Zum Tod Benedikts XVI./Joseph Ratzingers Mein Abschied vom Kirchenlehrer

Ein persönlicher Brief an Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.

Zum Abschied schreibe ich keinen Nachruf, sondern ein paar Zeilen direkt an Sie. Dieser Gedanke ist sehr bald in mir gereift, seit am Silvestermorgen gemeldet wurde, dass Sie heimgegangen sind. Ich sage „heimgegangen“, nicht „gestorben“. Denn das ist ja unser Glaube, unsere Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. In Ihrer Enzyklika Spe Salvi sprechen Sie sogar von der „Gewissheit“, die wir als Glaubende haben können, wenn wir Christus als Weg, Wahrheit und Leben erkannt haben: „Der wirkliche Hirt ist derjenige, der auch den Weg durch das Tal des Todes kennt; der auf der Straße der letzten Einsamkeit, in der niemand mich begleiten kann, mit mir geht und mich hindurchführt: Er hat sie selbst durchschritten, diese Straße; ist hinabgestiegen in das Reich des Todes, hat ihn besiegt und ist wiedergekommen, um uns nun zu begleiten und uns Gewissheit zu geben, dass es mit ihm zusammen einen Weg hindurch gibt.“ Das sind schöne, tiefe Worte, die seit dem Silvestermorgen in noch einmal neuem Licht erstrahlen.

Warum drängt es mich zu einem eher persönlichen Zugang? Eine richtige Begegnung gab es zwischen uns ja nie. Beim letzten Mal, an dem ich Sie direkt „getroffen“ habe, lag immer noch ein Abstand von 30 Metern Luftlinie zwischen uns. Bei Ihrem Freiburg-Besuch 2011 war das. Ich stand auf der Pressetribüne, Sie fuhren auf dem Münsterplatz vor. Trotzdem habe ich eine Geschichte mit Ihnen. Sie waren der Papst, den ich bisher am intensivsten begleitet habe. Und auch vor Ihrer Wahl 2005 waren Sie als Präfekt der Glaubenskongregation massiv präsent in den innerkirchlichen Streitthemen hierzulande. All das hat mich beruflich und privat beschäftigt, oft auch aufgeregt. Deshalb sind ein paar persönliche Gedanken vielleicht ja wirklich das Richtige.

Sie werden es gemerkt haben: Um die Anrede habe ich mich herumgedrückt. Nichts schien mir so völlig passend: Papa emeritus, emeritierter Papst – das fand ich nicht stimmig. Die Kirche kennt nur jeweils einen Papst, auch wenn Sie nach Ihrem Rücktritt 2013 da nicht immer eindeutige Signale gesendet haben. Ihren Vorsatz, „verborgen von der Welt“ zu leben, nur dem Gebet verpflichtet, konnten oder wollten Sie nicht konsequent durchhalten.

Wenn ich mich für eine Anrede hätte entscheiden müssen, dann wäre es wohl „Herr Professor“ gewesen. Denn dass die Zeit als Lehrer der Theologie Ihnen am ehesten entsprochen hat, ist offenkundig. Auch als Sie einst nach Rom gingen, hatten Sie sich vorbehalten, weiterhin forschen und veröffentlichen zu dürfen. Diese Prägung wirkte auch als Papst nach. Ihr größtes Anliegen war es, die Vernünftigkeit des Glaubens, seine innere Wahrheit aufzuzeigen und immer stärker zu durchdringen. Nicht von ungefähr lautete das Motto, das Sie als Bischof im Wappen trugen: Cooperatores Veritatis („Mitarbeiter der Wahrheit“). Und im ersten Interview-Buch mit Peter Seewald, Salz der Erde von 1996 – da waren Sie Kardinal –, haben Sie sich selbst einen „dezidierten Augustinianer“ genannt: „Wie die Schöpfung aus Vernunft kommt und vernünftig ist, so ist der Glaube sozusagen erst die Vollendung der Schöpfung und daher die Tür zum Verstehen … Glauben heißt daher, ins Verstehen hineingehen und ins Erkennen hineingehen.“

Es ist beeindruckend, wie diese persönliche, bis ins Letzte durchdachte Glaubensgewissheit Sie erfüllt hat. Diese Entschiedenheit hatte aber auch eine schwierige Seite. Was ist mit denen, die das anders sehen? Oder sogar nur andere Akzente setzen? Da konnten Sie, insbesondere als Präfekt, überaus scharf die Wahrheit verteidigen, von der Sie überzeugt waren. Das fing etwa mit Ihrem Kampf gegen die Theologie der Befreiung an oder den Konflikten in ihrer Heimatkirche, unter anderem um den Verbleib im staatlichen System der Schwangerenkonfliktberatung. Nichts von der „reinen Lehre“, wie sie – maßgeblich durch Sie – im sogenannten Weltkatechismus niedergelegt war, sollte geändert werden, auch nicht in Zukunft. Bestrebungen für die Priesterweihe von Frauen etwa oder eine Neuausrichtung der kirchlichen Sexuallehre haben Sie stets zurückgewiesen. Doch ist der Glaube in einer abstrakten Reinform überhaupt zu haben? Realisiert er sich nicht immer in einer geerdeten, konkret-lebendigen Gestalt? Muss er nicht immer wieder neu übersetzt werden?

Gleiches gilt für die Kirche. Sie war für Sie – so haben Sie es in Gott und die Welt, dem zweiten Gesprächsband mit Peter Seewald gesagt – „die lebendige Trägerin der Wahrheit Christi“. Kleiner haben Sie nie gedacht. Und da Sie Wahrheit immer absolut, nie mehr- oder gar multiperspektivisch gesehen haben, mussten Kirchen, die sich anders definieren, immer als defizitär gelten. Gerade in dem Dokument Dominus Iesus aus dem Jahr 2000 haben Sie dies überdeutlich formuliert, indem Sie den reformatorischen Glaubensgeschwistern den Titel Kirche absprachen.

