkommen. Allem zugrunde liegt die das ganze Leben bestimmende Sehnsucht danach, wieder zurückkehren zu dürfen. Doch selbst wo dies möglich wird, ist die Heimat längst eine andere geworden.

Ein Heft zum Thema «Flucht und Vertreibung» ist – leider – immer aktuell. Aber vielleicht ist es derzeit aktueller, als es lange gewesen ist. Zum einen werden in diesem Jahr – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Erinnerungen an Flucht und Vertreibung innerhalb Europas in besonderer Weise wach. Die Generation der Vertriebenen wird alt. Ein lange bewahrtes Schweigen wird vielfach gebrochen. Familien erfahren oft erstmals nähere Details über die Flucht der Eltern oder Großeltern. Die Frage nach Versöhnung, nach Anerkennung von Schuld und nach dem Zuspruch von Entschuldigung, stellt sich. Nicht nur Historiker haben sich dieses Themas angenommen, auch in den Medien spielt es eine große Rolle. Zum anderen zeigt sich gerade in diesen Wochen und Monaten mitten in Europa – nicht nur an seinen geographischen Rändern –, welche bleibende, nicht allein historische Aktualität dieses Thema hat. Flüchtlinge ertrinken auf ihrem Weg von Afrika nach Europa. Die Politik zeigt sich überfordert. Welche Antwort kann Europa auf diese Herausforderungen finden? Wird sich an dieser Antwort gegenüber den Hilflosen und Hilfe Suchenden nicht auch die Zukunft Europas messen lassen müssen? Doch finden sich die meisten Flüchtlinge gar nicht in Europa oder auf einem Weg nach Europa. In den Krisengebieten überall auf der Welt müssen Menschen ihre Heimat verlasen, da ihnen dort ansonsten Tod, Leid oder Versklavung drohen. Flucht und Vertreibung gehören daher zu den großen moralischen und politischen Herausforderungen der Gegenwart. Oder genauer, da Flucht und Vertreibung keine rein abstrakten, allein im Allgemeinen verhandelbaren Phänomene sind: Flüchtlinge und Vertriebene fordern uns heraus. Sie fordern dazu heraus, sie überhaupt erst einmal wahrzunehmen, sich für sie zu interessieren, ihnen beizustehen und zu helfen. Im Flüchtling begegnet nicht ein Fremder aus fernen Ländern, sondern der Nächste, ein Mensch, der anklopft und auf eine Antwort hofft, der verzweifelt nach Gott fragen kann und gerade auf der Flucht Gott viel näher kommen könnte als jene, für die Flucht und Vertreibung äußere, in Distanz zu beobachtende Phänomene sind.

Dieses Heft widmet sich dem Thema «Flucht und Vertreibung» aus verschiedenen, einander ergänzenden Perspektiven. Thomas Söding thematisiert aus exegetisch-theologischer Sicht die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten – Ort der Zuflucht und des Leids zugleich – und zeigt ihre ethischen und christologischen Dimensionen. Aus politischer, historischer, ethischer und persönlicher Per­spektive geht Hans Maier auf Flucht und Vertreibung in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein und verdeutlicht die Aufgabe und Chance von Versöhnung. Martin Schneider und Hans Tremmel wenden sich der aktuellen Flüchtlingsdebatte zu und führen vor dem Hintergrund der mahnenden Worte von Papst Franziskus in das Menschenrecht auf Asyl und drängende Desiderate im Umgang mit Flüchtlingen ein. Die Stellungnahmen des Papstes zu einem müde gewordenen Europa und zur Notwendigkeit, Europa von den Rändern her neu zu verstehen, diskutiert Martin Kirschner. Wie die Erfahrung von Flucht und Exil das von einem trotzigen Dennoch bestimmte Leben und Dichten von Hilde Domin bestimmt hat (die ihrem Exilland, der Dominikanischen Republik, bereits in ihrem Pseudonym Ehre erweist), erörtert der Germanist Michael Braun. Abschließend verteidigt der evangelische Bischof Markus Dröge in einer prägnanten Glosse das jüngst gerade in der Politik kontrovers diskutierte Kirchenasyl und erinnert dabei nicht nur an die biblischen Wurzeln, sondern unterstreicht auch seine bleibende Bedeutung im liberalen Rechtsstaat.

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