Es ist bezeichnend, dass Sie die Aufregung um diese Formulierung nicht recht nachvollziehen konnten. Denn natürlich, in der Logik Ihres Denkens war dies einfach ein folgerichtiger Schluss. „Kirche im eigentlichen Sinne ist nach unserem Verständnis da, wo das Bischofsamt in der sakramentalen Nachfolge der Apostel gegeben ist – und damit die Eucharistie als Sakrament vorliegt, das der Bischof und der Priester spenden“, haben sie einmal doziert. Sie hätten in  also nur die gültige Definition ausgesprochen. Dass dies Menschen verletzt, die sich anders und eben genau so als Kirche sehen, lag nicht als Erstes in Ihrem Vorstellungshorizont.

Ähnlich war es auch mit der sogenannten Regensburger Rede, in der Sie arglos einen byzantinischen Kaiser und dessen abwertende Worte gegen den Islam zitierten. In der Folge gab es Proteste und Gewalt gegen Christen in der islamischen Welt. Auch das hat Sie irritiert. „Ich hatte die Rede als streng akademische Rede konzipiert und gehalten“, sagten Sie hinterher. „Durch die politische Betrachtung wurde nicht mehr das Feingewebe beachtet, sondern ein Text herausgerissen und zum Politikum, was er in sich nicht war.“

Aus Äußerungen wie diesen spüre ich, dass das immer tiefere Durchdringen des Glaubens Ihr eigentliches Interesse war. Zahllose wichtige Bücher haben Sie uns so geschenkt. Sie wollten niemals Politiker sein. Und womöglich wollten Sie ja auch nicht Papst sein, jedenfalls in der real existierenden Form. „Ich war mir ganz sicher gewesen, dass dieses Amt nicht meine Bestimmung ist“, haben Sie gesagt. Von einer Guillotine, die im Moment der Wahl auf Sie heruntersauste, haben Sie sogar gesprochen. Ihrer Amtsführung hat man das zuweilen angemerkt. Sie waren einfach nicht der Mann für die „Politik“, auch nicht für die Führung der Kurie. Da ging in Ihrem Pontifikat einiges schief: etwa das übergroße Entgegenkommen der Piusbruderschaft gegenüber, das dann doch enttäuscht wurde; die Kommunikation im „Fall Williamson“, der Verrat Ihres Kammerdieners Paolo Gabriele, der Dokumente von Ihrem Schreibtisch stahl…

Was bleibt? Sie waren tatsächlich ein Papst des Übergangs, wie viele Beobachter schon kurz nach Ihrer Wahl vermuteten. Vielleicht konnte es nach dem überlangen Pontifikat Ihres Vorgängers auch gar nicht anders sein. Eine darauf folgende Zeit zu gestalten, ist wahnsinnig schwierig. Sie haben es versucht und waren dabei sowohl ein antimoderner als auch ein moderner Papst. Antimodern: Das fasst vielleicht das Wort vom „Abendländer schlechthin“ zusammen, das Ihr Privatsekretär Georg Gänswein für Sie gefunden hat. Modern: Das war vor allem Ihr Rücktritt, mit dem Sie das Papstamt entmythologisiert und menschlicher gemacht haben. Franziskus hat diese neue Interpretation gerne aufgegriffen.

Das „Dazwischen“ wird auch an Ihrem Umgang mit dem Missbrauchskomplex deutlich. Es ist keine Frage, dass Sie der erste Papst waren, der das Thema zugelassen hat und offensiv angegangen ist. Aber es ist leider auch fraglos, dass Sie aus heutiger Sicht – und vermutlich auch aus damaliger Perspektive – zu wenig gemacht beziehungsweise manches falsch gemacht haben. Sagen wir es so, wie es ist – mit aller Kritik und mit aller historischen Einordnung. Die Scharmützel nach dem Münchener Gutachten sind entwürdigend gewesen.

Viel Denkstoff haben Sie uns hinterlassen. Wie so viele knabbere ich zum Beispiel immer noch an der Forderung nach der „Entweltlichung“ der Kirche, die Sie einst in Freiburg formuliert haben. Daran ist ja vieles richtig. Aber auch bei diesem Wort schwingt etliches mit, was ich nur schwer mittragen kann, was mich nach wie vor ratlos und traurig macht. Warum nur dieser Kulturpessimismus, diese Abwertung der Gegenwart, die Sie immer aufs Neue ausgedrückt haben? Herrscht in unserer Zeit wirklich nur die Diktatur des Relativismus – oder ist sie nicht auch Gottes Zeit? Können wir nicht dankbar sein für so viele Errungenschaften der Moderne und ja, auch der 68er? Den von Ihnen gewünschten „Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt“ (darum baten Sie in Ihrem ersten Jesus-Buch), hätte ich mir manches Mal auch von Ihnen gewünscht.

Doch genug jetzt … Vor Ihrer Wahl zum Papst hatten Sie gesagt, Sie wollten endlich Ruhe und Frieden finden. Nun soll es so sein, nun soll es gut sein. Das letzte Wort soll Ihnen gehören, wiederum aus der eingangs zitierten Enzyklika Spe Salvi. Das „ewige Leben“, so haben Sie dort geschrieben, dürfe man sich nicht vorstellen als „eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen“. Vielmehr sei es „wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen. Es wäre der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben in vollem Sinn ist, immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden.“ Was für eine Hoffnung, was für ein Wunsch – was für eine Realität.

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